Wann hast du das letzte Mal unter freiem Himmel geschlafen?
In diesem Sommer werden wir wegen des Corona-Virus alle etwas gemächlicher unterwegs sein. Warum das auch ein Gewinn sein kann, zeigt die Kunst des langsamen Reisens.
«Sie kauen an ihren Nägeln und schauen angestrengt auf die Namen der Stationen, die auf der Anzeige vorbeilaufen. Die Geschäftsreisenden verraten sich dadurch, dass sie plötzlich anfangen, wie wild zu telefonieren. Sie lassen sich dazu hinreissen, eine glanzvolle Schilderung von etwas abzugeben, das sich höchstwahrscheinlich als eine langweilige Geschäftsverhandlung in einem Gewerbegebiet in der Nähe eines provinziellen Flughafens erweisen wird. Kurz darauf erklingt das blecherne Rauschen eines Düsenjets. Es ist so laut, dass die nervösen Urlauber in einer Mischung aus Schrecken und Ehrfurcht vor sich hin starren. Die Leute fangen an, über den Sicherheitscheck zu murren. Sie greifen zum Handgepäck, um zum x-ten Mal festzustellen, dass der Pass da ist. Dann geht eine Welle der Bewegung durch die Menge, jeder greift nach seinen Taschen und Koffern. Beim Aussteigen werden die Passagiere kopflos wie Tiere, die das Herannahen eines Orkans spüren. Auf dem Bahnsteig kämpfen Koffer um die Vorherrschaft über den Fahrstuhl, doch dort wartet bereits eine Schlange mit Leuten aus dem letzten Zug. Endlich ist die letzte Tasche davongetragen. Die Türen piepen und schliessen sich, der Zug fährt an. Alle haben es auf den Bahnsteig geschafft. Alle ausser mir. Ich steige nie am Flughafen aus. Erst wenn ich ihn hinter mir gelassen habe, weiss ich, dass ich tatsächlich unterwegs bin.»
Der britische Reiseschriftsteller Dan Kieran hat seit über zwanzig Jahren kein Passagierflugzeug von innen gesehen. Dafür hat er seine ganz eigene Philosophie entwickelt, die auf sieben Regeln basiert. Eine davon heisst: Reise nicht nur, um anzukommen.
Dass er damit den Zeitgeist trifft, das zeigen nicht nur die Tausenden von Pilger*innen, die jedes Jahr den Jakobsweg entlang wandern. Um sich selbst zu finden, einen Übergang wie den Auszug der Kinder zu verarbeiten oder die eigenen Grenzen auszuloten, radeln andere mit dem Velo durch Europa. Oder nehmen ein langsames Gefährt wie eine Kutsche, steigen auf einen beladenen Maulesel oder, wie Kieran selbst, fahren mit einem alten Milchwagen durch das britische Königreich.
Auch wir werden – aller Voraussicht nach – in diesem Sommer anders reisen. Der Bund ruft weiterhin dazu auf, auf Auslandreisen zu verzichten. Jeder Dritte hat schon eine Buchung storniert oder umgebucht, wie eine Studie der Hochschule Luzern zeigt. Vieles hänge derzeit in der Schwebe, erklärt Gesundheitsminister Alain Berset diese Woche bei einem Besuch im Kanton Graubünden. Oder anders gesagt: Er wollte sich nicht festlegen, ob wir 2020 noch ins Ausland reisen dürften. Experten rechnen damit, dass Überseereisen wohl frühestens wieder 2021 möglich sein werden.
Anders sehe es hingegen im Inland aus. «Wenn die Eindämmungsstrategie funktioniert, dann haben wir hier mehr Steuerungsmöglichkeiten,» sagt der Gesundheitsminister. Auch wenn noch nicht ganz klar ist, wann die Touristische-Infrastruktur wieder hochgefahren wird, es könnte diesen Sommer eng werden. Nicht nur auf den Campingplätzen.
