Unsichtbare Krisenherde
So genannte «De-Facto-Regimes» haben zwar eine – mehr oder weniger – funktionierende Infrastruktur. Aber ihnen fehlt die letzte Stufe zu einer vollständigen internationalen, völkerrechtlich abgesicherten Anerkennung – und damit zur Aufnahme in die Staatengemeinschaft. Der Basler Jurist Hans-Ulrich Stauffer hat die meisten dieser «hybriden» Staaten und Regionen besucht. Wie schätzt er die Lage ein? Ein Interview.
Der Krieg in der Ukraine überschattet derzeit die vielen anderen Konflikte, die rund um den Erdball schwelen. Beängstigend eskalieren derzeit in Palästina und Kosovo die Auseinandersetzungen, in Bergkarabach droht eine humanitäre Katastrophe. Taiwan ist unter chinesischer Dauerbedrohung, weil China dessen Unabhängigkeit nicht toleriert …
Viele dieser konfliktbeladenen Regionen und Autonomiegebieten zeichnet etwas aus: Sie sind keine vollwertigen, von der internationalen Staatengemeinschaft akzeptierten Nationen. In der Fachsprache werden sie auch De-Facto-Regimes genannt. Sie haben zwar eine – mehr oder weniger – funktionierende Infrastruktur, eine Verwaltung und oft eine eigene Währung und haben mit einzelnen anderen Ländern sogar bilaterale Abkommen. Aber ihnen fehlt die letzte Stufe zu einer vollständigen internationalen, völkerrechtlich abgesicherten Anerkennung – und damit zur Aufnahme in die Staatengemeinschaft.
Der Basler Jurist Hans-Ulrich Stauffer hat die meisten dieser «hybriden» Staaten und Regionen besucht. Wie schätzt er die Lage ein? Bajour hat ihn befragt.
Hans-Ulrich Stauffer, Sie sind im Auftrag der Anlagegesellschaft Blue Orchard nach Armenien gereist. Was haben Sie beobachtet?
Ich sah, dass dort beispielsweise ein Gärtner dank Microcredits ein Treibhaus für 5000 Dollar bauen konnte, es gab ein Schneideratelier für Brautkleider mit ein paar Angestellten, einen Händler für Malutensilien. Alles Klein- und Kleinstunternehmen und Startups, die für den heimischen Markt produzierten und von Banken keinen Kredit bekommen konnten. In Armenien sah ich, dass regelmässig Busse in die von Armenier*innen bewohnte Enklave Bergkarabach fuhren. Dieses Gebiet hatte sich beim Zusammenbruch der Sowjetunion aus Aserbaidschan herausgelöst und seine Unabhängigkeit verkündet. Das war ein spannender völkerrechtlicher Prozess, der mich interessierte.
Vor etwa 15 Jahren kam ein neues Anlageprodukt auf den Markt, die Microcredits. Das sind Darlehen an Klein- und Kleinstunternehmer*innen, die in ihren Ländern keinen Zugang zu Bankkrediten hatten. Das ist vor allem in Schwellen- und Entwicklungsländern der Fall, beispielsweise in Indien, Georgien, Peru.
Wie ging es dann weiter?
Ich reiste mit meiner Partnerin kurz darauf nochmals nach Armenien und dann von dort über den Latschin-Korridor nach Bergkarabach. Ich wollte vor Ort sehen und erfahren, wie es aussieht. Nach dem jüngsten Krieg mit Aserbaidschan ist heute Bergkarabach ökonomisch und politisch abgeschnitten. Die Strassenverbindung ist unterbrochen. In Bergkarabach bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an.
War Bergkarabach der Ausgangspunkt für Ihr Interesse an Staaten, die noch keinen oder nur teilweise einen offiziellen Status hatten?
Ja. Bergkarabach war der Beginn meiner weiteren Recherchen und Reportagereisen. Meine Frage war: Mit welchen Herausforderungen kämpfen diese Staaten? Wie sieht das Leben dort aus? Und als Jurist versuchte ich die völkerrechtlichen Aspekte zu verstehen. Es gibt zehn oder elf solcher Staaten.
