«Was ist, wenn meine Eltern keinen Job mehr haben?»
Kinder und Jugendliche können stark unter den Auswirkungen der Pandemie leiden. Im ersten Shutdown kam es vermehrt zu Isolation, Gewalt, Aggression und Kontaktabbruch. Die Leiterin der Schulsozialarbeit Lotti Lienhard warnt nun: «Die Schulen zu schliessen, soll der Weisheit letzter Schluss sein.»
Obwohl die Rolle von Kindern und Jugendlichen bei der Verbreitung des Coronavirus noch nicht vollends geklärkt ist, wird momentan intensiv debattiert: Sollen die Schulen erneut geschlossen werden, um die Pandemie einzudämmen? Bildungsverantwortliche sind mehrheitlich dagegen: Die negativen Folgen auf die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen sowie auf deren Schulleistungen wären zu gross. Darunter auch die Leiterin der Schulsozialarbeit Lotti Lienhard, die im Interview über die Lage in Basel spricht.
Lotti Lienhard, wie geht es den Basler Kindern und Jugendlichen momentan?
Viele Kinder und Jugendliche kommen ganz gut zurecht. Besonders dort, wo die Verhältnisse zuhause stimmen, wo die Eltern momentan mehr Zeit für ihre Kinder haben, dort, wo die Nähe kein Problem ist, rücken die Familien zusammen. Diese Kinder und Jugendlichen melden uns zurück, dass es ihnen gut geht, dass sie während des ersten Shutdowns gut zuhause lernen konnten und die Situation gut ertragen.
Das sind aber nicht alle.
Nein. Manche leiden stark. In Familien, in welchen schon vorher schwierige Situationen gemeistert werden mussten, können die Auswirkungen der Pandemie verhängnisvoll sein.
Aus dem privilegierten Homeoffice heraus ist das vielleicht schwer zu fassen. Wie müssen wir uns die Lage vorstellen?
Für manche Eltern sind Existenzängste stark in den Vordergrund gerückt. Manche bangen um den Job, machen sich grosse Sorgen um die Zukunft, um ihre Gesundheit, manche können nicht im Homeoffice arbeiten. Die Kinder bekommen alles mit.
Wie?
Kinder wissen, wie ihre Eltern normalerweise ticken und spüren die Veränderung in der Stimmung, auch wenn sie nur sehr diffus passiert. Und das kann sehr belastend sein. Es gibt Kinder, die Angst haben, für ihre Eltern und Grosseltern ansteckend zu sein. Andere fragen sich: «Was ist, wenn meine Eltern keinen Job mehr haben?» Das Fehlen von Freizeitangeboten und von sozialen Kontakten kann ebenfalls negative Folgen haben. Die Reaktionen sind dabei sehr unterschiedlich: Es gibt betroffene Kinder, die sich isolieren, andere werden aggressiv, reagieren mit übermässigem Online-Konsum, depressiven Verstimmungen und auch Suizidgedanken.
Lotti Lienhard leitet die Schulsozialarbeit. An allen Schulstandorten in Basel gibt es Schulsozialarbeiter*innen, die im Schulhaus ihr Büro haben. An diese Personen können sich Kinder und Jugendliche ohne Voranmeldung und niederschwellig wenden, wenn sie privat oder in der Schule Konflikte haben.
Laut Fachpersonen gab es während des ersten Shutdowns mehr häusliche Gewalt. Mussten das «Ihre» Basler Kinder auch erleben?
Häusliche Gewalt findet – wie es die Bezeichnung schon festhält – eher im Verborgenen statt. Aussagen darüber, ob diese zugenommen hat, sind schwierig. In Beratungen thematisieren Kinder, Jugendliche, Eltern und Erziehungsberechtigte familiäre Situationen, dazu gehören auch familiäre und ausserfamiliäre Gewalterfahrungen: Paargewalt, Gewalt gegen Kinder, unter Geschwistern und in wenigen Fällen auch Gewalt von Kindern und Jugendlichen gegen Eltern. Häusliche Gewalt ist leider eine Tatsache, nicht nur während einer Pandemie. Mit Langzeiteffekten ist jedoch zu rechnen – darauf sollten Beratungsstellen vorbereitet sein.