Doch was wäre, wenn wir die Gelegenheit nutzen würden, um unsere Gewohnheiten ganz neu zu denken? Der Mensch reist, um sein Leben zu vervollständigen. Sich zu erholen. Muss man dafür wirklich immer schneller immer höher, immer weiter weg?
Nein, sagt Reiseschriftsteller Kieran. Man könne dafür auch zu Hause bleiben. Denn es gehe um die Haltung. Slow Travel sei keine Flucht. Viel eher schaue man in sich selbst hinein. Denke über sein Leben nach, wer man ist. Ob man die richtigen Sachen macht. Dies steht im Gegensatz zur gängigen Reisepraxis, bei der man sich meist einfach eine bestimmte Menge an Erlebnissen erkauft und Sehenswürdigkeiten und exotische Erlebnisse konsumiert.
Abgelenkt durch die Verpflichtungen des Alltags, nehmen wir uns selbst kaum mehr wahr, weil eigentlich immer die Zeit fehlt. Und ist sie dann doch einmal da, scheint sie einem zwischen den Fingern zu zerrinnen. Durch den technischen Fortschritt und die Digitalisierung ist die Beschleunigung zum Grundprinzip geworden. Einerseits entlasten uns Haushaltsgeräte, und das Flugzeug verkürzt die Reisezeit. Andererseits hinterlassen sie nicht das Gefühl, mehr Zeit zu haben, ganz im Gegenteil. Erinnern Sie sich noch an die grossen Ferien in der Kindheit? Damals waren diesen unvorstellbar lang.
Vor dem Einschlafen durch Montenegro reisen? Kein Problem. Virtuelle Zugreisen führen uns mit der Gebirgsbahn an die Adriaküste, unterwegs durchqueren sie insgesamt 102 Tunnel und 96 Brücken. Weitere Reisen finden sich hier.
Der Zeitsinn eines erwachsenen Menschens tickt immer schneller. Bis etwa zum Alter von sechzig Jahren, sagt die Forschung. Die gleichen Studien sagen aber auch, dass es ein Mittel gibt, die Zeit zu dehnen. Aufregende und neuartige Erlebnisse etwa. Wenn man etwas zum ersten Mal tut. Zeitforscher wie der Psychologe Marc Wittmann empfehlen deshalb, die eigenen Routinen zu brechen.
Es scheint uns oft, die Welt sei vermessen. Dabei lässt sich Bekanntes vor der Haustüre mit paar Tricks neu entdecken. Dazu passen die Mikroabenteuer. Ein Begriff, der stark vom Briten Alastair Humphreys geprägt wurde. Gemeint ist, unter den Sternen zu schlafen, über dem Feuer zu kochen, sich einen Fluss hinuntertreiben zu lassen oder einfach einer Autobahn oder Tramschiene entlangzulaufen.
Auch Humphreys war ein grosser Weltenbummler, ehe er begann, vom Glück zu berichten, dem Alltag im Alltag zu entfliehen. Auf sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram gibt es Gruppen wie die Abenteuerfrauen, in denen sich Menschen verabreden und versteckte Orte sowie Erlebnisse teilen. Sie fahren nach der Arbeit mit Velo, Schlafsack, Cervelats und Kaffeekanne auf einen Berg oder in den Wald. Dort machen sie ein Feuer und schlafen draussen. Am Morgen geht es nach dem Frühstück wieder zurück in die Stadt und zur Arbeit.
Im Gegensatz zum nahen Ausland ist hierzulande dank dem sogenannten «Jedermanns-Recht» das Biwakieren, also das Schlafen unter freiem Himmel, in vielen Kantonen erlaubt. In der Regel sogar mit einem kleinen Zelt. Ausnahmen sind private Grundstücke und Naturschutzzonen. Dabei keine Spuren und keinen Abfall zu hinterlassen, ist mehr als eine Ehrensache. Gegen einen Obolus stellen aber auch viele Bauern eine Wiese und Toiletten zur Verfügung.