Welches sind die bekanntesten Beispiele?
In Irakisch-Kurdistan besteht seit gut zwei Jahrzehnten eine Autonomie mit eigener Verwaltung. In einem Referendum wurde die Unabhängigkeit von Irak bejaht – doch ist diese nie verkündet worden. Der Grund ist einfach: Irak drehte den Geldhahn zu und Kurdistan sass auf dem Trockenen. Palästina ist ein weiteres Beispiel. Das Land ist völkerrechtlich nicht anerkannt. Taiwan auch nicht, obwohl das Land zu den Gründungsmitgliedern der UNO gehörte. Wegen der politischen Grosswetterlage wurde Taiwan aus der Uno ausgeschlossen und musste weltweit seine Botschaften schliessen. Die Volksrepublik China wurde Alleinvertreterin.
Hans-Ulrich Stauffer ist Advokat, spezialisiert auf das Recht der beruflichen Vorsorge, lebt und arbeitet in Basel. 2019 hatte er für eine Reise in die Kaukasusrepubliken Abchasien und Südossetien alle Interviewtermine abgemacht und Visa eingeholt, als Covid kam. Als eine Reise dorthin wieder möglich wurde, kam der russische Angriff auf die Ukraine. Das Problem: Die Einreise in die beiden Kaukasusrepubliken muss über Russland erfolgen. Nach dem Angriff auf die Ukraine ist dies ein No-Go. Jetzt liegt diese Reise auf Eis.
Wird nicht zur Rechtfertigung der Herrschaftsansprüche oft auch ein historisches Narrativ verwendet, das sich auf Könige, Helden und wichtige Schlachten beruft?
Sicherlich. So beruft sich beispielsweise Serbien auf die Schlacht gegen die Türken auf dem Amselfeld. Das Amselfeld liegt vor den Toren Pristinas, der Hauptstadt Kosovos. Kosovo war Verwaltungseinheit Serbiens in der Zeit der jugoslawischen Föderation. Daraus leitet Serbien seinen Anspruch ab und widersetzt sich einer Unabhängigkeit Kosovos.
Gibt es hier jeweils ein bestimmtes Muster?
Ja, ein Muster ist erkennbar. Die Länder lösen sich aus einem Verbund und berufen sich auf eine Mehrheit, die eine Nationalität ist. Diese Nationalität wird sehr überhöht. Aber am Rande hat es noch andere Nationalitäten oder nationale Minderheiten. Die Möglichkeiten, dass man bestimmten Regionen eine Sprach- oder sogar Schriftautonomie, eine regionale Verwaltung geben könnte, hatte man vergessen.
Wie muss man sich das vorstellen?
In Moldawien und Transnistrien war es so, dass von einem Tag auf den anderen das lateinische und nicht mehr das kyrillische Alphabet galt und die offizielle Sprache nun das Moldawische war und nicht mehr Russisch. Funktionäre verloren Amt und Würde, wenn sie nicht innerhalb eines Jahres Moldawisch lernten. Das war eine Ausgrenzung. In Kosovo geschieht dasselbe mit den Serben. In serbischen Siedlungsgebiete haben die Menschen einen anderen sprachlichen und kulturellen Hintergrund. Dasselbe gilt für Abchasien und Südossetien, die durch den georgischen Nationalismus mit eigener Sprache und eigener Schrift ausgegrenzt worden sind.
Welche Lösungsansätze gäbe es?
Nationalismus ist in diesen Fällen ein sehr schlechter Ansatz. Hier zeigt sich ein Muster von Fehlern, die mit einem etwas grösseren Verständnis von Möglichkeiten, wie etwa einer föderalistischen Lösung, hätten vermieden werden können. Minderheiten müssen geschützt sein.
Ein Schweizer Modell?
