«Die Hinweise sind erdrückend»
In der Debatte über den Krieg in Gaza ordnet der Basler Völkerrechtler Andreas Müller Fragen zu Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und einen möglichen Genozid seitens Israel ein.
Die humanitäre Lage in Gaza ist katastrophal. Es ist von Kriegsverbrechen, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und auch von Genozid die Rede. Wie schätzen Sie die Situation ein?
Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid (oder Völkermord) sind schwere Verbrechen. Für die ersten beiden Verbrechensarten gibt es – und zwar auf beiden Seiten – erdrückende Hinweise. Auf der Seite der Hamas ebenso wie auf Seite der israelischen Armee. Beim Völkermord ist die Sache komplizierter, weil es hier ganz spezielle Voraussetzungen gibt, die es bis jetzt nach wie vor schwierig machen, eine verlässliche Einordnung zu treffen.
Bitte definieren Sie die Hinweise auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Auf Seiten der Hamas ist der Angriff im Oktober 2023 das erste Beispiel. Die Geiselnahme an sich und die Tatsache, wie die Geiseln behandelt werden, sind weitere klare Hinweise. Auf israelischer Seite geht es vor allem um die Behandlung der Zivilbevölkerung mit mehr als zwei Millionen Menschen in Gaza. In den letzten Monaten ist die Versorgungslage, die ohnehin schwierig war, massiv verschlimmert worden, indem Israel der Uno weitgehend den Zugang zum Gazastreifen verwehrt und auf eine eigene Organisation setzt. Da diese eine Versorgung der Zivilbevölkerung nur in sehr unzureichendem Masse sicherstellt, gibt es nun systematischen Hunger, vor allem bei Kindern. Israel als Besatzungsmacht des Gazastreifens ist verpflichtet, gegenüber der Zivilbevölkerung gewisse Mindeststandards einzuhalten.
Inwiefern?
Der Zugang zu Wasser, Essen, zu einer basalen Gesundheitsversorgung und zu sonstigen existenziellen Leistungen muss gewährleistet sein. Die Hinweise sind erdrückend, dass die Pflicht in systematischer Weise und sehenden Auges vernachlässigt wird. Dies in einer Weise, die die einschlägigen Regelungen des humanitären Völkerrechts verletzt.
Andreas Müller ist Professor für Europarecht, Völkerrecht und Menschenrechte an der Universität Basel. Er lehrt und forscht unter anderem zum internationalen und europäischen Menschenrechtsschutz und zum bilateralen Verhältnis Schweiz-EU.
Inwiefern spielen die Zahl der zivilen Opfer, der Grad der Zerstörung oder humanitäre Blockaden eine Rolle in der Bewertung eines möglichen Völkermords?
Für die Einstufung als Genozid ist nach der Völkermordkonvention von 1948 nicht entscheidend, wie viele Menschen sterben. Aktuell wird oft die hohe Zahl der Opfer genannt, wenn von einem Völkermord in Gaza gesprochen wird. In Srebrenica wurden im Juli 1995 etwa 8000 bosnische Männer getötet, was zeigt, dass die Zahl der Toten nicht ausschlaggebend ist, denn hier handelt es sich um einen von den allermeisten anerkannten Fall von Völkermord. Es geht vielmehr um das Wesen des Genozids, dessen historisches Vorbild der Holocaust ist. Ein Völkermord kann begangen werden, wenn man Menschen tötet oder die Lebensgrundlagen von Personen systematisch abschneidet, zum Beispiel, indem die Gesundheit, die Nahrungsmittel oder die Trinkwasserversorgung systematisch unterminiert werden. Dafür haben wir aktuell sehr deutliche Hinweise. Was einen Völkermord aber vor allem ausmacht, ist die spezifische völkermörderische Absicht, eine ethnische, eine religiöse oder eine politische Gruppe als solche ganz oder teilweise auszulöschen.
Wie kann man das beweisen?
Diese Absicht lässt sich nur nachweisen, wenn man zum Beispiel Belege aus Regierungsprotokollen oder aus abgehörten Telefonaten von höchsten politischen und militärischen Stellen hat. Diese Beweislage ist im Moment nicht gegeben. Es gibt aber Äusserungen von israelischen Regierungsmitgliedern, die sich in diese Richtung lesen lassen. Daher gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von ernstzunehmenden Stimmen in der Rechtswissenschaft und in der israelischen Zivilgesellschaft, die sagen, aus ihrer Sicht sind die Indizien klar und umfassend genug, um von Völkermord zu sprechen.
«Die Beweislage für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und für Kriegsverbrechen ist sehr viel klarer.»
Völkermord ist also schwer zu belegen. Ist es zu schwer?
Im Moment wird unglaublich viel Energie in diese Frage gesteckt. Mir ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Beweislage für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und für Kriegsverbrechen sehr viel klarer ist. Dabei handelt es sich ebenso um entsetzliche Verstösse gegen grundlegendste völkerrechtliche Regelungen. Ich finde es wichtig, dass man über die Genozidfrage die anderen Verbrechen nicht zur Seite schiebt, denn hier gibt es auf beiden Seiten erdrückende Belege.