Wer nun gerne anfangen möchte, aber noch nicht weiss wie, dem sei folgendes empfohlen. Man nehme einen Rucksack. Packe etwas Proviant ein. Und laufe los. In irgendeine Richtung, bis zum Sonnenuntergang. Wenn Sie nicht mehr können, dann nehmen Sie ein Taxi zurück, oder lassen sich von einer Freundin oder einem Freund abholen. Das Wichtigste dabei: Behandle das eigene Zuhause mit der Geisteshaltung eines Reisenden.
Regeln des Slow Travels
- Reise nicht nur, um anzukommen: «Wir sind besessen von Bequemlichkeit», stellt Kiran fest. Wir wollen auf die sicherste Weise durchs Leben kommen, ohne wirklich was zu erleben. Viel spannender ist es, wenn wir selbst erleben und beobachten, wie zwei Orte, sagen wir, Rheinfelden und Schaffhausen, miteinander verbunden werden, indem wir den Weg selbst kennenlernen – zum Beispiel auf dem Fahrrad.
- Bleib zu Hause: Werde Nomad*in und mach dich mit einem Rucksack auf. Erkunde die Orte, die direkt vor deiner Nase liegen. Welche Pflanzen wachsen am Wegesrand? Von wo aus hat man einen besonders schönen Blick? Wo finde ich einen geschützten Platz zum Schlafen für die Nacht?
- Sei dein eigener Reiseführer: Der erste Impuls, wenn man eine Reise plant, ist, sich einen Reiseführer zu besorgen. Doch dieser teilt die Welt in Gruppen und Untergruppen auf. Du besuchst anschliessend ein Liste von Orten, die jede*r Besucher*in «unbedingt gesehen haben muss». Vielleicht schaffst du nicht alles, dann fühlst du dich, als hättest du die Hausaufgaben nicht gemacht. Warum sich nicht von anderen Dingen leiten lassen? Etwa von einem Roman, der in der betreffenden Stadt spielt? Oder eine Münze werfen und den Zufall über den Weg entscheiden lassen?
- Heisse Katastrophen willkommen: Alles was uns im Leben begegnet, entsteht aus unseren mentalen Vorstellungen. Bildern, die wir lebenslang sammeln und die sich wie eine Collage überlappen. Sie erzeugen perfekte Vorstellungen davon, wie etwas sein sollte. Schaffen wir es, diese Bilder umzugestalten, dann macht uns das freier und unabhängiger, wenn Dinge nicht so klappten, wie wir uns das vorstellt haben.
- Folge deinem Instinkt: Das Unterbewusstsein ist so etwas wie unser Autopilot. Es sorgt mit zig Entscheidungen in jeder Millisekunde dafür, dass wir Laufen, Atmen oder Sprechen. Während das Bewusstsein nur dann zum Vorschein kommt, wenn «wir» die Kontrolle übernehmen. Etwa in einer Situation, die neu ist. Tun wir also Dinge, die wir weniger beherrschen, kommt unser «Ich» stärker zum Vorschein, was bei vielen auf Reisen zu dem Gefühl führt, «sich selbst zu finden».
- Verlier den Kopf: Ein Paradox des modernen Reisens ist, dass wir Exotisches und Neues aus einem möglichst bekannten Blickwinkel erleben wollen. Bring die Ordnung durcheinander: Folge einer scheinbar verrückten Eingebung ins Unbekannte. Mit einem Esel durchs Jura? Zu Fuss der A3 entlang? Mit dem Kanu alte Wasserwege erkunden? Durch die Konfrontation mit neuen Situationen können wir den Blick auf unser eigenes Leben neu bestimmen.
- Sei abenteuerlustig: Wir verwenden viel mehr Zeit darauf, uns darüber Gedanken zu machen, wie wir unsere Lebensdauer verlängern können, anstatt die Qualität dieses Lebens zu verbessern. Im Leben und beim Reisen geht es allerdings nicht um die Dauer von etwas, oder die zurück gelegte Entfernung, sondern darum, ob und wie man sich darauf einlässt.