Was tun Sie in solchen Situationen?
Häusliche Gewalt ist mit den Beteiligten aufzugreifen und zu thematisieren. Dabei gilt es, Kinder und Jugendliche auf keinen Fall im Unklaren zu lassen, wer was tut. Sie sind zwingend über eingeleitete Schritte zu informieren. Wir schätzen jeweils den Schutzbedarf der Betroffenen ein und handeln dementsprechend.
Wie handeln Sie?
Wir analysieren genau, welche Art von Unterstützung nötig ist und wer diese leisten kann. Der Onlinemedien-Konsum etwa: Grundsätzlich kann das eine normale Bewältigungsstrategie sein. Wir alle konsumieren momentan mehr Internetangebote, Serien, Fernsehen. Wann wird es jedoch zur Sucht? Das Netzwerk in und um die Schulen herum spielt beim Lösungsansatz eine grosse Rolle. Lehrpersonen, die Schulsozialarbeit, die Anlaufstellen im Netzwerk Kinderschutz und anderen Fachstellen und nicht zuletzt die Eltern müssen zusammenarbeiten und tun das auch.
Die Kinder- und Jugendpsychiatrischen Institutionen schlagen im ganzen Land Alarm. Im Baselbiet waren im Dezember die Stationen an der Kapazitätsgrenze und nehmen nur noch Kinder auf, die Suizid begehen wollen. Wie steht es um das Angebot in Basel-Stadt?
Die Lage ist angespannt. Betreuungsplätze sind rar und Notfallsituationen nehmen zu. Darum ist es umso bedeutsamer, als erstes die Lage zu stabilisieren. Da kommen wir von der Schulsozialarbeit ins Spiel. Wir sind Ansprechpartner*innen, beraten und koordinieren, damit den Kindern und Jugendlichen rasch geholfen werden kann.
Was hat man aus dem ersten Shutdown gelernt? «Am allermeisten: Wie wichtig die Volksschule ist.»
Wie hat die Pandemie Ihre Arbeitsweise verändert?
Beratung lebt grundsätzlich von persönlichem Kontakt. Wie überall erlebten auch wir einen Digitalisierungsschub, die Gespräche liefen im ersten Shutdown online oder telefonisch. Damit haben wir gute Erfahrungen gemacht.
Gab es Kinder und Jugendlichen, die Sie und Ihre Kolleg*innen schlicht nicht mehr erreicht haben?
Ja, solche Fälle gab es.
Wie gingen Sie damit um?
Wir haben laufend versucht, niederschwellig Kontakt zu halten oder herzustellen. Textnachrichten haben sich bewährt, und wenn es nicht anders ging, wurde besprochen, wer aus dem System einfach einmal vor der Haustüre steht.
Welche Gründe steckten hinter dem Kontaktabbruch?
Als die Schulen geschlossen wurden, gab es Familien, in welchen das Unterrichten und Lernen zu Hause nicht funktioniert hat. Fehlendes Interesse oder auch nur blosse Überforderung führten zum sogenannten Absentismus, also dazu, dass sich die Kinder nicht beteiligten und nicht erreichbar waren. Aber auch im Allgemeinen gab es Schwierigkeiten. In einer fünfköpfigen Familie haben nicht alle einen Laptop und ein ruhiges Zimmer, um zu arbeiten und zu lernen. Die fehlende Infrastruktur war doch ein grösseres Problem, und dies habe ich auch von sehr bildungsnahen Familien gehört.
Was hat man aus dem ersten Shutdown gelernt?
An allermeisten? Wie wichtig die Volksschule ist. Und dass Fernunterricht möglich ist aber Präsenzunterricht nicht gänzlich ersetzen kann.
