Wie werde ich Vogel Gryff?
Unser Bajour-Neokleinbasler David Rutschmann ist erst grad hierhergezogen. Als Integrationsmassnahme wollte er als erstes in die 3E einsteigen. Wie geht das? Stefan Ospel weiss es, musste unseren David aber noch über so einiges aufklären.
Stefan Ospel, ich wollte eigentlich umziehen am Freitag. Aber dann hat man mir gesagt, dass die Strassen im Kleinbasel gesperrt sein werden. Was ist da los?
Am Freitag ist Vogel-Gryff-Tag, da tanzen die drei Ehrenzeichen Leu, Wilde Maa und Vogel Gryff durchs Kleinbasel, begleitet von einem Tross an Zuschauern.
Was ist ein Vogel Gryff? Warum findet das statt?
Vogel Gryff ist das älteste Brauchtum der Schweiz, das heute noch gelebt wird.
Wow, das Älteste?
Das hat im Mittelalter, im 14. Jahrhundert, angefangen. Das Kleinbasel war damals eine eigenständige Stadt. Es brauchte Organisationen, die sich um die Ordnung und Sicherheit in der Stadt kümmern: Stadtmauer bewachen, Brände löschen.
Gehörte das Kleinbasel nicht zum Grossbasel?
Nein, ursprünglich nicht: Das Kleinbasel entwickelte sich aus altem keltischen und römischen Siedlungsgebiet über die Dörfer Nieder-und Oberbasel zu einer eigenständigen Stadt, die vor allem seit dem Bau der Mittleren Brücke 1225 mit (Gross-)Basel enge Beziehungen pflegte. Zum Zusammenschluss der beiden Städte kam es in den Wirren um Vorherrschaft zwischen den Bürgern der Stadt, dem Fürstbischof und den Habsburgern, als die Pfandrechte über Kleinbasel 1392 für 29’800 Gulden an die Bürger von (Gross-)Basel verkauft wurden.
Stefan Ospel (64) ist seit 1984 Mitglied in der Ehrengesellschaft Zum Greifen. 2009 wurde er Vorgesetzter, 2014 Statthalter. Schon sein Vater war Mitglied bei der Gesellschaft Zum Greifen. Stefan Ospels Familienwappen, mit dem jeder Vorgesetzte seit jeher im Wappenbuch der Drei E. verewigt wird, zeigt drei Hämmer und eine rote Welle. Unter seinen Vorfahren seien Steinmetze gewesen und er selbst begeistert sich für die Schifffahrt. Bis 2020 arbeitete er bei der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht FINMA.
Aber zuvor brauchte das Kleinbasel einen Ordnungsdienst …
Dazu brauchte es Ausrüstung: Hellebarden, Rüstung, Armbrüste. Einmal im Jahr hat jede Ehrengesellschaft eine Waffeninspektion gemacht. Vermutlich, weil man schon immer gerne gefeiert hat im Kleinbasel, wurde die Waffeninspektion mit einem festlichen Essen beschlossen. Jede Gesellschaft führte ihr Wappentier und Ehrenzeichen zur Freude der Bevölkerung durch das Kleinbasel.
Heute gibt es keine Waffeninspektionen mehr. Warum gibt es den Brauch immer noch?
Sinn und Zweck der Gesellschaften hat sich geändert, das stimmt. Heute geht es um den Erhalt dieser Tradition, den Brauch weiter in die Zukunft zu führen. Das zweite Standbein ist Soziales Engagement: Wenn die Wappentiere durch die Strassen tanzen, werden sie von vier Uelis begleitet, die Spenden für bedürftige Personen im Kleinbasel sammeln.
Für was zum Beispiel?
Grundsätzlich unterstützen die Drei Ehrengesellschaften soziale Institutionen und bedürftige Personen im Kleinbasel. Wir haben die Vereinbarung, dass wir unsere Vergabungen im Detail nicht nach Aussen kommunizieren. Wir geben lediglich die Höhe bekannt, nicht welche Institutionen wir unterstützen. Das sind Institutionen im Kleinbasel, die sich zum Beispiel um Wohnungslose kümmern, um Suchtkranke, sich für Frauen einsetzen, für Kinder, die komplette Bandbreite. Wir unterstützen aber auch mittellose Privatpersonen mit Gutscheinen für Kleider und Schuhe.
Ich dachte zuerst, dass das eine Vorfasnachtsveranstaltung ist.
Das denken viele.
Aber ist es nicht?
Nein.
Was ist der Unterschied?
