Neue Heimat, neue Kontakte

Vor einem Jahr wurde die Ukraine überfallen. Der Krieg dauert und ist unerbittlich. Die Geflüchteten haben oftmals Hab und Gut verloren und versuchen, sich hier etwas Neues aufzubauen. Bajour hat mit Menschen in der Community gesprochen.

Hanna_ Yulyia
«Smakoleke!!» – Hanna und Yuliya verkaufen samstags auf dem Neuweilerplatz ukrainische Back-Spezialitäten. (Bild: Stefan Schuppli)

Hanna und Yuliya

Hier stehen sie also, Hanna und Yuliya. Auf dem Neuweilerplatz in Basel-West verkaufen sie mit einem stolzen Lächeln ihre «Smakoleke», Süssigkeiten, zu denen es in der Ukraine unzählige Rezepte gibt. Richtig gehört: In dem Wort finden sich «Geschmack» und «lecker». Und beides trifft zu. 

«Smakoleke!», tönt es über den Platz. Vor ihnen auf dem Tisch stehen verschiedene Quarkkuchen, herrliche salzig-süsse Häppchen und «Spitzbuben», die unseren gleichnamigen Buben sehr nahe kommen. Diese spitzbübisch lachenden Gutzi täuschen darüber hinweg, dass ihr Verkaufsstand einen ernsten Hintergrund hat, einen bizarren, unglaublichen, tödlichen: den Aggressionskrieg gegen die Ukraine.

Solche Verkaufsstände wie dieser wurden für die aus der Ukraine Geflüchteten zu einem wichtigen Moment in ihrer Krise: Er gibt ihnen etwas zu tun, um hier, bei uns, Präsenz zu markieren, gemeinsam etwas Kleines zu unternehmen, vielleicht ein wenig Trost zu finden und möglicherweise noch etwas Geld zu verdienen. «Smakoleke!» – Süssigkeiten! Es ist ein Hilferuf, der nicht stärker kontrastieren könnte mit diesem Krieg.

Beide knüpfen Kontakte: Jenya Lavicka und ihr Vater Volodymyr.
Beide knüpfen Kontakte: Jenya Lavicka und ihr Vater Volodymyr. (Bild: Stefan Schuppli)

Während Hanna erst seit Kurzem in der Schweiz ist, hat Yuliya bereits eine längere Vergangenheit in Deutschland und der Schweiz hinter sich. Yuliya hilft unterstützend mit – ein Muster, das wir in der ukrainischen Community immer wieder antreffen: die Landsleute helfen, wo es gerade geht. Irgendwer hat immer (oder meistens) irgendwo irgendwelche Bekannte oder Verwandte.

Jenya und Volodymyr

Im HEKS-Büro Basel im Gundeli treffen wir Jenya Lavicka. Sie wohnt schon seit 16 Jahren in der Region und hat bei Novartis und Lonza im Pharmabereich und bei Camolog Biotechnologies gearbeitet. Mit dem Kriegsbeginn wusste sie sofort: Da muss ich meinen Beitrag leisten!

Sie stürzte sich in die Geflüchtetenhilfe. Zuerst mit einer Datenbank für Privatunterkünfte für ukrainische Geflüchtete, die sie zusammen mit einer Gruppe von ukrainischen Freiwilligen vom Verein Ukrainer in Basel erstellt hat. Sie kontaktierte ihre Nachbar*innen, Kolleg*innen, Freund*innen und andere, die ihre Häuser und Herzen für die Geflüchteten öffneten. Dann begann sie zusammen mit Olena Bolger, Maria Espeland, Liliia Kudelya und Halyna Rinner Informationsveranstaltungen für ukrainische Geflüchtete im Kanton Basel-Stadt zu organisieren.

Dabei erhielten sie Hilfe vom Verein Impact HUB Basel und der Stiftung Wibrandis, die kostenlosen Räume zur Verfügung stellten.

Veranstaltung von impact Hub(1)
Eine Informationsveranstaltung des Impact Hub in Basel. (Bild: zvg)

Jenya knüpft Kontakte, wo immer sie kann. Mit Hilfe von Freiwilligen der Freikirche ICF begannen Maria Espeland und Jenya Lavicka, jeden Mittwoch einen Treffpunkt im Café-Stil für ukrainische Mütter mit kleinen Kindern zu organisieren. Unter den Ukrainer*innen nennt man es «Cafe-Molodytsya»" («Molodytsya» bedeutet auf Ukrainisch eine junge verheiratete Frau mit kleinen Kindern).

