«Anouchka. Ich werde ausgeschafft.»
Weil sie Sozialhilfe bezieht und Schulden hat, soll die Mutter von zwei Töchtern die Schweiz verlassen. Die Familie ist verzweifelt. Tochter Anouchka Gwen klagt in einem Video das Schweizer Asylsystem an.
Es ist der 25. Januar 2021, und Anouchka Gwen, damals 24 Jahre alt, ist gerade aufgewacht, als auf dem Display ihres Handys die Nachricht ihrer Mutter aufploppt:
Anouchka. Ich werde ausgeschafft.
«Das war natürlich ein Schock», erzählt Anouchka Gwen heute. Heute, das ist ein strahlender Morgen im März 2022. Heute ist etwas mehr als ein Jahr, nachdem ihre Mutter Mudza E. den Brief vom Amt für Migration und Bürgerrecht Baselland (AFMB) im Briefkasten findet.
Und heute ist es drei Tage her, nachdem sich das Video von Anouchka Gwen in den Sozialen Medien verbreitet hat wie ein Lauffeuer. Gwen steht in diesem Self-Made-Video vor der Wand in ihrem Zimmer und erzählt mit ruhiger Stimme, wie ihre Mutter ausgeschafft werden soll, weil sie Schulden hat. «Armut ist kein Verbrechen», sagt Gwen. Sie und ihre Mutter bräuchten jetzt Unterstützung. Öffentlichkeit.
Das Video wurde innerhalb weniger Tage zigtausendfach gesehen, kommentiert, geteilt. Der Account der SP Schweiz mit 27’200 Follower*innen verbreitete Gwens Geschichte und schrieb dazu: «Wer keinen Schweizer Pass besitzt und unverschuldet Sozialhilfe bezieht, kann derzeit selbst nach vielen Jahren aus der Schweiz weggewiesen werden.»
Das ist die Geschichte von Mudza E., Mutter von Anouchka Gwen.
Jahre ohne Papiere
Mudza E., reist Mitte der Neunziger Jahre in die Schweiz ein. Im Kongo (damals Zaire) tobt ab 1996 ein verworrener Bürgerkrieg, und die Gewalt treibt die Menschen millionenfach ins Exil. Mudza E. landet in der Schweiz. Sie verliebt sich in ihren zukünftigen Mann, der ebenfalls aus dem Kongo geflohen ist. 1997 kommt in Liestal Anouchka zur Welt, 1999 eine zweite Tochter.
Die Schwestern wachsen im Baselbiet auf. Der Vater hat Schulden, die Lebensbedingungen der jungen Familie sind von Beginn an prekär. Mehrere Anträge auf Bleiberecht werden abgewiesen, 2011 drängt das Migrationsamt Baselland zum ersten Mal auf eine Ausreise. Da ist Anouchka 14 Jahre alt, ihre Schwester 11.
«Die Anlaufstelle für Sans Papiers hat unseren Fall damals aufgegriffen», erinnert sich Gwen, «denen gelang es, die Augen der Öffentlichkeit auf unseren Fall zu lenken». Das Amt überdachte das Asylgesuch schliesslich nochmal. Die Familie durfte bleiben und erhielt nach jahrelangem juristischem Hin und Her die Aufenthaltsbewilligung B.
Anouchka Gwen sagt, sie wisse nicht mehr viel über diese Zeit. Sie habe die Tragweite der Ereignisse damals nicht ganz verstanden, und die Mutter habe wenig darüber gesprochen. «Scham spielte da eine grosse Rolle», sagt Gwen. Die Scham darüber, den eigenen Kindern keine Sicherheit geben zu können.
Die Kinder gehen erst in Pratteln, dann in Laufen zur Schule. 2015 trennen sich die Eltern. Anouchka macht eine Lehre zur Bibliothekarin, die Schwester eine Ausbildung zur Metallbaupraktikerin. Und die Mutter, jetzt alleinerziehend, jobbt mit Unterbrüchen als Putzfachfrau oder in einer Fabrik, die Bänder und Schleifen für Geschenke herstellt.