Fasnacht hat einen anderen Ursprung, da geht es unter anderem um die Fastenzeit und um das Austreiben des Winters. Die Entstehung des heutigen Vogel-Gryff-Brauchs liegt in der jährlichen Waffen- und Ausrüstungsinspektion. Es gibt historische Quellen, wonach Wild Maa, Leu und Vogel Gryff früher auch an fasnachtsähnlichen Veranstaltungen teilgenommen haben. Dies ist seit längerem nicht mehr vorstellbar.
Okay, und beim Vogel Gryff tanzen Sie dann alle durch die Strassen von Kleinbasel?
Nein, das macht nur das «Spiel», das sind 17 Darsteller aus den Reihen der 3E. Gerade die Darsteller der drei Wappentiere üben das ganze Jahr für diese Tänze, das sind mündlich überlieferte Choreografien, nicht einfach blosses Rumgehopse. Dazu braucht es schon ein gewisses Talent und auch körperliche Voraussetzungen.
Was machen die restlichen 400 dann in der Zeit?
Die Mitglieder der Ehrengesellschaft treffen sich zum Greifenmahl im Congress Center der Messe Basel. Dort sind auch Gäste aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport eingeladen. Höhepunkte sind die Rede des Vorsitzenden Meisters und die Tänze der Ehrenzeichen im Saal. Das dauert von 13 Uhr bis 19 Uhr.
Das ist ja mega lange. Kann man auch schon um 16 Uhr gehen?
Das käme schlecht an.
«Die 3E waren aus ihrer Funktion in der Entstehungszeit Männergesellschaften. Solche Traditionen werden beibehalten, nicht weil man jemanden diskriminieren will, sondern weil es so entstanden ist. Der Antrieb, da etwas zu ändern, ist per se klein.»Stefan Ospel
Hand aufs Herz: Das wirkt ein bisschen elitär.
Das ist es eben nicht, auch wenn es für Aussenstehende so wirken kann. Die Ehrengesellschaften sind ein Querschnitt der Kleinbasler Bevölkerung. Da sitzt dann der Strassenwischer neben dem Regierungsrat. Man sitzt zusammen, kommt ins Gespräch – und betrachtet Andersdenkende nicht wie in den Social-Media-Bubbles als Feind, sondern es findet ein Austausch statt.
Könnte ich als neuzugezogener Deutscher auch beitreten, als Integrationsmassnahme sozusagen?
Die Anzahl der Mitglieder ist auf je 150 pro Ehrengesellschaft beschränkt. Ist man einmal aufgenommen, tritt man in der Regel nicht mehr aus – es sei denn, man zieht aus dem Kleinbasel weg. Vermögen, Einkommen, Beruf oder familiäre Beziehungen spielen bei der Aufnahme keine Rolle. Es können sich alle bewerben, die die Bedingungen zur Aufnahmen erfüllen.
Die da wären?
Man muss mindestens 18 Jahre alt sein, das Basler Bürgerrecht besitzen und in Kleinbasel leben.
Warum die Beschränkung aufs Kleinbasel? Mögen Sie Grossbasel nicht?
Die 3E haben ihren Ursprung im Kleinbasel und sind noch heute sogenannte «Gebietskorporationen», die sich für ihren engeren Lebensraum verantwortlich fühlen. Ich sehe das sogar als Stärke, dass die Mitglieder im Kleinbasel wohnen müssen. Man sieht sich nicht nur einmal im Jahr, sondern begegnet sich im Alltag auf relativ kleinem Raum: beim Einkaufen, in der Beiz.
Ich habe gelesen, man kann auch Mitglied werden, wenn man einfach Grundbesitz in Kleinbasel hat. Also mögen Sie Grossbasler*innen, wenn sie das nötige Geld haben?
Es geht nicht darum, ob man Geld hat oder nicht. Da geht es um Gesellschaftsmitglieder, die in Kleinbasel keine Wohnung gefunden haben und dann nach Riehen oder Grossbasel gezogen sind. Das ist zwar eine kleine Minderheit, aber man hat trotzdem eine Möglichkeit gefunden, damit die nicht aus der Ehrengesellschaft austreten müssen.
Dass auch Frauen Mitglieder werden können, hat dennoch länger gedauert: Bis letztes Jahr haben Sie keine Frauen zugelassen. Warum?
Zum einen lag das an der Organisationsform: Wir haben keine Statuten, auf die wir uns berufen können. Wir unterstehen der Bürgergemeinde und dort gibt es die Gesellschaftsordnung, die das eigentlich nicht zugelassen hätte.
