«Ich bin keine, die rennt»

Die Künstlerinnen Nadiia Rohozhyna und Alyona Grekova kamen von der Kiewer Kunstakademie an die HGK Basel. Wie geht es ihnen?

Ukrainische Künstlerin
Nadiia Rohozhyna: Rettet lieber die Kunst als sich.

Es ist fünf Uhr morgens, als Nadiia Rohozhyna im Student*innenwohnheim in Kiew plötzlich aus dem Schlaf aufschreckt. Ein lautes Geräusch hat sie geweckt. Sie horcht nochmal: Nichts. Dann weckt sie ihren Freund. «Hast du das gehört?» «Das sind nur streunende Tiere», sagt er und dreht sich wieder um. Nadiia ist nicht überzeugt. Sie nimmt ihre Katze und läuft in die Küche zum Fenster. Was sie draussen sieht, wird den Kurs ihres Lebens für immer verändern: Menschen, die ihre Kinder und Haustiere in Autos packen und ihre Wohnungen verlassen. Putin hat wahr gemacht, was niemand für möglich gehalten hatte: Der Krieg steht vor der Tür. Wortwörtlich.

«Ich wusste sofort, was los war.» Nadiia Rohozhyna sitzt an ihrem Tisch in einem Gemeinschaftsatelier der Hochschule für Gestaltung und Kunst (HGK) Basel. Auf dem Tisch liegen Acrylfarben, ein paar Stifte, Pack- und Bananenpapier. Nadiia ist eine von zwanzig Kunst- und Designstudent*innen aus der Ukraine, die die HGK im März aufgenommen hat
. Sie wohnt bei einer Gastfamilie und erhält ein Stipendium von der Laurenz-Stiftung. Nadiias Stimme ist fest, die Worte klar. Sie ist keine, die blumig erzählt. Aber für die Tatsache, dass sie jetzt, knapp zwei Monate nach Kriegsbeginn, in Basel ist, hat sie keine bessere Bezeichnung: «Es ist ein Wunder.»

Eigentlich wollte sie nicht weg aus Kiew. «Ich bin keine, die rennt», sagt sie. Nadiia hat keine Angst vor dem Tod. Aber Sorgen macht sie sich trotzdem. Zum Beispiel um ihren Freund, ebenfalls Künstler, der kurz nach Kriegsausbruch entschloss, sich beim Militär zu melden. «Er führt mittlerweile ein Bataillon», sagt Nadiia und in ihrem Gesicht ist keine Regung zu sehen. Sie haben oft Kontakt und klar sei sie beunruhigt, aber jede*r gehe halt auf eigene Weise mit dem Krieg um.

«Das Erste, was im Krieg stirbt, ist die Kunst.»

von Nadiia Rohozhyna, ukrainische Gaststudentin an der HGK Basel.

In den ersten Tagen nach Kriegsbeginn sitzen die Student*innen in Kiew pausenlos in den Fluren und starren auf ihre Handys. Danach gibt es drei Möglichkeiten: Fliehen, sich gemeinnützig engagieren oder wieder Kunst machen. Nadiia hilft erst als Freiwillige beim Vertrieb von Essen, merkt aber schnell, dass ihr Beitrag ein anderer sein muss. «Das Erste, was im Krieg stirbt, ist die Kunst. Zerstörung ist immer auch Beraubung von Kultur.» Sie sei als Künstlerin dafür verantwortlich, das zu verhindern.

Mit energischen Bewegungen wischt Nadiia über ihr grosses iPad. Sie scrollt durch ein paar Arbeiten von sich: Zeichnungen, Drucke, Malerei auf riesigen Leinwänden. Die Bilder zeigen Menschen, perfekt getroffen und mit grosser Kraft gemalt. Nadiia ist unglaublich talentiert, aber winkt ab, als sie das hört. «Die meisten dieser Bilder hab ich gemacht, damit die Akademie mich mein Ding machen lässt.» Ihre Universität in Kiew ist die älteste Kunstakademie des Landes und wie Nadiia sagt «eher traditionell». Die perfekten Zeichnungen sind für den akademischen Lebenslauf, ihre wirkliche Begeisterung liegt in der Video- und Performancekunst.

Kultur aus der Ukraine hinaus in die Welt

«Hier.» Nadiia zeigt auf den Bildschirm. Im Video ist eine nackte Frau mit Männermaske zwischen alten Steinfiguren zu sehen. Die Figuren stammen vom nomadischen Volk der Polovtsy aus dem 12. Jahrhundert. «Es sind die einzigen Skulpturen dieses Volkes, die Frauen zeigen und nicht Männer, die sich als Frauen verkleiden.» Sie befinden sich in Izum, einer kleinen Stadt im Osten der Ukraine. Die Videoarbeit bringt auf den Punkt, was Nadiia wichtig ist: Ukrainisches Kulturgut in einen feministischen Kontext setzen. Und nun auch aus der Ukraine, der Kriegszone, hinaus in die Welt zu tragen. «Das ist meine Aufgabe.»

nadiia kunst
Film Still aus Nadiias Videoarbeit «temporal dale».

