What the fish?!
Es gibt nur eine Möglichkeit, den Ozean zu retten, behauptet der Netflix-Film «Seaspiracy»: Wir müssen aufhören, Fisch zu essen. Echt? Die Basler Firma Tide Ocean hat gute Neuigkeiten für dich.
«Seaspiracy» ist gerade in aller Munde. Der britische Dokumentarfilm ist derzeit einer der meistgestreamten Titel auf Netflix, auch in der Schweiz befindet er sich in diesem Ranking in der Top Ten. Kein Wunder, bei diesem brisanten Inhalt:
Der britische Filmemacher Ali Tabrizi zeichnet in «Seaspiracy» nach, wie das Ökosystem der Weltmeere unter dem menschlichem Einfluss zusammenbricht. Und spürt dabei scheinbar eine globale Verschwörung auf.
Für den Meerliebhaber Ali beginnt alles damit, dass er Nachrichtenbilder von Walen sieht, die an der Südküste Englands verenden, mit bis zu 50 Kilogramm Plastikmüll in ihren Mägen. Er fängt an Plastikabfälle einzusammeln und Strandcafés zu bitten, ihr Plastikbesteck durch etwas Nachhaltigeres zu ersetzen. Doch das ist ihm bald nicht mehr genug.
«Entweder ich sammle den ganzen Tag Plastikflaschen ein, oder ich gehe der riskanten Spur nach, dass eine grössere Gefahr für den Ozean existiert», sagt Ali im Film. Und folgt der Fährte in die Fischfang-Industrie. Was er dort vorfindet, ist erschreckend: Firmen, die Nachhaltigkeitszertifikate fälschen; Menschen, die unter sklavenartigen Bedingungen zum illegalen Fischfang gezwungen werden; vom Aussterben bedrohte Meeresbewohner, die systematisch abgeschlachtet werden.
Ali kommt zum Schluss, dass es nur eine Lösung gibt, um den Ozean zu retten: «Stop eating fish!» Plastikabfälle einzusammeln, macht Ali klar, sei reine Zeitverschwendung. Und ein vermeintlicher Experte bekräftigt im Film: «Industrielles Fischen ist viel schädlicher als die Plastikverschmutzung.»
Die Lösung ist zu einfach
Wenig anfangen mit dieser Aussage kann Marc Krebs, Mitgründer und Sprecher von Tide Ocean SA. Die Basler Firma ist darauf spezialisiert, Meeresplastik zu verarbeiten. Krebs hat «Seaspiracy» gesehen und sagt: «Mich stört, dass der Film Plastikmüll und die Grossfischerei gegeneinander ausspielt.»
Anders als der Film behauptet, gebe es nicht eine simple Lösung, um das Ökosystem der Ozeane zu retten. «Denn selbst, wenn niemand mehr Fisch isst, gelangt trotzdem jedes Jahr acht Millionen Tonnen neuer Plastikabfall ins Meer», sagt Krebs.
150 Millionen Tonnen Plastik verschmutzen jetzt schon die Ozeane, die grösste Abfallmenge, der Great Pacific Garbage Patch, liegt mitten im Pazifik und ist drei Mal so gross wie Frankreich.
«Selbst wenn niemand mehr Fisch isst, gelangt trotzdem jedes Jahr acht Millionen Tonnen neuer Plastikabfall ins Meer»Marc Krebs, Mitgründer und Sprecher von Tide Ocean
«Seaspiracy» redet das Plastikproblem klein. Der Film behauptet, dass Fischernetze schädlicher sind und über die Hälfte des Ozeanmülls ausmachen. «Das stimmt so nicht», sagt Krebs, «da haben wir andere Zahlen.» Laut einer Studie der Umweltorganisation Greenpeace aus dem Jahr 2019 beträgt der Anteil Fischernetze an der Meeresverschmutzung lediglich zehn Prozent.
Natürlich seien Fischernetze auch Teil des Problems, so Krebs. «Schliesslich sind die meisten Netze tatsächlich aus Plastik, genauer: aus Nylon.» Doch das Grundproblem sei: «91 Prozent des Plastiks auf der Welt werden nicht recycled, das ist eine enorme Verschwendung.» In vielen Ländern gäbe es kein Abfallbewirtschaftungssystem und auch die Kreislaufswirtschaft werde kaum vorangetrieben.
