Kaffee oder Sterben
Im ruhigen Basel ist die Realität streng getrennt vom Computerspiel. Was aber, wenn die Kriege näher kommen? Die ukrainische Autorin Natalia Blok zeigt in ihrem Stück «Das Leben ist unaufhaltsam» junge Menschen in Cherson, im Krieg, unter russischer Besatzung. Eine Rezension von Felix Schneider.
Wir sind doch immer wieder die Profiteure des Unglücks in der Welt, auch wenn wir manchmal nichts dafür können. Der schreckliche russische Krieg gegen die Ukraine hat die 41-jährige Drehbuchautorin und Theaterfrau Natalia Blok als Geflüchtete nach Basel vertrieben. Und so schreibt sie jetzt in der WoZ die Kolumne «Geflüchtet». Und im Theater können wir ihr Stück «Das Leben ist unaufhaltsam» sehen. Nach «Antigone in Butscha» ist dies die zweite Auseinandersetzung des Basler Theaters mit dem Krieg in der Ukraine.
Flüchten oder standhalten?
Blok geht von einer Situation aus ihrem eigenen Leben aus. Sie zeigt ihren Sohn in Cherson, zur Zeit der russischen Besatzung, während sie schon in Basel im Exil ist. Im Stück heisst der 18-jähriger Mann Matwji, versteht sich als Künstler und dreht einen Film über das Leben in Zeiten des Krieges. Matwji trifft sich mit anderen jungen Menschen, geht auf Demos, lebt Freundschaften, gamt am Compi, versucht Freundschaften, Sex und Liebe zu leben. Und er fragt sich unaufhörlich: gehen, fliehen oder bleiben?
Um ihn herum wird es leerer. Er behütet Haustiere von geflüchteten Bekannten: eine Katze, einen Papagei und einen Hamster. Die wichtigste Gefährtin seiner Einsamkeit ist eine Orchidee, die er liebevoll pflegt und bespricht. Gelegentlich beruhigt er seine Mutter am Telefon. Er versucht, ein normales Leben zu führen, und das gelingt ihm nicht, denn wo Bomben fallen, ist jederzeit alles möglich, da lauert der Tod im Alltag. «Ja, was isn jetzt, Kaffee oder Sterben?», fragt eine der Jugendlichen im Stück.
Lebst du noch oder träumst du schon?
Ganz früh fällt in einem Dialog der Name Erich Maria Remarque. Der hat mit seinem Weltkriegsroman «Im Westen nichts Neues» anno 1929 einen internationalen Riesenerfolg gehabt. Seine Absicht war es nicht so sehr gewesen, gegen den Krieg zu klagen, sondern «über eine Generation zu berichten, die vom Krieg zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam». Natalia Blok verfolgt dieselbe Absicht.
Damit aber enden die Gemeinsamkeiten. Während Remarque seine Protagonisten an die Front führt und die Kriegsgreuel drastisch schildert, bleibt Blok hinter der Front und im Privaten.
Remarque vertraut auf realistisches Erzählen, Blok beschwört eine ganz eigene Wirklichkeit, einen Mix aus Albtraum und Realität. Das ist zunächst eine Medien-Realität, denn was wir im Theater sehen, das ist, so stellt es sich am Schluss heraus, Matwijs Film. Die jungen Menschen auf der Bühne, die doch aussehen wie du und ich, verwandeln sich im Laufe des Abends in Monstren aus der Welt der Computerspielen und der Science-Fiction-Fantasie – und sie verwandeln sich auch wieder zurück in Menschen, wie sie auf der Strasse herumlaufen.
Realität? Irrsinn? Beides?
Von Mensch zu Monster und zurück – diese Metamorphosen sind zunächst einmal einfach: theatralisch gut gemacht! Eine Gaze senkt sich herab, und schon verwandeln sich die Bühnenfiguren mithilfe von Projektionen in groteske Avatare. Die Gaze wird hochgezogen – die Figuren wirken wieder alltäglicher. Ein Bravo für Bühnen-, Video- und Lichtgestaltung.
Reine Spielerei aber ist das nicht. Es ist ein Versuch, dem heutigen Irrsinn zwischen Fiktion, Krieg und omnipräsenter Mediatisierung eine Form zu geben. Was heisst schon «Realität», wenn Kriege wirken, als seien sie Reenactments von Katastrophenfilmen?
Drohnen und computergesteuerte Geschosse entmenschlichen den Krieg. Todbringende Entscheidungen werden von Rechnern getroffen. Berichte vom realen Kriegsgeschehen und Werbefilme der Rüstungsindustrie gleichen sich – das führt die Inszenierung drastisch vor Augen. Nur was die Medien berichten und wie sie es berichten, gilt und wirkt als Realität.
Die «Wahrheit»? Sie erscheint, wie Bloks Stück anhand eines Interviews vorführt, als die unwahrscheinlichste Variante einer Geschichte. Fake news, stofflose Fantasien, werden, wenn sie von Massen geglaubt werden, zu materieller Gewalt. Im russischen Krieg, wie im Krieg der Hamas, sind Menschen plötzlich zu ganz unvorstellbaren, sinnlosen Brutalitäten fähig, als ob sie Filmmonster wären.
Bloks Stück endet mit einer Szene, in der die Bühnenfiguren mit projiziertem Filmflimmern überzogen werden. Das Bühnengeschehen ist in einem surrealen Raum zwischen Realität und Albtraum angekommen. Das Gefühl, dass «doch alles komplett verrückt» sei, ist wohl jeder Zeitungsleserin und jedem Leser vertraut. Hier, auf der Bühne, ist diesem Gefühl Gestalt gegeben worden.
Was geht uns Cherson an?
Die Inszenierung läuft harzig an und gewinnt dann an Fahrt. Regisseur Peter Kastenmüller hat sich nicht getraut, mit ganz naturalistischer Spielweise einzusteigen. Das wäre aber nötig gewesen, um die Entwicklung der Figuren zu Avataren deutlicher zu machen. Kommt hinzu: die Personen gewinnen kein individuelles Profil.
Matwji könnte ein gut Stück verzweifelt-ironischer sein. Allzuviel Text versteht man einfach nicht, v.a. beim Hauptdarsteller Fabian Dämmich. Peter Knaack als etwas älterer Bürger von Cherson ist von entspannter Klarheit. Täusche ich mich, oder hat man der vorzüglichen Carina Braunschmidt allzuviel Text weggekürzt? Ihre Tante verschwindet zu sehr. Das Publikum reagiert nachdenklich auf die Aufführung, vielleicht auch verunsichert. Der Applaus war warm, aber nicht frenetisch.
Stück und Aufführung verhandeln ein grosses aktuelles Thema: Leben in Kriegszeiten. Basel wird nicht bombardiert, aber die Kriege kommen näher, am Rande von Kriegen leben auch wir. Was das bedeutet, macht dieser Theaterabend klarer. Dass das Leben unaufhaltsam sei, ist eine ambivalente Botschaft. Einerseits: Das Leben hört in Zeiten des Krieges und der Todesnähe nicht einfach auf, wie wir Kinder des Friedens uns das vielleicht vorgestellt haben. Man kann das als gute Nachricht betrachten. Die schlechte aber ist: Das Leben, indem es weitergeht, passt sich an den Krieg an.
Jetzt Bajour-Member werden.