Was braucht es, um diese Verbrechen zu verurteilen? Und was würde das bewirken?
Für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord ist grundsätzlich der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag zuständig. Er ermittelt schon seit Längerem und hat letztes Jahr bereits Haftbefehle erlassen. Sowohl gegen führende Mitglieder der Hamas, die nicht mehr am Leben sind, wie auch gegenüber dem israelischen Premierminister Benjamin Netanyahu und dem damaligen israelischen Verteidigungsminister. Ich gehe davon aus, dass die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs in verschiedene Richtungen weiter ermittelt. Es wird aber erhebliche Zeit dauern, bis ein Verfahren starten kann und weitere Haftbefehle veröffentlicht werden können.
Ist die Blockade von Gaza durch Israel völkerrechtswidrig?
Blockaden, ganz abstrakt gesprochen, sind als solche nicht völkerrechtswidrig. Israel blockiert seit Jahren die Seeseite von Gaza mit dem Argument, dass hier Waffenlieferungen von ägyptischer Seite erfolgen können. Eine derartige Blockade kann verhältnismässig sein. Wenn man mit Blockade dagegen meint, dass man über zwei Millionen Menschen von Nahrungs- und Trinkwasserversorgung so abschneidet, dass es zu systematischem Hunger und zu Unterernährung bei Kindern kommt, dann ist eine Blockade nicht verhältnismässig und verstösst gegen das Kriegsvölkerrecht. Es gibt erdrückende Hinweise, dass wir in Gaza in den letzten Wochen und Monaten diese Situation erreicht haben.
Kann man bei der Militäroperation in Gaza überhaupt noch von Selbstverteidigung sprechen, so wie sie anfangs gerechtfertigt wurde?
Das Recht besteht, aber es gibt nicht nur die Selbstverteidigung, sondern es gibt auch den Selbstverteidigungsexzess. Es kann auch legitime und legale Notwehr ihr Ende finden, wenn auf der anderen Seite Rechtsgüter stehen, die gleich hoch sind oder sogar überwiegen. Und das ist ein Abwägen und Prüfen, das sehr stark von den konkreten Umständen abhängt. Die Lage stellt sich heute im Vergleich zum Herbst 2023 ganz anders dar. Wo genau der Wert für die israelische Selbstverteidigung liegt, wenn man, nachdem das Angriffspotenzial der Hamas entscheidend geschwächt wurde, hunderttausende Menschen im Gaza-Streifen systematisch Zugang zu Nahrung und Trinkwasser verwehrt oder zumindest erschwert, erschliesst sich für die meisten Beobachter schon länger nicht mehr.
Gibt es in einem Krieg Regeln, die den Zugang zu Wasser, Strom und humanitärer Hilfe regeln?
Ja, eindeutig. Es gibt die vier Genfer Konventionen von 1949, die auch für die Schweiz eine grosse Rolle spielen, da sie die Verwahrerin dieser Abkommen ist. Die vierte dieser Genfer Konventionen verpflichtet speziell zum Schutz der Zivilbevölkerung im bewaffneten Konflikt und in besetzten Gebieten. Hier haben wir seit Jahrzehnten universal anerkannte Grundregeln, was zum Schutz der Zivilbevölkerung auch und gerade im bewaffneten Konflikt möglich sein muss, die uns hier eine Richtschnur geben.
Aber diese Grundregeln werden im Moment missachtet.
Ja, das Kriegsvölkerrecht wird von beiden Seiten systematisch verletzt. Das macht die Regeln aber nicht weniger existent. Wir haben allerdings ein massives Problem in der Durchsetzung, und es gibt Bemühungen, das zu ändern. 30 Staaten haben jüngst in sehr spezifischer und eindeutiger Weise auf die humanitäre Katastrophe im Gaza-Streifen hingewiesen und die israelische Verantwortlichkeit dafür auch benannt. Das ist richtig und wichtig.
Die Uno ist immer nur so stark wie der gemeinsame Wille ihrer Mitglieder.Andreas Müller, Völkerrechtler
Warum kann Israel dennoch so handeln, wie es handelt – ohne Konsequenzen?
Es ist eine schmerzhafte Erfahrung, dass manchmal sehr klar ist, dass Handlungen völkerrechtswidrig sind und dass Staaten sie aus politischen, wirtschaftlichen, etc. Motiven trotzdem tätigen. Dennoch bestehen die Regelungen und sie können auf lange Zeit auch Wirkung haben. Nicht in jedem Fall und nicht flächendeckend, aber wir haben immer wieder erlebt, dass erst 10, 20, 30 Jahre nach Konflikten eine juristische Aufarbeitung möglich ist. Das Völkerrecht kann einen sehr langen Atem haben. Diese Frage wird sich auch hier stellen, aber es ist ein Fakt, dass Israel im Moment unter dem Schutzschirm der Vereinigten Staaten wenig echte Zwänge hat.
Welche Handlungsmöglichkeiten haben denn die Uno oder andere Staaten in diesem Konflikt?