Ab Mitte März arbeitete Jenya für das HEKS im Asylzentrum in Basel und unterstützte ukrainische Geflüchtete bei der Registrierung für den Status «S» beim Staatssekretariat für Migration (SEM). Im Dezember trat sie beim HEKS eine Stelle als Projektleiterin der Koordinationsstelle «Flucht und Ankommen» an. In dieser Funktion ist Jenya eine Vermittlerin im neu aufgebauten ukrainischen Netzwerk in der Region. Ihre Aufgabe ist es, die Hilfsinitiativen der verschiedenen Kirchgemeinden im Kanton Baselland zu koordinieren.

Seit zehn Monaten wohnt auch Jenyas Vater Volodymyr in Allschwil. Vor achteinhalb Jahren flüchtete er bereits von Donezk nach Odessa, als Russland in der östlichen Ukraine einfiel. Der pensionierte Metallarbeiter ist, wie seine Tochter, umtriebig und knüpft ebenfalls Kontakte. Er schätzt die grosszügige Hilfen, die er hier erhält. «Ich bin dankbar. Es braucht nicht viel, um glücklich zu sein», sagt er. Auch er plant in die Ukraine zurückzureisen, sobald es die Situation erlaube – Odessa ist sein Zuhause.

Vlad und Dmitri

In einem Allschwiler Café treffen wir Dmitri (57) und seinen Sohn Vlad Halatenko (32). Unser Gespräch findet auf Englisch statt. Als der Krieg begann, verlor Vlad rasch die Arbeit. Alles geriet aus den Fugen. In Cherson hätten links und rechts die Bomben eingeschlagen, erzählt er.

Vlad und Dmitri Halatenko
Möchten hier als Ärzte gerne Sinnvolles tun: Vlad Halatenko und Vater Dmitri. (Bild: Stefan Schuppli)

Eine Zeit lang war er in Cherson noch als Freiwilliger tätig, dann wurde es für ihn zu brenzlig. Mit Sohn, Frau und Schwiegermutter machte er sich mit dem Auto auf die gefährliche Reise durch die russische Front. Sie mussten dabei auf 18 Kilometern 26 Blockposten passieren. Russland? Schnell weg hier! Georgien war das nächste Ziel, dann die Türkei, Bulgarien , Serbien, Ungarn, Österreich, Deutschland, Schweiz … Das war schon sehr kompliziert, sagt Vlad. Ziel waren Freunde in der Schweiz.

Vlad ist Zahnarzt. Er könnte sich vorstellen, ukrainische Landsleute zu behandeln. Aber die Vorschriften sind hürdenreich. Sein Vater Dmitri war in Cherson 30 Jahre lang Chef-Neurologe im dortigen Spital. Er ist zwar im Pensionsalter – aber warum nicht irgendwo etwas Sinnvolles tun?

Und genau hier landen wir bei einem zentralen, ganz kritischen Punkt: Eine der ganz grossen Barrieren ist die Sprache. Dmitris Englischkenntnisse reichen bestenfalls fürs tägliche Leben. Die Sprache ist auch deshalb so wichtig, dass sich Geflüchtete mehr und mehr auf einen längeren Aufenthalt gefasst machen. Vlad kann gut englisch, aber erst sehr wenig deutsch.

Mykhailo

Mykhailo Mamedov (22), den wir in einem Café beim Bahnhof SBB Süd getroffen haben, gehört zur jungen Generation. Er ist eher die Ausnahme unter den Geflüchteten, denn junge Ukrainer müssen in die Armee. Doch Mykhailo lebte bereits nicht mehr in der Ukraine, als der Krieg ausbrach. In Polen, wo er bis Februar 2022 lebte, war er Coiffeur. Mykhailo hatte einen Plan.

«Als ich in die Schweiz kam, wollte ich sofort deutsch lernen. Das ist ganz wichtig», sagt er langsam, aber völlig korrekt in Grammatik und Aussprache. Aktuell besucht er einen Sprachkurs in der NSH mit 20 Wochenstunden. Er ist sprachbegabt – spricht neben Russisch auch Polnisch und Aserbaidschanisch.

