Adelinas Unglück
Büchner-Preisträger Lukas Bärfuss hat aus seinem Roman «Die Krume Brot» ein Theaterstück gemacht. Das Basler Theater gestaltet damit einen auf weite Strecken grossartigen Abend.
Sehen, wie einer Schauspielerin Stoff unter das Hemd gestopft wird, und eine Minute später fest daran glauben, dass sie eine ganz dicke Person ist: Das ist das Glück, das wir im Theater empfinden können. Sehen wie es gemacht wird – von Menschen gemacht wird ohne grosse technische Hilfsmittel – und doch der Illusion erliegen!
Eine Italienerin in Zürich
Bärfuss erzählt den unaufhaltsamen Abstieg der italienischen Seconda Adelina im Zürich der 1970er Jahre. Das Stück beginnt allerdings mit einer Szene, die in der Gegenwart spielt. Der Dramatiker Lukas (!) trifft Adelinas Tochter, und schon hier zeigt sich Bärfuss’ Könnerschaft. Die Szene macht wach und neugierig. Geheimnisse werden angedeutet: Warum nur war die Mutter im Gefängnis? Widersprüche werden aufgebaut: Die Tochter liebt und hasst die Mutter. Das Geschäft des Dramatikers wird in Frage gestellt: Interessiert er sich für die Frau nur, um an eine gute Geschichte zu kommen? Der letzte Satz der neuen Einleitungsszene ist der erste Satz des Romans: «Niemand weiss, wo Adelinas Unglück seinen Anfang nahm.»
«Die Geschichte endet hier nur vorläufig, Bärfuss hat eine Romantrilogie versprochen.»
Es folgt Adelinas familiäre Vorgeschichte. Flashartige Kurz-Szenen führen uns ins politisch unruhige Trient der 20er und 30er Jahre. Mussolini schreit, Schlägerbanden ziehen durch die Strassen, Adelinas Grossvater verkuppelt seine Tochter, Rassismus und Faschismus prägen die Geister. Adelinas Vater muss nach 1945 für die faschistische Vergangenheit seiner Familie bezahlen und beschliesst, in die Schweiz zu emigrieren.
Ein kurzes Glück
Adelina, in Zürich geboren, kämpft um Schule und Lehrstelle. Aber sie erbt Schulden, muss deswegen die Lehre abbrechen und für einen Hungerlohn in einer Suppenfabrik am Fliessband faule Pilze aussortieren. Mit einem italienischen Bauarbeiter erlebt sie ein kurzes Glück. Bald ist sie wieder allein, nun allerdings auch noch mit Kind. Sie ist der Ausbeutung durch Wohnungsvermieter, Arbeitgeber und Kredithaien ausgeliefert. Ausländerhass, Spiessermoral, soziale Kälte tragen zu ihrem Abstieg bei. Sie begegnet einer zwielichtigen Gestalt namens Emil, der sie finanziert, ohne sexuell irgendetwas von ihr zu wollen. Sie verdächtigt ihn bald, es auf ihre Tochter abgesehen zu haben. Auf einem Italientrip gerät sie in die Hände der damals aktiven, linksradikalen Terrororganisation «Brigate Rosse». Ihr Kind landet im Kinderheim, sie vor Gericht. Die Geschichte endet hier nur vorläufig, Bärfuss hat eine Romantrilogie versprochen.
Theatrale Leichtigkeit
Bärfuss hat ein enorm bewegliches Szenarium geschaffen. Alles geht sehr schnell. Figuren erscheinen und verschwinden. Situationen ändern sich abrupt. Kaum begegnen sich zwei Menschen, küssen sie sich, erwähnen eine Schwangerschaft und schon plumpst das Kind auf die Bühne. Regisseur Antú Romero Nunez und die Basler Compagnie haben für dieses szenische Wetterleuchten eine adäquate Form gefunden. Sie lassen alle Requisiten und Gegenstände von den Spielerinnen und Spielern darstellen. Konkret: Einer spielt die Klosettschüssel, der andere setzt sich auf ihn, um sein Geschäft zu verrichten.
Auch alle Geräusche – Türenquietschen, Maschinenrattern – machen die Spielenden selbst. Sie nutzen die Möglichkeiten der italienischen Commmedia dell’ arte. Da fliegen die Teller wild durch den Raum. Sowohl von Seiten des Spiels als auch von Seiten des Textes kommen Präzision, Ironie und Leichtigkeit zusammen. Ein raffiniertes Sounddesign (Komposition: Anna Bauer) erweitert die wechselnden Stimmungen der einzelnen Szenen ins Grosse. Bis zur Pause ist das ein beglückender Abend.
Nach der Pause gibt’s Längen. Unklar wird, wer warum auf der Bühne anwesend ist. Ein Mitglied der «Brigate Rosse» hält einen endlos langen Monolog, halb Abbild der linksradikalen Logorrhoe der Zeit, halb Botschaft des Autors. Das beschädigt aber das Glück des ersten Teils nur unwesentlich.
Interessante Figuren
Gala Othero Winters Adelina ist nicht nur geprügeltes Opfer, sie ist auch eigensinnig und anspruchsvoll, sicher in ihren Gefühlen und fehlerhaft. Sie ist manchmal kämpferisch und manchmal dumm. Und sie entwickelt sich vom Kind über die Göre zur jungen Frau. Vera Flück gibt Adelinas Vater facettenreich: Er ist ebenso Ex-Fascho wie unkonventioneller Intellektueller, dickes Ekel und hilfloser Macker. Fabian Dämmerich bleibt als Emil meisterhaft zwiespältig und undurchsichtig. Wie Elmira Bahrami als Fliessbandarbeiterin sich in Reisefanatasien flüchtet, erweckt sofort das Mitgefühl des Publikums. Jedes Mitglied der Companie spielt eine Vielzahl von Rollen, liefert witzige Karikaturen ebenso wie subtile Charakterstudien. Sie seien allesamt hochgelobt!
«Ausser Spass bringt der Abend die Erkenntnis, dass auch die Schweiz ihr Tabu hat: die Armut.»
Ausser Spass bringt der Abend die Erkenntnis, dass auch die Schweiz ihr Tabu hat: die Armut. Und sie hat auch ihre unbewältigte Vergangenheit: die «Gastarbeiter», das Saisonnier-Statut. Vielleicht haben diese Themen gerade Konjunktur. Samir hat kürzlich seinen Film «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» publiziert. Bärfuss arbeitet mit den Mitteln des Theaters und findet für die historischen Leichen im Keller des Schweizer Bewusstseins starke Bilder: Adelinas Tochter ist eine international tätige Geschäftsfrau, brillant, gewandt, luxusorientiert. Aber am reich gedeckten Tisch des angesagten Edel-Lokals riecht sie plötzlich die Pilze, die ihre Mutter einst aus der Suppenfabrik heimbrachte, um Geld zu sparen. Und dann wird ihr schlecht.
Schlecht wird uns, dem Publikum, im Theater nicht, dafür macht es zu viel Spass. Aber nachdenklich kann man schon werden.
Das Stück «Die Krume Brot» wird im Dezember noch am 19. und 20. jeweils ab 19:30 Uhr im Theater Basel gezeigt. Weitere Termine im kommenden Jahr und Tickets gibt es hier.