Als ihre beste Freundin sie fragt, ob sie mit ihr zu ihrem Onkel nach Deutschland fliehen will, sagt Nadiia nach einigem Hin und Her zu. Ihr Vater und ihre Schwester bleiben im Westen der Ukraine. Der Direktor der Kunstakademie steht in Kontakt mit der HGK und organisiert ihr einen Studienplatz in Basel.

Die beiden Frauen nehmen den Zug nach Lviv, zehn Stunden lang stehen sie zwischen traumatisierten Menschen in einem Bahnwaggon. Danach nehmen sie einen Bus nach Polen. An der polnisch-deutschen Grenze holt sie der Onkel ihrer Freundin ab und sie fahren nach Köln. Nach ein paar Tagen in Köln fährt Nadiia erst zu ihrer Cousine nach Zürich und dann nach Basel. Die HGK bringt sie in einer Familie in der Nähe des Kannenfeldparks unter. Sie hat ein volles Stipendium, einen Studienplatz und ein Dach über dem Kopf. «Und doch bin ich hier viel gestresster als all meine Freund*innen in der Ukraine.» Sie kämpft mit Schuldgefühlen, hat Schlafprobleme. Ihr Freund und ihre Freund*innen in der Ukraine hingegen sind optimistisch. «Sie glauben, sie werden den Krieg gewinnen und sind froh, etwas tun zu können.»

Kunststudentin Ukraine
Alyona Grekova: «Mich interessieren Grenzen.»

Nadiia holt sich ein Mittagessen in der Kantine und trifft draussen auf Alyona Grekova, auch eine Künstlerin aus der Ukraine. Alyona ist zurückhaltender als Nadiia und ihre Geschichte eine ganz andere. Zwei Tage bevor der Krieg ausbricht, reist sie nach Madrid um ihre Schwester zu besuchen. Sie hat nichts dabei, ausser einem kleinen Rucksack mit ein paar Kleidern. «Die russischen Soldaten waren ja schon seit einem Jahr an unseren Grenzen stationiert. Aber niemand glaubte daran, dass es einen Angriff geben würde.»

Anfangs versuchte Alyona noch mit ihren Freund*innen über den Worst Case zu sprechen: Wie organisieren wir uns, wenn Putin wirklich den Krieg erklärt? Aber ihr Umfeld winkte ab. So verrückt ist der nicht. Doch Alyona beginnt bereits zu diesem Zeitpunkt, eine Veränderung wahrzunehmen. Sie träumt vom Krieg und verarbeitet die unsichtbare Bedrohung, die sie spürt, in einer Arbeit namens «Borders. Metamorphosis»: Eine Betonskulptur, gekrümmt wie ein Mensch, aber in der Form eines PO-2 Zaunes (der typischen postsowjetischen Mauer). «Mich interessieren Grenzen», sagt Alyona. «Der Körper ist eine Grenze, wie die Linie zwischen zwei Ländern. Auch er kann politisch unterdrückt werden, was zu Konflikt und Krieg führen kann.»

alyona zaun
Grenze ohne Grenzen: Alyonas Grekovas «Borders. Metamorphosis»

Als der Krieg ausbricht, verbringt Alyona ihre Tage damit, Nachrichten zu konsumieren, an Demonstrationen zu gehen und Freiwilligenarbeit für die Ukraine zu leisten. Sie telefoniert unablässig mit Freund*innen und ihrem Vater, der in einem kleinen Dorf in der Nähe von Kiew eine Miliz gründet um die Häuser vor russischen Plünderern zu verteidigen. «Er ist Unternehmer, kann also sehr gut Menschen führen», sagt sie. Ihre Mutter fährt mit dem Hund in den Westen zu Verwandten. Um schlafen zu können, fängt Alyona an, Märchenpodcasts zu hören. Sie hat hyperreale Träume, in denen sie aufwacht und auf ihr Handy schaut, wo sich Todesnachricht an Todesnachricht reiht.

Nach ein paar Tagen schickt ihr eine Freundin einen Link, über den man sich als ukrainische* Künstler*in bei der HGK Basel bewerben kann. Alyona, Bachelor-Studentin an der Kiewer Akademie für Medienkunst, stellt sofort ein Portfolio zusammen und wird angenommen. «Sie ist eine der besten und inspirierendsten Studierenden, die ich je hatte», sagt eine Lehrperson der HGK über sie.

Alyona lebt auch bei einer Gastfamilie, zwei Häuser weiter von Nadiia. Es sei seltsam, diese Gleichzeitigkeit. Krieg dort, Frieden hier. Wie Nadiia fühlt auch Alyona sich schuldig und unverdient pivilegiert. «Why me?» fragt sie leise.

Beide haben keine Antwort darauf.

Kunst für die Ukraine

Auf dem Instagram-Account arts__aid kann man Kunstwerke von internationalen jungen Kunstschaffenden erwerben. Der Erlös geht an Künstler*innen aus der Ukraine und ansässige Hilfswerke. Werke von Alyona und Nadiia sind auch dabei.

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