Bestrebungen, das zu ändern, gab es aber auch nicht.
Das liegt an zwei Gründen: Die 3E waren aus ihrer Funktion in der Entstehungszeit Männergesellschaften. Solche Traditionen werden beibehalten, nicht weil man jemanden diskriminieren will, sondern weil es so entstanden ist. Der Antrieb, da etwas zu ändern, ist per se klein.
Wieso denn?
Das hat sich über Jahrhunderte eingespielt und man hat Möglichkeiten gefunden, das Fest mit den Frauen zusammen zu feiern, auf anderem Weg, als beim Greifenmahl dabei zu sein. Eine Organisation mit einer so langen Geschichte, ändert sich im Verlauf der Jahrhunderte natürlich auch. Das geht aber nicht von einem Jahr aufs andere, sondern nur in kleinen Schritten. Das braucht eine gewisse Zeit, bis das wirklich angekommen ist. Es gab aber bisher nie ein Bedürfnis von Frauen im Umfeld der 3E, aufgenommen zu werden. Mit der Revision des Reglements über die Organisation der drei Ehrengesellschaften durch die Bürgergemeinde können sich seit dem 1. Januar 2022 auch Frauen anmelden. Bisher haben wir aber noch keine Bewerbungen erhalten.
«Für Frauen ist es sicher ein grosser Schritt, das einzige und erste Mitglied im Kreis von 400 Männern sein zu wollen. Dazu braucht es auch eine gewisse Resilienz.»Stefan Ospel
Das kann ja auch bedeuten, dass Sie als Männergesellschaft nicht attraktiv für Frauen sind.
Das ist schwierig zu interpretieren. Die Frauen, die sich für das Brauchtum interessieren, haben bereits ihren eigenen Weg gefunden, den Vogel Gryff in ihrem Umfeld zu feiern. Zudem ist es für Frauen sicher ein grosser Schritt, das einzige und erste Mitglied im Kreis von 400 Männern sein zu wollen. Dazu braucht es auch eine gewisse Resilienz. Bei der Bandbreite an Menschen im Kleinbasel, die in den 3E vertreten sind, würde das vermutlich auch nicht von allen mit grossem Jubel begrüsst. Ein paar Sprüche müsste man sich sicher anhören. Aber ich denke, das ist eine Frage von einer halben Generation, dann wird die Gesellschaft durchmischt sein wie andere Organisationen auch.
Bemühen Sie sich denn, Frauen in die Gesellschaft zu holen?
Wir machen grundsätzlich keine Werbeaktionen. Das wäre auch falsch, denke ich, denn das muss sich von selbst entwickeln. Die Türen stehen aber offen ...
So wie sich das anhört, war sie 700 Jahre lang verschlossen.
Es wäre falsch, diese Entwicklung nur aus der heutigen Perspektive zu beurteilen, sondern auch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Situation der Zeit, als der Brauch entstanden ist. Aber jetzt ist es so. Alle, die sich anmelden, werden unbesehen ihres Geschlechts gleich behandelt.
«Wenn man einen uralten Brauch erhalten will, ist man vor allem dem Erbe der Vergangenheit verpflichtet und das führt zu gewissen Regeln und Ritualen.»Stefan Ospel
Spielt es eigentlich eine Rolle, in welche Ehrengesellschaft man eintritt?
Wenn man schon Vorfahren hat, die in einer der 3E aktiv waren, geht man meist zu dieser Gesellschaft. Aber das ist kein Muss, man hat vielleicht mehr Kollegen in der einen Gesellschaft, oder einem gefällt das Wappentier und der Tanz besser.
Warum gibt es bei drei Ehrengesellschaften nur einen Anlass?
In den Anfangszeiten haben die Ehrengesellschaften ihr Fest jeweils einzeln abgehalten. Deshalb gibt es auch drei Daten, an denen der Vogel Gryff im jährlichen Wechsel stattfindet: dieses Jahr am 13. Januar, nächstes Jahr am 20. und übernächstes Jahr am 27. Im Verlauf der Zeit haben die Gesellschaften sich angenähert, haben hier im Café Spitz ein gemeinsames Gesellschaftshaus gebaut und hielten dann den Anlass gemeinsam ab. Schon damals hatte man wohl den Eindruck, zusammen sind wir stärker
Aber dann könnte man heute doch die drei Gesellschaften fusionieren, oder?
Ich glaube, es werden weiterhin drei Gesellschaften bleiben. Unser Bestreben ist es, die Tradition zu erhalten. Die drei Gesellschaften haben durchaus auch ihre eigene Kultur, ihr Eigenleben entwickelt. Manche sind vielleicht ein bisschen traditioneller als andere.
