Vor der eigenen Tür kehren
Wenn wir Journalist*innen die schnellen Klicks suchen, müssen wir uns nachher nicht wundern, wenn unsere Kommentarschreiber*innen auch auf differenzierte Texte mit Hass und Häme reagieren. Ein Kommentar.
Wenn Jess Phillips morgens aufwacht, ist ihr Puls schon auf 180. Nervös scannt sie alle News, um nachzuschauen, ob ein Shitstorm über sie hereingebrochen ist. Das beschreibt die Labour-Abgeordnete in ihrem Buch «Everything You Really Need to Know About Politics» (Danke an Politologieprofessorin Stefanie Bailer für den Tipp).
Zum Glück können Politiker*innen die Storys in den journalistischen Medien nicht kontrollieren, sonst wäre die vierte Gewalt zahnlos. Doch heutzutage rollen Empörungswellen so schnell an, dass nicht einmal die Redaktionen selbst sie steuern. Sie werden selbst Opfer des Strohfeuers, das sie selbst entzündeten.
Nimm den Fall «Brasserie Lorraine». Die mediale Diskussion schaukelte sich nicht nur auf Twitter und Co., sondern auch in den traditionellen Zeitungen rasend schnell auf. Das Resultat war eine fast schon boshaft oberflächliche Debatte (eine der empfehlenswerten Ausnahmen war die WoZ).
Die Schweiz diskutiert erhitzt über kulturelle Aneignung. Doch was bedeutet dieser Begriff eigentlich? Und was taugt das Konzept?, fragt Kaspar Surber von der WOZ.
Das Problem: Solche Empörungswellen ebben schnell ab, prägen die Diskussionskultur aber nachhaltig, wie sich diese Woche in Basel zeigte. Die BaZ publizierte ein Interview mit der in Arlesheim aufgewachsenen Schauspielerin Gina Haller, Gewinnerin des diesjährigen Baselbieter Kulturpreises 2022 für die Sparte Theater.
Haller spielt als Schwarze die Kriemhild aus den Nibelungen. Nun sprach sie mit der BaZ darüber, wie schwierig es ist, in der weiss dominierten Kulturwelt Rollen zu bekommen. Das Interview war differenziert. Doch die Diskussion auf der Facebook-Seite der BaZ war richtig daneben. Die Redaktion löschte den Beitrag nach ein paar Stunden.
Denn: Der Redaktion sind böse Kommentare mitunter gar nicht recht. Kürzlich schrieb eine BaZ-Redaktorin sogar einen Leitartikel «an unsere Kommentarschreiber». Sie schrieb: «Kommentarspalten hätten so viel Potenzial für eine konstruktive Diskussion, wenn sich die Schreibenden vor dem Verfassen ihrer Meinung mit dem Text auseinandersetzen würden. Stattdessen sind sie ein Ort, an dem jeder und jede Dampf ablässt. Diesen kriegen dann oft die Falschen ab.»
Anstatt sich mit den Aussagen zweier junger Frauen auseinanderzusetzen, reagieren Personen in Kommentaren mit Wut und Empörung. Das ist für eine konstruktive Diskussion nicht zielführend, findet Lisa Groelly von der BaZ.
Sie hat recht. Aber wir Schweizer Medien (ich nehme uns jetzt einmal alle in Sippenhaft) haben uns die Kommentarschreiber*innen ein wenig verdient. Wenn wir Journalist*innen im Sinne des schnellen Klicks jeden Anti-Wokeness-Furz aufsteigen lassen, müssen wir uns nachher nicht wundern, wenn unsere Kommentarschreiber*innen auch auf sorgfältig und differenziert geführte Interviews mit Hass und Häme reagieren.
Die gute Nachricht ist: Wir können das auch wieder ändern. Nicht nur, in dem wir unsere Kommentarspalten moderieren. Sondern auch, in dem wir bei brenzligen Themen wie Political Correctness kurz innehalten, dem schnellen Klick widerstehen und das Hirn einschalten. So wie wir in den Wald rufen, so ruft es irgendwann auch wieder zurück.
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