«Wir in Basel-Stadt sind nicht unumstritten die Besten der Schweiz»

Nationalrätin Sarah Wyss steht Andrea Fopp Rede und Antwort zu Krankenkassenprämien, Schuldenbremse und Zuwanderung sowie zur Frage, ob die Welt für Basler*innen hinter dem Joggeli endet. Und gibt dabei ihr Fachwissen zum Besten.

Sarah Wyss, Nationalrätin SP BS im Gespräch mit Andrea Fopp, Bajour
Zur Person

Sarah Wyss ist Co-Leiterin der Direktion für Medizin und Pflege bei den Universitären psychiatrischen Diensten Bern. Auch politisch beschäftigt sie sich seit Jahren mit der Gesundheitsbranche und gilt als Politikerin, die sich tief in ihre Dossiers einarbeitet. Im Jahr 2020 ist die Sozialdemokratin für Beat Jans im Nationalrat nachgerückt. Sie waltet als Vize-Präsidentin der Finanzkommission und ist Ersatzmitglied in der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit.

Sarah Wyss, ich muss beim Redigieren sicher kürzen, aber ich gebe mir Mühe, so nahe wie möglich beim gesprochenen Wort zu bleiben. Darf ich Sie bitten, auch so nahe wie möglich beim gesprochenen Wort zu bleiben?

Klar.

Gut, kommen wir zur ersten Frage: Über welche Bundesratskandidatur haben Sie sich mehr aufgeregt – über die von Mustafa Atici oder die von Daniel Jositsch?

Ich rege mich über gar keine Bundesratskandidatur auf. Es ist wichtig, dass sich jetzt alle in der Partei überlegen, ob sie eine Bundesratskandidatur in Erwägung ziehen.

Ganz ehrlich, haben Sie bei Mustafa Atici nicht kurz gedacht: «Oh nein, jetzt kriegt er die ganze Aufmerksamkeit!» Denn wenn die SP bei den Nationalratswahlen einen Sitz verliert, ist Atici Ihr grösster Konkurrent.

Es kommt tatsächlich auf jede Stimme an, das ist so. Mustafa und ich kämpfen zusammen für zwei Sitze. Die Bundesratsfrage schauen wir dann nach dem 22.Oktober an. Jetzt ist es noch zu früh, um zu spekulieren.

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Her damit

Die Basler SP stand in den vergangenen Monaten wegen ihrer Politik rund um Demonstrationen ziemlich in der Kritik. Wird Ihnen das bei den Wahlen schaden?

Ich versuche, mich im Wahlkampf auf das zu konzentrieren, was ich in Bern geleistet habe. Und auch in Basel hatte die SP viele Erfolge, beispielsweise beim Wohnschutz.

Bei den Bürgerratswahlen im Juni hat die SP zwei Sitze verloren. Hat die Wähler*innenschaft Ihre Partei für die chaotische Kommunikation rund um Demonstrationen abgestraft? Etwa wegen des 1.Mai?

Also ich bin ja keine Politologin und habe auch keine Kristallkugel. Ich fokussiere mich auf die Politik – auf die Menschen in Basel-Stadt und was ich für sie geleistet habe. Wir haben in der Politik so viele Herausforderungen, die wir lösen müssen, die Kaufkraft, die Krankenkassenprämien…

Bleiben Sie bitte beim 1. Mai und sagen Sie mir: Haben Sie sich über die SP-Führung aufgeregt, ja oder nein?

Ich selbst war am 1.Mai dabei. Und ja, ich hätte mir einen schöneren 1. Mai gewünscht, das ist so.

Schön ausgewichen. Sie sind Nationalrätin. Dennoch äussern Sie sich häufig zu regionalen Themen. So forderten Sie etwa (erfolgreich) gratis ÖV für Kinder. Haben Sie zu wenig zu tun in Bern?

Ich habe mein Amt als Nationalrätin sehr gerne und gebe alles dafür, dass ich wiedergewählt werde. Aber Kantone und Bund sind eng verbunden. Beispielsweise in der Gesundheitspolitik haben wir eine geteilte Kompetenz. Dort muss man wahnsinnig stark in den kantonalen Themen drinbleiben, damit man in Bern an den richtigen Schrauben drehen kann.

Sogar zu Esther Kellers Bäumen auf der Dreirosenbrücke hatten Sie etwas zu sagen. Sie kritisierten, die Töpfe seien schön fürs Stadtbild, aber als Schattenspender lächerlich.