In der Wegweisungsverfügung vom Januar 2021 steht, die Mutter hätte sich hartnäckiger um Jobs mit höherem Pensum bemühen müssen. Sie wurde mehrfach «verwarnt», heisst es weiter, Bajour liegt die Verfügung über die «Wegweisung aus der Schweiz»vor. Der Anwalt von Mudza E., Alfred Ngoyi, sagt gegenüber Bajour: «Viele Arbeitgeber wollen eine Identitätskarte sehen. Die B-Bewilligung ist ein Papierausweis. Damit ist es nicht leicht, einen Job zu kriegen.»
Anouchka sagt, ihre Mutter sei sozial gut integriert. Sie habe Freund*innen, sie besuche die Kirche, feiere den 1. August und gehe an die Fasnacht. Gwen: «Du könntest meine Mutter hier auf der Strasse treffen und denken: Diese Frau strahlt. Sie hat bestimmt ein zufriedenes Leben.»
Aber offenbar reicht die soziale Integration nicht aus, um die wirtschaftliche auszugleichen – gemäss Amt für Migration und Bürgerrecht reicht das Einkommen von Mudza E. nicht aus.
Umstrittene «Integrationskontrolle»
Drei Faktoren werden der Mutter in der 17 Seiten umfassenden Verfügung insbesondere angelastet: Dass sie nicht genug Geld verdient. Dass sie Schulden hat. Und dass sie seit der Trennung von ihrem Mann 2015 Sozialhilfe bezieht. Es geht viel um Zahlen und Kosten in diesem Dokument – und, gestützt auf das Ausländer- und Integrationsgesetz, um die Feststellung, dass eine Niederlassungsbewilligung in der Schweiz widerrufen werden kann, «wenn die ausländische Person auf Sozialhilfe angewiesen ist».
Das verschärfte Ausländergesetz ist erst seit 2019 in Kraft, und die Artikel 62 und 63 sind politisch umstritten. Die Baselbieter SP-Nationalrätin Samira Marti hat 2020 einen Vorstoss dagegen eingereicht, den auch bürgerliche Politiker*innen unterzeichnet haben, darunter der Basler Alt-Nationalrat Christoph Eymann (LDP). Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats unterstützte das Anliegen. Die Ständeratskommission lehnte daraufhin den Vorstoss mit hauchdünner Mehrheit ab. Im Mai kommt das Geschäft erneut in die Kommission des Nationalrats.
Marti kritisiert, dass mit dem Artikel die Hürde für eine Ausschaffung zu niedrig angesetzt sei. Und dass «ausländische Menschen, die seit Jahrzehnten in der Schweiz leben, arbeiten und Steuern zahlen», die aber «aus irgendeinem Grund (Arbeitsplatzverlust, Unfall, Krankheit, Trennung vom Ehegatten, Pech) auf Sozialhilfe angewiesen sind», wegen Sozialhilfebezug aus der Schweiz weggewiesen werden. Der Gesetzesartikel habe zu einer repressiven «Integrationskontrolle» gegenüber Ausländer*innen geführt, schreibt Marti in ihrem Vorstoss unter dem Titel: «Armut ist kein Verbrechen».
Der Fall von M.E. ist ein Paradebeispiel für die Praxis, die Marti ändern möchte. In der Wegweisungsverfügung des Baselbieter Amts für Migration und Bürgerrecht steht: «Die Integration der Betroffenen kann aufgrund der Schuldenlast und des massiven Sozialhilfebezugs nicht als gelungen erachtet werden», steht dort. Zum Verständnis: Die Sozialhilfeleistung für die alleinerziehende Mudza E. beläuft sich sich nach fünf Jahren auf knapp Hunderttausend Franken. Das sind 1600 Franken pro Monat. Ihre Schulden beliefen sich laut der Verfügung auf rund 30’000 Franken.
Empfehlung des Amts: Telefonieren
Rechtfertigt dieser Betrag das Auseinanderreissen einer Familie, die seit 25 Jahren in der Schweiz lebt? Beide Töchter haben, so steht es im Dokument des AFMB, mehrfach zu Protokoll gegeben, die Mutter sei eine «tragende Säule» in ihrem Leben. Dass sie auf ihre Nähe angewiesen sind, als Familie. Nichtsdestotrotz kommt die die Behörde zum Schluss:
«Der Umstand, dass die Mutter eine Stütze für die Tochter ist und eine Trennung der beiden für die Tochter nicht einfach wäre, begründet noch keinen Anspruch aus Art. 8 EMRK.» Dieser Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention schützt das Recht auf Privatleben von Familien in Asylverfahren. Das Migrationsamt Baselland schreibt weiter: «Ferner kann die Betroffene (die Mutter, Anm. d. Red.) auch von der Demokratischen Republik Kongo aus mittels Telefongesprächen der Tochter Anweisungen, Halt und Orientierung geben.»
