Ein junger Mann namens Abdul
Während in den Kirchen an Heiligabend Gastfreundschaft gepredigt wird, stellt sich in unserem Alltag die Frage, was wir tun, wenn ein Geflüchteter tatsächlich vor unserer Haustür steht?
Heute ist Heiligabend. In den christlichen Kirchen wird auch hierzulande die Weihnachtsgeschichte erzählt: Maria und Josef, unterwegs, fremd, auf sich gestellt. Sie finden keine Herberge, obwohl Maria hochschwanger ist. Erst ganz am Rand, im Stall, wird ihnen ein Platz zugestanden. Gott sei Dank, heisst es dann oft, ein Wirt habe sich erbarmt. Gastfreundschaft wird in dieser Erzählung zum Prüfstein: Menschenwürde, Solidarität, Mitgefühl – gerade gegenüber jenen, die unterwegs sind, entwurzelt, verletzlich.
Doch gilt diese gepredigte Gastfreundschaft auch dann, wenn ein Geflüchteter tatsächlich vor unserer Haustür steht?
Ein junger Mann mit dunklem Haar und leichtem Gepäck. Wir nennen ihn Abdul. Es ist ein heisser Sommertag im verschlafenen Hagenthal-le-Haut, einem französischen Dorf nahe der Schweizer Grenze.
Internet, er brauche Internet
Abdul läuft unten an der Auffahrt auf und ab, das Handy fest in der Hand. Ich sitze mit meiner damals vierjährigen Tochter auf der regenbogenbunten Bank vor dem Haus und esse Spaghetti. Eine Weile beobachte ich ihn durch die Hecke, dann rufe ich auf Französisch, ob ich helfen könne. Er antwortet auf Englisch: kein Französisch. Internet, sagt er. Er brauche Internet.
Wer darf ein Dach über dem Kopf haben? Wer nicht? Wem darf ich helfen und wie viel?
Ich bitte ihn, näher zu kommen, biete ihm einen Stuhl an, richte einen Hotspot ein. Er ruft jemanden an. Spricht eine Sprache, die ich nicht verstehe, eine Sprache aus dem fernen Osten. Am anderen Ende meldet sich jemand, der Französisch spricht. Abdul müsse nach Montpellier. Ob ich ihn zum nächsten Bahnhof fahren würde, frage ich mich. Es ist Sonntag, hier fährt kein Bus. Ich denke an mein Kind auf der Rückbank, daran, dass ich diesen Mann erst seit einer Stunde kenne.
Wo enden meine Möglichkeiten? Was sind die Grenzen meiner Hilfsbereitschaft?
Ich muss überlegen. Er könne solange hier bleiben, sage ich. Wir verständigen uns mit Händen, Füssen, einer Übersetzungsapp. Ob er etwas trinken oder essen wolle? Nein, sagt er höflich. Welche Sprache er spreche? Unter anderem Persisch. Ich rufe eine iranische Freundin an, sie schaltet sich per Facetime dazu. Als sie ihn mit einem warmen «Salâm» begrüsst, leuchten seine Augen auf – hell wie die Kerzen in der Kirche an Heiligabend.
«Salâm», sagt auch er. Und erzählt von einem zweitägigen Fussmarsch: von Zürich nach Hagenthal-le-Haut. Knapp hundert Kilometer. Fast so weit wie von Nazareth nach Bethlehem, jene Strecke, die Maria und Josef zurücklegten, ohne zu wissen, wo sie ankommen würden.
Dann wird die Stimme meiner Freundin ernst. Abdul sei wohl untergetaucht, weil man ihn habe ausschaffen wollen. Ich müsse aufpassen, mit meiner Hilfe könne ich mich strafbar machen. Wahrscheinlich komme er aus Afghanistan, sein Persisch sei kein iranisches. Die Vermutung passt: Die Schweiz geht bei Asylgesuchen von Menschen aus Afghanistan besonders restriktiv vor.