Sehr motiviert: Mykhailo Mamedov.
Sehr motiviert: Mykhailo Mamedov. (Bild: Stefan Schuppli)

In der Ukraine war Mykhailo als Profifussballer tätig. Jetzt will er baldmöglichst eine kaufmännische Lehre beginnen. «Ich will nicht von der Fürsorge abhängig sein, sondern meinen Lebensunterhalt selbst verdienen», sagt der 22-Jährige, «das ist meine Motivation.»

Er wohnt zusammen mit seiner Freundin in Birsfelden in einer von der Gemeinde angemieteten Wohnung. Auch Mykhailos Freundin besucht die NSH. Er zeigt sich überaus dankbar, wie sie in der Schweiz unterstützt werden. Auch der teure Sprachkurs wird von Birsfelden bezahlt.

Ukrainische Familien beziehen immer mehr eigene Wohnungen. Wohnten im Mai 2022 noch rund 80 Prozent der Geflüchteten bei Gastfamilien, waren es im Juli noch 60 Prozent, war in der bz zu lesen. Die Zahl habe sich bei 35 bis 40 Prozent eingependelt. Gegenüber Schutzsuchenden aus dem Maghreb oder Afghanistan sind Ukrainer*innen aber offensichtlich im Vorteil. Marco Ramseyer, Asylkoordinator im Kanton Baselland, sagt gegenüber der bz, dass die Solidarität der hiesigen Gastfamilien nahezu ausschliesslich ukrainischen Geflüchteten gelte. Dasselbe gilt für den Arbeitsmarkt.

Wie mehrfach berichtet, hat auch der Schutzstatus S zu einer Art Zweiklassengesellschaft geführt. Dieser Schutzstatus war ein Problem, weil Geflüchtete aus anderen Ländern, die die S-Privilegien nicht hatten, sehr viel länger warten mussten. S-Geschützte dürfen aus der Schweiz aus- und wieder einreisen, war diese Woche an einer Veranstaltung in der offenen Kirche Elisabethen zu hören.

Dennoch sei die Einführung dieses Status unbedingt notwendig gewesen, weil die grosse Zahl der Flüchtenden die Behörden restlos überfordert hätte. Selbst mit dem S-Status habe zwischendurch das pure Chaos geherrscht, war an dieser Veranstaltung zu hören. Das Zusammenleben in Gastfamilien ist sehr anspruchsvoll, für alle Betroffenen. Gastfamilien brauchen wieder mal ihren eigenen Raum, sagte Renata Gäumann, Asylkoordinatorin bei der Sozialhilfe Basel-Stadt.

myfive app animiert
So funktioniert myfive

Die App geht von der geflüchteten Person aus. Sie stellt sich ein Netzwerk aus mindestens fünf Personen aus der Umgebung zusammen, die gleiche Interessen teilen, Freizeit miteinander verbringen oder Unterstützung und Hilfeleistungen anbieten. Erst wenn fünf Personen matchen, geht das Netzwerk auf.

Die Idee: Die geflüchtete Person hat eine ganze Gruppe zur Verfügung. Und jede*r Teilnehmer*in weiss, dass auch noch andere da sind im Netzwerk. Über eine Chatfunktion verabreden sich die Menschen und finden zueinander.

Du willst auch mitmachen? Hier kannst du die App herunterladen und dich anmelden.

Nazar Zatorsky, bischöflicher Delegierter und Seelsorger für die Ukrainer*innen in der Schweiz, kennt die Sorgen der Geflüchteten. Diese Menschen leiden, ganz ähnlich wie die Menschen im Kriegsgebiet, an posttraumatischen Syndromen, sagte er. «Sie sehen jeden Tag die Berichterstattung, und das geht jetzt schon ein Jahr lang so. Sie leiden oft an Depressionen und haben Wutanfälle.» Die Zerstörungen lassen einen nicht kalt.

Halyna Rinner vom Verein «Ukrainer in Basel» bestätigt das. Nur zu oft müssten Mütter gegenüber ihren Kinder Stärke zeigen. «Das ist purer Wahnsinn. Die Belastung ist ausserordentlich hoch, Depressionen sind programmiert.»

Es scheint, dass dieser Wahnsinn kein rasches Ende hat. Eine Exit-Strategie aus dem Konflikt ist nicht sichtbar. Vor allem solange in einigen Köpfen in Russland die Vorstellung herrscht, man müsse die Ukraine ausradieren.

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