Ich habe gelesen, dass es pro Gesellschaft 6 Vorgesetzte und einen Meister gibt. Will man einfach sichergehen, dass jeder noch einen Posten kriegt?
Nein, gar nicht. Es ist auch einfacher, sich zu organisieren, wenn man drei gesonderte Gesellschaften à maximal 150 Mitglieder hat. Jede Gesellschaft macht auch eigene Veranstaltungen, Grillanlässe, Ausflüge.
Das klingt trotzdem alles recht streng. Macht das Spass?
Wenn man einen uralten Brauch erhalten will, ist man vor allem dem Erbe der Vergangenheit verpflichtet und das führt zu gewissen Regeln und Ritualen. Gleichzeitig mag das von aussen recht ernst und streng getaktet aussehen. Aber das ist es nicht. Denn wenn man eine Tradition lebendig in die Zukunft bringen will, braucht es auch einen gewissen Spielraum zur Anpassung an gesellschaftliche Veränderungen.
Aber viel Freizeit kostet das auch, oder? Was hat man überhaupt davon, in einer Ehrengesellschaft zu sein?
Man trägt bei zum Weiterleben des Brauchtums, damit der nicht einfach eingefroren und ins Museum gestellt wird.
Im Historischen Museum habe ich Trinkgefässe von Ihnen gesehen.
Die holen wir dann aber auch zum Vogel Gryff raus und benutzen sie. Im Museum werden sie nur mit Handschuhen angefasst – wir trinken daraus, zwar mit Ehrfurcht, aber wie aus normalen Bechern. Zu später Stunde ist da auch schon Gin Tonic drin gelandet. Das Brauchtum lebt, das ist nicht nur museal. Ausserdem ist es ein Beitrag zu einem lebenswerten Kleinbasel. Die Ehrengesellschaften sind für die Mitglieder auch Netzwerke, die viel möglich machen – man ist füreinander da und steht füreinander ein. Das kann Zugezogenen helfen, sich zu integrieren.
Und dann gibt’s noch gratis Essen und Trinken.
Gratis nicht, nein. Jeder zahlt 150 Franken fürs Greifenmahl. Getränke hat man dafür den ganzen Tag.
Das dürfte trinkfreudige Gesellen freuen: Ein weiteres Datum, zu dem man über den Durst trinken darf.
Wenn Sie in Chroniken vor 100 Jahren schauen, wie viel Alkohol da getrunken wurde, ist das heute durchaus bescheiden. Wenn man keinen Alkohol trinken will – das gibt es auch in unseren Reihen – dann ist das so. Auch beim Aufnahmeritual kann man Wasser trinken – das ist eine Entwicklung unserer Gesellschaft. Es ist kein Besäufnis.
Am Tag vor Vogel Gryff gibt es noch den Bärentag. Der hat mit Ihnen gar nichts zu tun?
Aus unserer Sicht nicht. Die Entwicklung entstand in den 90ern, als sich ein Meister kontrovers über Migration geäussert hat. Dazu wollte man damals offensichtlich einen Gegenpunkt setzen. Die Gründer des Bärentags haben die Legende eines vierten Wappenzeichens, des Bären, eingeführt. Dazu haben sie gewisse Formen des Vogel Gryff aufgegriffen, interpretieren sie aber offener.
Kann man sagen: Das sind die Linken und Sie sind die Rechten?
Nein, das kann so nicht gesagt werden. Die 3E sind unpolitisch, wir sind ein Querschnitt der Kleinbasler Bevölkerung und lassen uns nicht vor einen parteipolitischen Karren spannen. Wir haben Leute aus dem ganzen Spektrum. Aber: Wenn man versucht, eine alte Tradition in die Zukunft zu führen, hat das natürlich einen bewahrenden, einen konservativen Anstrich. Das heisst nicht, dass wir rechts sind.
Aber beim Bärentag ist man schon eher progressiv? Frauen waren von Anfang an als Mitglieder zugelassen.
Eine moderne Tradition sieht anders aus als eine mit 700-jähriger Geschichte. Es wäre aus dieser Tradition her nicht vorstellbar, dass wir als 3E sagen, wir machen das Greifenmahl öffentlich. Der Charakter, die Stärke des Brauchs würde völlig verloren gehen. Der Bärentag hat als Brauch im Kleinbasel, der in heutiger Zeit entstanden ist, daher sicher seine Berechtigung.
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