«Die Schulen zu schliessen, soll meiner Meinung nach der Weisheit letzter Schluss sein.»
Die Schulen bleiben vorläufig offen, wie nun der Bund bekannt gegeben hat. Zumindest auf Primar- und Sekundarstufe I. Beide Basel seien für diesen Schritt bereit, hiess es seitens der jeweiligen Regierungsmitglieder. Wie stehen Sie dazu?
Die Schulen zu schliessen, soll meiner Meinung nach der Weisheit letzter Schluss sein. Und das ist auch die einhellige Meinung nicht nur bei Bildungsverantwortlichen.
Wird Ihre Dienststelle demnach von der Politik genügend unterstützt?
Ja. Die Verantwortlichen sind sich der Situation bewusst und ich stelle auch fest, dass die Gesellschaft einen neuen Blick auf die Schule hat. Man nimmt stärker wahr, dass sie nicht nur eine Bildungsinstitution ist, sondern auch eine erhebliche soziale Funktion hat.
Haben Sie genügend Ressourcen, um die Beratung sicherzustellen?
Jede Dienststelle, die mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, wünschte sich, es würden mehr Ressourcen zur Verfügung stehen. Ob das realistisch ist, ist eine andere Frage.
Auch jetzt in der Krise?
Ja, auch jetzt. Die Pandemie bedeutet für viele einen zusätzlichen Aufwand. Temporäre Lösungen müssen angedacht und umgesetzt werden. Ich bin zuversichtlich, dass uns vieles gelingt.
Heisst das, dass auch die Kinder aus dem Klybeck oder Kleinbasel im Bewusstsein von Behörden und Politik sind, dass man auch an sie denkt, wenn man Entscheidungen trifft?
Ja, das ist so. Die Sensibilität für besonders gefährdete soziale Schichten und Menschen ist da. Die Auswirkungen der Pandemie können aber auch Familien, die bisher über genügend Ressourcen verfügt haben, hart treffen.
Und wenn man nicht um die Schulschliessung herum kommen sollte, was dann?
Dann ist eine Güterabwägung nötig. Damit meine ich beispielsweise, dass der Kanton nicht nur für Kinder von Eltern in systemrelevanten Berufen eine Betreuung einrichten soll, sondern auch für Familien in Notsituationen. Und gleichzeitig für den Gesundheitsschutz der Fach- und Lehrpersonen sorgen soll.
«Die Pubertät ist eine emotional beanspruchende Zeit. die Jugendlichen lernen, wer sie sind.»
Wäre die Schliessung der Gymnasien und Oberstufen für Sie eher vertretbar?
Je älter die Kinder und Jugendlichen, desto eher ist es möglich, auf Fernunterricht umzustellen, dieser Meinung bin ich wie viele Lehrpersonen und Bildungsverantwortliche auch. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, dass auch Jugendliche sich grossen Herausforderungen stellen müssen.
Welchen?
Die Pubertät ist eine emotional beanspruchende Zeit, die Jugendlichen müssen sich vielen sogenannten Entwicklungsaufgaben stellen. Sie lernen, wer sie sind. Sie treffen Entscheidungen bezüglich der Berufswahl, sie müssen viel leisten, sie verlieben sich zum ersten Mal. Manche erleben nun durch die Pandemie bedingt, wie standhaft sie sein können und wachsen über sich hinaus. Aber es gibt auch welche, die unter dieser Last zu zerbrechen drohen. Die Schule und die Struktur, die sie bietet, ist in manchen Fällen entscheidend. Und das dürfen wir nicht ausblenden.
Wenn alles ausgestanden sein wird, was passiert dann mit den Kindern und Jugendlichen?
Dann wird die Rückkehr zur Normalität die Herausforderung sein. Und dies wird uns noch eine Weile begleiten. Die Langzeitfolgen dieser Ausnahmesituation können wir noch nicht abschätzen. Darum müssen wir jetzt dafür sorgen, dass niemand vergessen geht.