Es gibt halt auch Sachen, über die ich mich als Einwohnerin von Basel aufrege. Kellers Bäume waren so etwas, wobei ich das durchaus mit einem Schmunzeln gemeint habe.

Sarah Wyss, Nationalrätin SP BS im Gespräch mit Andrea Fopp, Bajour
(Bild: Roland Schmid)
«Wir haben in Basel-Stadt die höchsten Prämien der Schweiz.»
Sarah Wyss über Prämienverbilligungen

Vieles, was die SP national fordert, ist in Basel-Stadt längst Realität. Zum Beispiel genügend Kinderbetreuungsplätze. Warum braucht es Sozialdemokrat*innen in Bern? Wir haben ja schon alles.

Wenn Sie die Menschen in Basel fragen, haben nicht alle alles.

Nehmen Sie die Grundversicherung. Die Schweizer SP fordert höhere Prämienverbilligungen. Basel-Stadt hat gehört jetzt schon zu den Kantonen mit den höchsten Prämienverbilligungen.

Ja, aber wir haben auch die höchsten Prämien in der ganzen Schweiz. Wie soll ich sagen: Es geht in der nationalen Politik auch darum, dass alle Schweizer*innen ein Stück weit dieselben Voraussetzungen haben. Es kann nicht sein, dass die Kitaversorgung in Basel-Stadt gut und diejenige im Aargau sehr schlecht ist. Das ist nicht gut für den Zusammenhalt.

Wenn der Bund über 700 Millionen Franken in die Kitas steckt, wie Ihre SP das will, mag der Aargau davon profitieren. Oder das Baselbiet. Aber die Basler*innen würden draufzahlen, oder? Der Freisinnige Nationalratskandidat Baschi Dürr sagte im Interview, jeder Franken, der über Bern drehe, sei für Basel teurer. Weil wir ihn via Bundessteuer etc. finanzieren.

Wir sind ein ressourcenstarker Kanton, das ist so. Unter anderem auch dank grossen Firmen. Einerseits zahlen wir in den Finanzausgleich ein. Andererseits gehen 7.5 Prozent der Unternehmenssteuern direkt zum Bund, unser Anteil ist also hoch. Aber wir profitieren natürlich auch von den anderen Kantonen. Wir in Basel-Stadt sind nicht einfach unumstritten die Besten der Schweiz, das muss man auch einmal sehen. Wir sind ein Bundesstaat, kein Stadtstaat.

Es heisst doch immer, alles hinter dem Joggeli interessiere uns in Basel nicht.

Ich glaube, alle Schweizer*innen sind ein bisschen Lokalpatriot*innen. Ein Bauer aus der Innerschweiz hält seinen Kanton auch für den besten. Doch was macht am Schluss die Schweiz aus? Unsere Vielfalt. Und wo gehen wir Baslerinnen und Basler in die Ferien? Ins Bündnerland…

...sehr gut.

Oder ins Wallis…

...weniger gut, ich bin in Graubünden aufgewachsen.

Daher habe ich Graubünden zuerst gesagt. Aber im Ernst: Basel-Stadt ist abhängig von anderen Kantonen, beispielsweise brauchen wir Fachkräfte, die an Universitäten ausserhalb Basels ausgebildet wurden. Oder die aus dem Ausland kommen.

Sarah Wyss, Nationalrätin SP BS im Gespräch mit Andrea Fopp, Bajour
(Bild: Roland Schmid)

Bleiben wir gerade beim Thema. Der Basler Gewerbeverband hat letzte Woche wegen des Arbeitskräftemangels Alarm geschlagen, der Arbeitgeberverband rechnet bis 2030 mit rund einer Million fehlenden Arbeitskräften. Was macht die SP dagegen?

Das ist ein riesen Problem. Ich bin ja beruflich auch im Gesundheitsbereich tätig. Auch da fehlen bis 2040 rund 5500 Ärztinnen und Ärzte. Bei der Pflege sind es noch viel, viel mehr: 35'000 Pflegende...

Laut Gewerbeverband fehlen auch Handwerker*innen.

Es braucht flächendeckend bessere Rahmenbedingungen.

Welche?

Steuerliche Anreize, etwa die Individualbesteuerung, damit es sich für beide Elternteile lohnt, zu arbeiten. Ebenso Kitas und eine genügend lange, gleichberechtigte Elternzeit, damit es für die Betriebe keine Rolle mehr spielt, ob sie junge Männer oder Frauen anstellen.

Stellen Sie sich einen Heizungsmonteur vor. Er ist der Chef und hat zwei Angestellte. Und er kommt fast nicht nach mit den Aufträgen und aller Bürokratie. Und dann geht einer seiner beiden Monteure noch in Elternzeit. Wie soll das gehen?

