Weniger Betten und alles ist gut? «Idiotisch!»

Das wahre Problem im Basler Gesundheitssystem sei nicht Corona, sondern die vielen Spitäler, sagte Ökonom Stefan Felder gegenüber Bajour. Wie sehen das die Pfleger*innen? Daniel Simon vom Berufsverband nimmt Stellung.

Daniel Simon
Daniel Simon, Präsident vom SBK für Basel-Stadt und Baselland, kritisiert die Aussagen von Ökonom Stefan Felder scharf. (Bild: ZVG)

Die Aussagen des Gesundheitsökonomen Stefan Felder im Bajour-Artikel «Corona kann nix dafür» haben zum Teil grosse Kritik bei unseren Leser*innen ausgelöst. Einige seiner Aussagen sind durchaus streitbar, deshalb wollten wir wissen, was Pfleger*innen dazu sagen. Daniel Simon, der Präsident vom Pflegeverband SBK für Basel-Stadt und Baselland, hat unsere Fragen beantwortet.

Letzte Woche demonstrierten Pfleger*innen wieder am «Walk of Care» in Basel. Was sind Ihre Kritikpunkte und Forderungen?

Daniel Simon: Es gibt zu wenig Personal national und regional, die Stellen sind zu knapp geplant, ausser Applaus gibt es kaum Wertschätzung. Die Politik muss handeln.

Gewisse Berufgsruppen im Unispital haben mehr Lohn bekommen, das Kantonsspital Baselland hat Prämien gesprochen. Reicht das nicht?

Ausser einer Spitex-Organisation und eines Spitals wurden in der Region keine Boni gesprochen. Ein Kugelschreiber als Dankeschön kann es ja nicht sein.

Gemäss unseren Infos hat das Unispital Lohnerhöhungen und das Kantonsspital BL Prämien gesprochen.

Das KSBL hat eine einmalige Prämie gesprochen für das Pflegepersonal, welches auf Covid-Stationen im Einsatz war. Es war auch das einzige Spital in der Nordwestschweiz, welches die 12-Stunden-Schichten umsetzte. Beim Unispital Basel gab es Lohnanpassungen beim Intensivpflegepersonal und im Notfallbereich, aber wegen generellem Mangel an Fachpersonal.

Wie wirkt sich die zweite Welle auf die Arbeitsbedingungen des Personals aus?

Das Personal konnte sich über den Sommer nicht erholen. Der Druck durch nachzuholende Operationen zum Beispiel ist sehr hoch. Das Personal ist zu Beginn der zweiten Welle müde und nicht bereit zusätzlichen Effort zu leisten.

«Die Politik findet nur freundliche Worte.»
Daniel Simon, Pflegeverband

Wie sieht die Situation im Vergleich zur ersten Welle im Frühling aus?

Das Pflegepersonal hat die erste Welle mit viel zusätzlichem Einsatz getragen, dies sieht nun anders aus. Die Politik hat nur freundliche Worte gefunden. Das ist zu wenig!

Wie geht es den Pfleger*innen aktuell in den Spitälern in der Region?

Es herrscht hohe Anspannung wegen der vielen offenen Fragen. Reichen die Betten? Wie kann zusätzliches Personal rekrutiert werden? Woher? Reicht die eigene Power für Monate?

Wie sieht ein typischer Arbeitstag der Pfleger*innen aktuell aus?

Das ist sehr unterschiedlich. Aktuell werden einige Abteilungen zu Covid-Stationen umfunktioniert. Dort arbeiten die Pfleger*innen über gut 8 Stunden in Schutzanzügen. Dazu kommt das dauernde Risiko einer möglichen Ansteckung.

Wir wollen andere Meinungen hören.

Gesundheitsökonom Stefan Felder sagte gegenüber Bajour, dass Corona die Situation des Basler Gesundheitssystems nicht gross verschlechtert habe. Das Hauptproblem sei vielmehr, dass die Spitäler eine zu hohe Bettenkapazität hätten. Was ist Ihre Einschätzung?