Abfall erhält ein zweites Leben
Hier kommt Tide Ocean ins Spiel. Das Basler Start-Up sammelt, in Zusammenarbeit mit Organisationen vor Ort, Plastikabfälle aus dem Ozean und an den Küsten ein, zum Beispiel in Südostasien. «Wir schaffen finanzielle Anreize für die Menschen dort», sagt Krebs, «für ein Kilo eingesammelten Plastik erhalten sie nahezu gleich viel wie sie für ein Kilo Fisch erhalten würden.» Der Plastik wird vor Ort sortiert, gereinigt, zerkleinert und dann in die Schweiz gebracht.
So sammelt Tide Ocean Plastikmüll vor der Küste Thailands:
In der Schweiz werden diese Abfälle dann in Zusammenarbeit mit dem Institut für Werkstofftechnik und Kunststoffverarbeitung in Rapperswil granuliert und zu nachhaltigen Nutzobjekten wie Möbeln, Armbanduhren, Textilien und Bodenbelägen weiterverarbeitet. Upcycling sagt man dem.
Der von UV-Strahlung, Salzwasser und anderen Einflüssen verunreinigte Plastik wird dabei – und das ist der Unique Selling Point von Tide Ocean – durch mechanische Prozesse «auf seinen Ursprungszustand zurück gebracht», so Krebs. Das Ziel von Tide Ocean sei, das Schweizer Know-how zu exportieren und noch in diesem Jahr in Thailand zu granulieren.
So verarbeitet Tide Ocean Plastikmüll:
Tide Ocean wurde vor eineinhalb Jahren von Krebs und seinem Schwager Thomas Schori gegründet, mit dem Grundgedanken, Abfall einen Wert, ein zweites Leben zu geben. Das Projekt ist eine Herzensangelegenheit, Krebs hat für Tide Ocean einer 25-jährigen Karriere als Journalist den Rücken gekehrt.
Problem mal schnell exportiert
«Ich bin schon immer viel in Südostasien herumgereist, und dort ist das Abfallproblem am grössten», sagt Krebs. Das liege unter anderem daran, dass andere Länder ihren Müll dorthin exportierten. «Der Westen hat unzählige Schiffsladungen an Plastikmüll dorthin verkauft.» Eigentlich zur Entsorgung, aber es gab immer wieder Probleme wegen Korruption. «Der Müll landet dann nicht in einem sauberen Abfallbewirtschaftungssystem, sondern irgendwo auf einem Landfill – und am Schluss dann im Meer.»
Tide Ocean ist eine Tochtergesellschaft der Braloba AG, die in Lengnau bei Biel ansässig ist und Uhrenarmbänder herstellt. Braloba leistete die Anschubfinanzierung für Tide Ocean, das sich seither mit dem Verkauf des Granulats und Garns finanziert. Das stösst international auf Interesse.
Laut Krebs bearbeitet Tide Ocean derzeit 200 Anfragen, von einer japanischen Sneakermarke bis zu von einem bekannten amerikanischen Unternehmen im Silicon Valley. «Sie wollen den Kunststoff in ihren Produkten durch unseren ersetzen, auf Recyclingmaterial wechseln, um ihren ökologischen Fussabdruck zu reduzieren.»
Neu ist Tide Ocean auch an der afrikanischen Westküste aktiv. Dort wurden jüngst Nylonnetze in der Fischerei verboten, sie sollen durch organische Baumwollnetze ersetzt werden. Damit die alten Netze nicht einfach weggeworfen werden, baut Tide Ocean mit den Fischern zusammen eine Kreislaufwirtschaft auf. «Die Fischer erhalten Geld für ihre alten, defekten Netze, und wir machen daraus Garn für nachhaltigere und langlebigere Produkte.»
Gefährlicher eurozentrischer Blick
Es sind ebensolche kleinen Fischer, die der Netflixfilm «Seaspiracy» fast komplett ausser Acht lässt. Tide Ocean arbeitet vor der Küste Thailands auch mit den Moken zusammen, einem Volk von Seenomaden. «Es ist aus westlicher Sicht einfach zu sagen: Komm, wir verzichten auf Fisch. Aber wer wie ich die Moken besucht, dem wird klar: Sie sind auf die Fischerei angewiesen, sie haben gar nichts anderes.» Der eurozentristische Blick des Films sei einseitig, findet Krebs.
Und das sei schade. Denn dass «Seaspiracy» bei abermillionen Netflixabonnent*innen den Ozean und all seine Probleme wieder ins Bewusstsein rufe, sei an sich gut. «Aber er blendet zu viel aus und wird am Schluss zu einem Propaganda-Film: Verzichtet alle auf Fisch, das ist die Lösung.»
Eine gefährliche Botschaft, findet Krebs, denn sie verfälsche die Realität: «Es gibt nicht eine Lösung, sondern mehrere, und wir müssen über jede einzelne nachdenken.»