Die Gastfreundschaft, von der wir predigen, wird somit unweigerlich auch zur politischen Frage: Wer darf ein Dach über dem Kopf haben? Wer nicht? Wem darf ich helfen und wie viel?
Dass Abdul auf der Flucht ist, überrascht mich nicht. Ich hatte diesen Gedanken von Anfang an, als ich ihn unten an der Strasse stehen sah: verloren, wachsam, jemand, der gelernt hat, sich durchzuschlagen. Ist es illegal, in dieser Situation zu helfen? Doch wie könnte es verboten sein, einem Menschen in Not beizustehen?
Das Staatssekretariat für Migration schreibt, das Erleichtern eines illegalen Aufenthalts könne einen Straftatbestand darstellen. Gleichzeitig sei es in der Praxis schwierig, genau zu bestimmen, welches Verhalten strafbar sei – und welches gerade noch erlaubt.
Und wie war das nochmals mit der Bibel?
Handynummer für den Notfall
Ich stelle Abdul einen Liegestuhl in den Garten. Meine Tochter bringt ihm eine Fanta, die er dankend annimmt. Kurz darauf schläft er ein. Als er erwacht, frage ich, ob er duschen wolle. Seine Dankbarkeit ist beinahe körperlich spürbar, vermischt mit Ungläubigkeit. Ich lege ein Tuch bereit, er verschwindet im Haus. Ich warte draussen.
«Du hast mehr für ihn getan, als er je hätte hoffen können.»Freundin
Mit jeder Stunde wächst unser kleines Unterstützer*innengrüppli. Eine Freundin, im Asylbereich tätig, rät, ihm Bargeld mitzugeben, statt ein Ticket zu kaufen – so bleibe er flexibel. Als ich Abdul fünfzig Euro in die Hand drücke und erkläre, dass er in Mulhouse auf den Flixbus umsteigen müsse, schüttelt er ungläubig den Kopf. Eine Träne läuft über seine Wange. Kurz darauf auch über meine.
Es ist dieses seltsame Gefühl: Helfen als Selbstverständlichkeit – und gleichzeitig zu wissen, dass es genau das nicht ist. Ohne mich unnötig rühmen zu wollen, denke ich, dass Abdul Glück hatte, an dieser Tür zu landen. Das Elsass gilt nicht gerade als Hochburg politischer Offenheit.
Hätten andere die Polizei gerufen?
Ein Bekannter fährt mit seinem Volvo vor und bringt Abdul nach St. Louis zum Bahnhof. Wir umarmen uns. All the best. Auf der Fahrt erzählt Abdul, dass er dieselbe Strasse noch am Morgen zu Fuss hochgegangen sei. Am Gleis erinnert mein Bekannter ihn eindringlich: Change in Mulhouse! Zum Abschied drückt er ihm seine Handynummer in die Hand. Für den Notfall.
Auf Wiedersehen?
Wir haben nie wieder von Abdul gehört. Meine Nachbarinnen, die alles vom Fenster aus beobachtet hatten, meinten später, in Mulhouse werde man ihm das Geld wohl abnehmen. Oder die Polizei greife ihn auf. Selbst, wenn Frankreich weniger restriktiv sei: Wahrscheinlich würde er in die Schweiz zurückgeschickt.
In dieser Nacht liege ich wach und frage mich, warum ich ihn nicht ein paar Tage habe bleiben lassen. Das Gästezimmer war frei. Anders als die Herbergen in Bethlehem, hätte ich Platz gehabt. Wir hätten ihn direkt nach Mulhouse bringen können, ihn in den Zug setzen, sicher. Warum haben wir ihn weiterziehen lassen?
Am Nachmittag seiner Ankunft wirkte die Welt harmlos. Als es dunkel wurde, schienen Gefahren überall zu lauern. In dieser Dunkelheit schreibt mir meine Freundin: «Du hast mehr für ihn getan, als er je hätte hoffen können.»
Abdul war auf der Flucht. So wie Jesus, der kurz nach seiner Geburt mit seiner Familie vor politischer Gewalt fliehen musste. Jesus wurde ein Geflüchteter.
Abdul auch.