Ja, warum nicht. Bei der Lösung des Zypernkonflikts schlug Kofi Annan, damals UN-Generalsekretär, letztlich ein Schweizer Modell vor: Zwei Landesteile, föderalistisch zusammengeschlossen mit teils zentralen, teils dezentralen Organisationen. Jeder Teil kann auch seine Sprache und Schrift haben. Von Griechischzypriot*innen wurde das aber abgelehnt, die türkische Seite stimmte zu. Es würde Lösungsmechanismen für die meisten dieser Konflikte geben, auch für den Kosovo. Aber wenn der Wille nicht da ist, wird es schwierig, dann geht es Richtung Eskalation.
Die Differenzen zwischen Serbien und Kosovo scheinen augenfällig.
Ich habe die Stadt Mitrovica im Kosovo besucht – eine geteilte Stadt. Auf der einen Seite das pulsierende Leben mit viel Volk auf der Strasse, mit Boulevardcafés, massenweise Läden und Boutiquen. Ein Boom, wilder Westen. Dann habe ich die schmale Brücke über den Fluss Ibar genommen. Dort war Serbien, Autos mit serbischen Nummernschildern, wenige Leute auf der Strasse, unattraktive Läden. Zahlungsmittel ist der serbische Dinar, die Post ist serbisch. Es erinnerte mich an die DDR von vor 40 Jahren. Wie immer man das einschätzt, aber dieser Stadtteil und das nördliche Hinterland zur Grenze nach Serbien sind im Prinzip in die serbische Kultur eingebettet.
Menschen aus Kosovo sind in der Schweiz sehr präsent.
Etwa 200‘000 Kosovar*innen leben in der Schweiz, ebenso viele in Deutschland. Sie sind die wirtschaftliche Stütze des Balkanstaates. Eine eigene Industrie hat Kosovo nur am Rande. Es gibt Landwirtschaft und nur wenig Incoming-Tourismus. Aber die Hotels dort sind mehrheitlich erstklassig. Der materielle Reichtum kommt in erster Linie von den emigrierten Kosovar*innen. Da ist ein Kommen und Gehen. An gewissen Wochentagen gibt es am Euro-Airport bis zu 17 Flüge nach Pristina, das entspricht rund 3000 Menschen.
Waren Ihre Reisen in diese Länder gefährlich?
In einige Gebiete ist es sehr einfach einzureisen, beispielsweise nach Nordzypern. Da kamen wir uns vor wie auf einer spannenden Ferienreise. In die Westsahara führt die Reise über Algerien und dann durch die Sahara, das war komplizierter. Das Gebiet ist militärisches Sperrgebiet. Ohne Kontakte sind solche Reisen nicht möglich.
Hatten Sie manchmal Angst?
In Gefahr fühlte ich mich nirgendwo. Klar, in Irakisch-Kurdistan riet mir mein Fahrer ab, zu nahe an die von irakischen Milizen kontrollierten Dörfer zu fahren. Dort gibt es auch jede Menge Schläferzellen des Islamischen Staates. Trotzdem schaffte ich es auf Umwegen in die heilige Stätte der Jesiden, Lalish. Am wenigsten wohl fühlten wir uns in Palästina. Paradoxerweise nicht etwa in den unter palästinensischer Verwaltung stehenden Gebieten, vielmehr in den Gebieten, die unter Kontrolle der israelischen Armee stehen. Die israelische militärische Präsenz ist enorm. Ich weiss nicht, wie es hier je eine Lösung geben wird.
Was machen Sie nun mit all Ihren Erkenntnissen?
Ich habe die Geschichte all dieser Gebiete aufgearbeitet. Die Eindrücke der Reisen sind «das Fleisch am Knochen». Ich hoffe, dass ich bald meine letzten Reportagen abschliessen kann. Ziel ist eine Buchpublikation.
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Stefan Schuppli war 1970 mit Stauffer im Progymnasium Binningen in derselben Schulklasse.
und werde Gönner*in.