«Wie stellen die sich das vor, dass eine Familie einfach am Telefon weiterfunktioniert?»Anouchka Gwen
Anouchka Gwen liest diesen Abschnitt aus der Wegweisungsverfügung laut vor, als müsste sie sich der Worte nochmal versichern, die sie da liest. «Halt und Orientierung aus dem Kongo. Wie stellen die sich das vor, dass eine Familie einfach am Telefon weiterfunktioniert?»
Gwen sitzt unter der gleissenden Märzsonne am Tisch eines Cafés mitten im Kleinbasel. Aus ihrer Sicht soll ihre Mutter abgeschoben werden, weil sie arm ist. Sie sagt: «Es ist ja nicht so, dass meine Mutter eine Mörderin wäre. Sie hat niemandem etwas zu Leide getan». Dann beugt sich Gwen noch einmal über die Abschiebungsverfügung und liest laut einen Satz vor, der sie von allen Sätzen in diesem «kalten Brief» am fassungslosesten macht:
«Das öffentliche Interesse an einer Wegweisung von Mudza E. ist erheblich, hat sie doch mit ihrer Schuldenlast gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung verstossen und aufgrund ihrer Sozialhilfeabhängigkeit die öffentliche Hand stark belastet.»
Das Amt für Migration und Bürgerrecht Baselland schreibt auf Anfrage, man könne sich zum konkreten Fall nicht äussern, da dieser nicht rechtskräftig abgeschlossen sei.
Das Bundesgericht muss entscheiden
Jetzt starrt Anouchka Gwen einige Augenblicke auf die Wand des Cafés und sagt gar nichts mehr. Sie habe sich das lang überlegt, erzählt sie dann, ob sie dieses Video machen soll, in dem sie diese Geschichte öffentlich macht. Sie hat sich dafür entschieden. «Alles, was ich habe, ist eine Plattform. Ich kann meine Mutter nicht mehr alleine unterstützen. Jetzt ist der Moment, wo ich Hilfe brauche.»
Der Baselbieter Regierungsrat hat Mudza E.s Einsprache gegen die Wegweisung abgelehnt. Auch das Verwaltungsgericht Baselland lehnte die Einsprache Im Dezember 2021 ab. Jetzt liegt der Fall beim Bundesgericht.
Mudzas Anwalt rechnet sich Chancen aus. «Meine Mandantin ist heute 55 Jahre alt, sie hat seit Oktober eine neue Teilzeitstelle. Ihre Prognose auf Unabhängigkeit von der Sozialhilfe ist dank dieser Stelle gut. Die Richter müssen das berücksichtigen», sagt Alfred Ngoyi.
Anouchka Gwen denkt an weitere Mittel. Eine Petition. Eine Demo. Sie will kämpfen.
Verschmelzen von Kunst und Realität
Dabei wäre gerade jetzt eine glücklichere Zeit möglich gewesen. Anouchka Gwen hat sich in den vergangenen Jahren einen Ruf als aufstrebendes Talent in der Schweizer Musikszene erarbeitet. Vergangene Woche spielte sie am M4Music-Festival in Zürich, am Samstagabend dann im Humbug. Gerade erschien ihr neues Album. «Utopia out NOW» steht aktuell in der Fusszeile ihrer Mails.
Und Gwen erzählt ganz am Ende dieses Gesprächs, wie sie Angst hatte, man werde ihr das Video über ihre Mutter schlimmstenfalls als PR-Nummer vorwerfen. Sie mache zwar durchaus politische Musik, in der es wie in Titelsong ihres Albums «Utopia» auch um Ausgrenzungserfahrungen und den Traum von einer besseren Welt gehe. Aber sie mache auch immer wieder die Erkenntnis, dass dieses Thema – Diskriminierung und Ausgrenzung – von aussen einfach als Teil der Show aufgefasst werde. Als Ausdruck politischer Ästhetik.
«Aber das ist es nicht», sagt Anouchka Gwen zum Schluss, der Fall meiner Mutter zeigt das. «Es geht nicht um Ästhetik. Dieser Shit ist real.»