Von 23 Franken kann doch keine*r leben
Basler Gewerkschaften wollen ihn, Genf hat ihn: den höchsten Mindestlohn der Welt. Leider reicht das bei Weitem nicht.
Wer in Basel arbeitet, soll mindestens 23 Franken auf die Stunde bekommen. Das fordern Basler Gewerkschaften – sie haben 2019 eine Initiative eingereicht. Die Regierung dagegen hätte lieber einen Mindestlohn von 21 Franken als Gegenvorschlag. Das Geschäft und der regierungsrätliche Ratschlag liegen bei der Wirtschaftskommission des Grossen Rats, diese hat im September allerdings einen Aufschub bekommen. Bis die Stimmbevölkerung über das Geschäft abstimmt, dauerts also noch eine Weile.
Genf ist da schon weiter: Die Westschweizer Stadt hat im September mit fast 60-Prozent Ja-Stimmen einem Mindestlohn zugestimmt – er beträgt ebenfalls 23 Franken.
Das Beispiel Genf zeigt: Der «höchste Mindestlohn der Welt» ist zweifellos ein grosser Fortschritt. Zum Überleben reichts. Doch kann man damit auch ein «normales» Leben führen, sprich eine Familie mit zwei Kindern über die Runden bringen, und fürs Alter das Nötigste auf die Seite legen?
Rechnen wir.
Zunächst einmal darf man nicht – wie dies der Tages-Anzeiger gemacht hat – von einer 42 Stundenwoche ausgehen. Die durchschnittliche jährliche Arbeitszeit in der Schweiz liegt bei rund 1500 Stunden. Corona-bedingt ist es aktuell deutlich weniger. Angenommen unser Paar kann dank einem Krippenplatz für das jüngste Kind je ein 1500 Stunden Pensum stemmen, dann ergibt das ein Bruttoeinkommen von 69'000 Franken pro Jahr, bzw. 5750 Franken pro Monat.
Der grösste Ausgabenposten ist die Miete. Selbst eine 3-Zimmerwohnung kostet im Genfer Schnitt 2200 Franken. Dank der Allocation de Logement (Mietzuschuss) sinkt dieser Ausgabenposten auf 1950 Franken – ein Drittel des Bruttoeinkommens. Dafür ist die Krippe billig. Rund 400 Franken pro Kind und Monat, womit allerdings kaum ein Viertel der Kosten gedeckt ist. Den Rest übernimmt der Staat.
Auch punkto Steuern geht Genf mit dieser Einkommensklasse behutsam um und begnügt sich mit rund 170 Franken monatlich. Bei der Krankenkasse greift der Staat ebenfalls tief in die Tasche und übernimmt – in der tiefen Einkommensklasse – 300 Franken monatlich pro Erwachsenen und 100 Franken pro Kind. Mit einem Hausarztmodell kann unsere «Familie Mindestlohn» die Prämien auf 500 Franken monatlich beschränken.
Kommen wir nun zur Altersvorsorge. Sie kostet unsere Familie 5 Prozent des Bruttolohns oder 290 Franken für die AHV. Die Pensionskassenbeiträge hängen stark vom Koordinationsabzug an. Wir rechnen mit 210 Franken Arbeitnehmer*innen-Beitrag monatlich und kommen so auf ein Total von 500 Franken. Rechnet man den Arbeitgeber*innen-Beitrag dazu und die Verwaltungs- und Versicherungskosten ab, kommt man auf einen jährlichen Sparbeitrag von maximal 5000 Franken pro Person. Rein rechnerisch könnte man damit eine Rente (AHV und BVG) von knapp 1000 Franken finanzieren. Es ist klar, dass der Staat auch massiv nachhelfen muss.
Nach allen diesen Fixkosten bleibt ein verfügbares Einkommen von 2230 Franken – für Nahrungsmittel, Getränke, Kleider, Energie, Verkehr, Unterhaltung, Ferien etc. Das reicht nicht aus. Gemäss der Haushaltsbudgeterhebung gab das ärmste Fünftel der Schweizer Haushalte mit Kindern für diese Posten schon 2016 gut 3200 Franken aus, also rund 1000 Franken mehr. Damit sich unsere «Familie Mindestlohn» mit dem ärmsten Fünftel Schritt halten könnte, müsste der Mindestlohn um vier auf 27 Franken steigen.
Was lernen wir daraus?
Selbst mit einem Mindestlohn von 23 Franken kann man (in Genf) nur ein karges Leben am Rande der Gesellschaft führen, und ist erst noch auf massive staatliche Hilfe angewiesen. Selbst ein Mindestlohn von 27 Franken würde bedeuten, dass der*die Arbeitgeber*in (bzw. der*die Konsument*in) einen grossen Teil der Kosten auf den Staat abwälzt. Ein echt kostendeckender und sozial nachhaltiger Lohn müsste über den Daumen gepeilt bei 33 Franken liegen – rund 40 Prozent unter dem volkswirtschaftlichen Durchschnittslohn.
Stellt sich die Frage: Würde ein solcher Lohn nicht «massenhaft Stellen gefährden», wie die Arbeitgeber*innen prophezeien? Zumindest langfristig trifft wohl eher das Gegenteil zu: Die Zahl der Jobs hängt letztlich davon ab, wieviel konsumiert wird – und wieviel entsprechend produziert werden muss. Wer mehr verdient, kann gesünder essen, öfter ins Restaurant oder ins Kino gehen, sich eine grössere Wohnung leisten, ein Abo im Fitnessclub und dazu ein Zeitungsabonnement.
Werner Vontobel ist gebürtiger Basler und eine*r der bekanntesten Wirtschaftsjournalist*innen der Schweiz. Auf Bajour bringt er sich regelmässig zu volkswirtschaftlichen Themen, konjunkturpolitischen Grundsatzdebatten und ökonomischen Sinnfragen ein.