Die Uno versucht schon seit Langem, die Dinge beim Namen zu nennen und zu verurteilen. Die realen Handlungsmöglichkeiten, über ihre Teil- und Sonderorganisationen vor Ort Hilfe zu leisten, haben sich in den letzten Monaten aber massiv verringert, weil Israel ja auch erklärt hat, mit der Uno nicht mehr zusammenarbeiten zu wollen. Die Uno ist immer nur so stark wie der gemeinsame Wille ihrer Mitglieder. Und im Moment sind wir an einem Punkt, wo dieser gemeinsame Wille noch schwächer ausgebildet ist als oft sonst schon. Das heisst, wirklich relevante politische Initiativen kann man im Moment von der Uno nicht erwarten.
Was genau sind die Gründe dafür?
Weil keiner der relevanten geopolitischen Akteure hier wirklich bereit ist, politisches Kapital einzusetzen. Die USA distanzieren sich gegenwärtig generell von der Uno und kürzen ihre Beiträge massiv. Sie haben zudem den Austritt aus der UNESCO und aus der WHO erklärt. Russland hat im Moment ohnehin andere Prioritäten und auch China ist nicht so unendlich stark an den Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung interessiert. Es bleiben die Europäer, die – auch wenn sie sich bemühen, «einig» aufzutreten – auch nur eine relativ schwache Stimme haben.
Während die Kritik an der israelischen Kriegsführung auch in der Schweiz zunimmt, hat die jüdische Gemeinschaft das Gefühl, Stellung beziehen zu müssen. Basler Jüd*innen berichten von innerer Zerrissenheit und der Angst, sich zum Konflikt in Israel und Gaza zu äussern.
Wie beurteilen Sie die Rolle der Schweiz?
Man darf die Rolle der Schweiz keinesfalls unterschätzen. Sie hat als Verwahrerin der Genfer Abkommen eine überragende Rolle und Verantwortung im Bereich des humanitären Völkerrechts, des Kriegsvölkerrechts. Da wird ihre Stimme auch gehört. Die Schweiz hat sich auch an dem erwähnten Staatenaufruf beteiligt. Dies hat z.B. Deutschland nicht getan. Es ist sehr wichtig und richtig, dass jeder Staat, auch und insbesondere die Schweiz, seine spezifische Verantwortung wahrnimmt. Es gibt nämlich eine Verpflichtung aller Staaten, wenn Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und möglicherweise Völkermord begangen werden, sich zu überlegen: Was kann ich tun, um diese Verbrechen zu beenden, zu bremsen, zu verfolgen?
Was können einzelne Staaten tun?
Sie können sich beispielsweise an Sanktionen beteiligen. Oder ihrer Hoheitsgewalt unterliegende private Unternehmen kontrollieren, die Geschäfte mit Kriegsgütern oder dual-use-Gütern machen. Wenn Staaten genau hinsehen, finden sie in ihren jeweiligen Verantwortungsbereichen verschiedene Handlungsmöglichkeiten, mit denen sie einen Beitrag leisten können, um diese schreckliche Situation abzukürzen oder zu lindern.
«Diese Art von Blockade, wie sie jetzt seit Monaten gegenüber der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza orchestriert wird, muss enden.»Andreas Müller, Völkerrechtler
Ist der Aufruf der mehr als 30 Staaten aus Ihrer Sicht ein erstes Zeichen?
Es ist jedenfalls ein deutlicher politischer Aufruf. Als Zeichen der Mobilisierung und Konsensfindung der beteiligten Staaten ist das eine Leistung. Am Aufruf haben sich auch Staaten beteiligt, die es sich wahrscheinlich nicht leicht gemacht haben. Auch Österreich hat zum Beispiel unterschrieben, obwohl es sich in einer besonderen historischen Verantwortung gegenüber Israel sieht. Wenn man sich vom dem Aufruf alleine jedoch nicht zu viel erwarten darf, ist er doch ein Baustein.
Wie schätzen Sie die Rolle Deutschlands ein, das nicht unterschrieben hat?
Ich anerkenne den deutschen aussenpolitischen Kompass, den sich Deutschland über Jahrzehnte erworben und aufrechtbehalten hat. Die Frage ist aber immer, wann der Punkt erreicht ist, an dem an sich bewährte Politiken in einem konkreten Fall adaptiert oder relativiert werden müssen. Viele Staaten sind ja vor Deutschland diesen Weg einer Neuorientierung ihrer Politik gegangen: Im Oktober 2023 war ein großes Mass an Einigkeit da, das schreckliche Massaker der Hamas zu verurteilen. Das Selbstverteidigungsrecht Israels wurde bejaht. Aber man hat gesehen, dass die Rahmenbedingungen heute ganz andere sind als im Oktober 2023 und auch noch vor einem Jahr. Diese Art von Blockade, wie sie jetzt seit Monaten gegenüber der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza orchestriert wird, muss enden, da sie nicht mit fundamentalen Regelungen des Völkerrechts, aber auch nicht mit fundamentalen Grundsätzen der Menschlichkeit, vereinbar ist.