Ja, das sagen die Ökonomen gerne. Ohne diese Bettenzahl wären einige Spitäler bereits bei der ersten Welle Richtung Engpass gekommen. Betten und Spitäler können hier nicht – wie in China – innert einer Woche aufgestellt werden. Und das Personal kann auch nicht von irgendwo abgezogen werden.

Ökonom Felder führt auch den Pflegenotstand auf die zu hohe Bettenkapazität zurück. Er sagt: «Wenn man die Spitäler abbauen würde, bräuchte man auch weniger Pflegefachkräfte.» Was sagen Sie dazu?

Das ist idiotisch! Da besteht keine Ahnung vom effektiven Betrieb. Sind Betten nicht ausgelastet, wird das Personal sofort auf andere Abteilungen verschoben oder umgeplant. Aktuell fehlen in der Schweiz circa 20'000 Pflegende. Und dies primär in den Heimen. Also auch hier ist diese Aussage meines Erachtens einfach plakativ und falsch. Einige Stationen in Spitälern werden bereits unter anderem wegen Personalmangel nicht betrieben.

«Machen Deutschland oder Frankreich die Grenzen zu, haben wir einen massiven Notstand.»

Wie ist die Situation im Spital im Vergleich zu Pflegeheimen? Ökonom Felder kritisiert, dass in der Langzeitpflege seit 2011 die Vergütungen durch Krankenkassen und Beiträge der Pflegebedürftigen nicht gestiegen seien.

Die Langzeitpflege leidet am meisten unter zu wenig Personal. Junges Pflegepersonal zieht es immer noch primär in die Spitäler. Dem Langzeitbereich fehlt vor allem Fachkräfte. Dies wirkt sich auf die Qualität natürlich negativ aus.

Felder sagte, eine Reduktion der stationären Kapazitäten wäre möglich, ohne dass es zulasten der medizinischen Versorgung ginge. Glauben Sie, das ist möglich?

Nein, das glaube ich nicht. Aktuell werden keine halbleeren Abteilungen betrieben. Das kann sich ein Spital gar nicht leisten. Eine Bettenbelegung von über 100 Prozent heisst wieder Wartezeiten für die Patienten. Dies will die Bevölkerung nicht. Weniger Betten heisst auch Warten auf eine reguläre Operation. In Deutschland sind das beispielsweise sechs bis neun Monate. Dies ist für mich ein Qualitätsabbau im Gesundheitswesen.

Haben wir aktuell einen Pflegenotstand in Basels Spitälern?

Das Wort Notstand wird natürlich unterschiedlich definiert. Ich bin der Meinung: ja. Es fehlen auch in unserer Region circa 2000 Pflegefachpersonen. Vor allem im Langzeitbereich und beim Pflegefachpersonal. Zudem sind wir zu circa 40 Prozent (teilweise zu 50 Prozent) vom Ausland abhängig. Machen Deutschland oder Frankreich die Grenzen zu, werden wir innert 24 Stunden einen massiven Notstand haben, den wir nicht ausgleichen können.

Welche Schritte müssten Kantone und Bund gegen Pflegenotstand ergreifen?

Der Bund muss sicher den indirekten Gegenvorschlag* des Nationalrats annehmen und umsetzen. Weiter muss er die Ausfälle der Spitäler wegen OP-Absagen mit den Kantonen zusammen ausgleichen. Die Kantone müssen zusätzlich alle Bereitschaftsleistungen der Spitäler zu 100 Prozent abgelten.

*Anm. d. Red.: Der indirekte Gegenvorschlag des Nationalrats zur Pflegeinitiative sieht vor, mit einer Ausbildungsoffensive den Mangel an Pflegefachpersonal zu mildern und die Attraktivität des Pflegeberufs mit zusätzlichen Kompetenzen zu steigern.

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