Alternativen zu alternativen Fakten
Zweimal tritt der umstrittene Historiker Daniele Ganser diese Woche im Stadtcasino auf. Gestern veranstaltete die Universität Basel ein Podium – als Gegenveranstaltung, um Verschwörungserzählungen in Bezug auf den russischen Angriffskrieg einzuordnen. Das Interesse war riesig. Und zur Halbzeit gab es einen Feueralarm.
Wer oder was immer um 18.55 Uhr diesen falschen Feueralarm an der Uni Basel ausgelöst hatte – das Thema passte: alternative Fakten. Um solche ging es bei der Podiumsdiskussion mit dem Thema «Wahrheiten, Halbwahrheiten und Lügen: Erzählungen über Russlands Krieg gegen die Ukraine». Den Abend moderierte Christoph Keller, freischaffender Autor und ehemaliger Leiter der Redaktion Kunst & Gesellschaft von SRF 2 Kultur.
Das Podium lässt sich klar als Gegenveranstaltung lesen zu den zwei Auftritten des als umstritten geltenden Historikers Daniele Ganser, der einst an der Uni Basel lehrte. Im Basler Stadtcasino steht der selbsternannte Friedensforscher an diesem Mittwoch und Freitag unter dem Titel «Warum ist in der Ukraine ein Krieg ausgebrochen?» auf der Bühne.
«Ein Schlag ins Gesicht»
Auf dem Podium an der Uni nahm am Dienstagabend unter anderem Benjamin Schenk Platz, Professor für osteuropäische Geschichte und Leiter des Programms Ukrainian Research in Switzerland. Daniele Ganser inszeniere sich als Experte zum Ukrainekrieg, sagte Schenk. Ganser habe nie zu Russland oder der Ukraine geforscht und er spreche weder Ukrainisch noch Russisch. Das sei relevant, um dieses Thema seriös zu bearbeiten, meint Schenk. Ausserdem verbreite Ganser Erzählungen, die sehr nahe bei der russischen Kriegspropaganda liegen würden. Er würde grundsätzliche Erkenntnisse der Wissenschaft infrage stellen. Die Maidan-Revolte sei ein Kampf für Demokratie gewesen, Ganser aber stelle sie als einen von den USA organisierten Putsch dar. «Das ist ein Schlag ins Gesicht für die Leute, die damals das Leben riskierten.» Und es sei eine Parteinahme für den Aggressor.
Im Publikum waren einige wenige Ganser-Fans auszumachen, die sich aber sehr selten bemerkbar machten. Beim Schlange stehen zum Eintritt hörten wir jemanden, der sich über das ganze universitäre «Rösslispiel» (gemeint sind die Professor*innen) mokierte, welches da aufgeboten wurde, um gegen Ganser anzutreten. «Ha! Typisch!»
Wo denn die Lüge sei, die da angekündigt wurde, wollte ein Ganser-Anhänger wissen, und dass Putin gezwungen worden sei, die Ukraine anzugreifen – wegen der Nato-Osterweiterung. «2004 hatte Putin nie ein Problem damit», sagt Schenk. Hingegen sei diese in den USA umstritten gewesen.
«Schein-Evidenz»
Nicola Gess, Professorin für Neuere deutsche und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Uni Basel, hat sich den – nach ihrer Einschätzung – «besonders tückischen Halbwahrheiten» Gansers angenommen. Diese stimmten zwar zum Teil, seien aber grob verzerrt, und es würden Fakten unterschlagen. Es gebe zwar keine absolute Objektivität, aber die «Schein-Evidenz» ermögliche eine Kultivierung des Zweifels, Ganser würde seine Hypothesen nicht prüfen. Geschichten und lineare Erzählungen seien erfolgreich, weil sie gut ankommen.
Oliver Nachtwey, Professor für Sozialstrukturanalyse am Fachbereich Soziologie der Uni Basel, warnte, dass man Ganser und dessen Äusserungen nicht auf die leichte Schulter nehmen dürfe. Er habe von einem Fan gehört: «Ganser hat mein Leben verändert.» Er spreche vieles an und habe einfache, lineare Geschichten bereit, mit literarischen Gesetzmässigkeiten, wie in einem Spionageroman. «All das macht ihren Reiz aus», sagt Gess.
Ganser stelle auch die Medien infrage und spiele damit eine wichtige Karte: Journalist*innen haben einen schlechten Ruf. Und es werde immer wieder gelogen. Nachtwey muss ihm teilweise recht geben: «Es gibt diese Probleme mit der Wahrheit in den westlichen Gesellschaften auch.» Die Selbstkritik fehle oft.
Diskursive Lücken
Sebastian Ramspeck, Moderator des Auslandmagazins «#SRFglobal», störte sich an der Ganserschen Pauschalisierung, dass man keinem Mainstream-Medium mehr trauen könne.
Sein Vorgehen habe Methode, so Nachtwey. Er sei ein «Generalverdachtsunternehmer». Und es stecke noch mehr dahinter: Er überlasse die Mythenbildung dem Publikum. Das dürfe sich seine eigene Geschichten zusammenreimen. Der Soziologe Nachtwey fragt sich laut: Warum funktioniert das System Ganser? Er stosse wohl auf diskursive Lücken, auf Themen, die nicht ordentlich abgehandelt würden, vermutet Nachtwey. Die Dichte der Krisen seien in den vergangenen Jahren erklecklich. Ganser biete da ein die Komplexität reduzierendes Narrativ. Es nehme das Unbehagen auf, das ohne Zweifel vorhanden sei.
«Man gehört zu der Gemeinschaft der Eingeweihten, das Erwachen und der Ermächtigungsgedanke sind zentral»Oliver Nachtwey, Professor für Sozialstrukturanalyse
Ganser habe laut Nachtwey gesagt: «Wir sind doch eine Menschheitsfamilie» – das sei ein Codewort der Anthroposophie. Seine Anhänger kämen oftmals aus dem Alternativ- und Esoterikmilieu, seine Ideen seien identitätsstiftend. «Man gehört zu der Gemeinschaft der Eingeweihten, das Erwachen und der Ermächtigungsgedanke sind zentral», so Nachtwey.
«Es ist durchaus menschlich», sagt Ramspeck. Viele würden sich wünschen, dass dieser Krieg und die Krisen aufhören und wollen erlöst werden.
Sylvia Sasse, Professorin für Slavistische Literaturwissenschaft an der Uni Zürich, hat zehn Jahre in den ehemaligen Geheimdienstarchiven in Osteuropa geforscht. Sie stellt Überlegungen zu Gansers Entwicklung an. Er wechsle immer wieder die Themen: mal die USA, mal die Nato, mal das Erdöl, dann Corona, jetzt die Ukraine. Was gleich bleibe, sei alles in Zweifel zu ziehen, sagt Sasse.
Schenk versucht zu verstehen, warum es solche Wissenslücken gibt, die Ganser mit einfachen Geschichten bedienen will: Die hiesige (westliche) Öffentlichkeit setze sich mit den Realitäten in Osteuropa und Russland nicht auseinander.
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