Abwesenheiten sind in einem trockenen Arbeitsmarkt sehr schwierig, egal ob es die Mutter oder den Vater betrifft. Wir dürfen aber das Kindeswohl nicht vergessen. 2015 habe ich in Basel-Stadt einen Vorstoss für 38 Wochen Elternzeit pro Elternpaar eingereicht. Dieser hätte die KMUs mittels eines Fonds unterstützt, der vom Staat bezahlt worden wäre. Aber er wurde abgelehnt. Und im Juni habe ich in Bern eine Motion für sechs Wochen Ferien für Lernende eingereicht, um die Berufslehre attraktiver zu gestalten. Auch die wurde abgelehnt.

«Der Markt in der Medizin funktioniert zu gut. Ein Chirurge verdient bis zu dreimal mehr als ein Hausarzt.»
Sarah Wyss zum Hausärzt*innenmangel.

Sie wollen den Arbeitskräftemangel lösen, indem Sie den Arbeitskräften mehr freigeben, das ist doch paradox. Wie wäre es mit dem Rentenalter 66 der Jungfreisinnigen? Dann würden uns die erfahrenen Arbeitskräfte länger erhalten bleiben.

Ich bin grundsätzlich gegen eine allgemeine Rentenaltererhöhung, stattdessen für bessere Rahmenbedingungen für alle, damit sich das Arbeiten für alle mehr lohnt und so mehr Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Ich glaube, wenn jemand dreissig bis vierzig Jahre gearbeitet hat, dann hat er auch das Anrecht auf Pension.

Warum? Wir leben länger, haben mehr Ferien und kürzere Arbeitswochen als unsere Vorfahren.

Es ist ja nicht so, dass Pensionierte den ganzen Tag auf dem Liegestuhl liegen. Das dürfen sie natürlich. Aber viele betreuen Grosskinder, pflegen betagte Eltern. Unsere Volkswirtschaft würde zusammenbrechen ohne dieses unentgeltliche Engagement. Ausserdem lassen sich Gutverdienende heute schon frühpensionieren. Eine Floristin oder eine Coiffeuse mit einem Lohn von 4500 Franken können sich das nicht leisten. Statt das Rentenalter zu erhöhen, müssen wir uns wirklich überlegen, wie wir unseren Arbeitsmarkt gestalten wollen.

Zum Beispiel?

Nehmen wir den Gesundheitsbereich. Wir bilden viele, viele Chirurgen und Radiologen aus. Aber viel zu wenig Hausärztinnen, Kinderärzte und Psychiater. Dort hat man die Möglichkeit, zu intervenieren.

Warum spielt da der Markt nicht? Sind die Ausbildungsplätze zu fest reguliert?

Im Gegenteil, der Markt spielt zu gut. Ein Chirurge verdient bis zu dreimal mehr als ein Hausarzt. Wenn Sie sich die Lohnliste anschauen, ist es relativ einfach: In den am besten bezahlten Bereichen haben wir eine Überversorgung. Bei den kleinsten Löhnen Unterversorgung. Das Problem ist, dass heute immer noch die Tarife von früher gelten, als es noch weniger Automatisierung gab.

Heisst das, eine Hirnchirurgin verdiente früher so gut, weil sie den feinsten Schnitt im Gehirn eines Patienten selber machen musste. Während sie heute dafür einen Roboter hat?

Zum Beispiel. Und ein Radiologe brauchte viel mehr Zeit und Expertise, um Scans zu analysieren. Heute machen das die Computer.

Und warum passt man nicht endlich die Tarife an? Hängen die noch im Parlament?

Das ist genau die Krux. Das Parlament hat eigentlich nichts zu den Tarifen zu melden. Der Tardoc, wie er aktuell im ambulanten Bereich gilt, wird zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern verhandelt. Und diese knorzen, weil die Interessenvertretungen wahnsinnig stark sind.

Kann die Politik sie nicht zwingen? Noch-Gesundheitsdirektor Alain Berset ist in Ihrer Partei.

Die Politik könnte natürlich bei den Ausbildungen einwirken. Wir müssen ja die Medizinstudienplätze an den Universitäten bewilligen. Aber die Universitäten sind in der Kompetenz der Kantone. Das ist das Problem.

Was ist Ihre Lösung?

Wir brauchen eine nationale Hochschule für Medizin analog zur ETH, ich habe im Juni eine entsprechende Motion eingereicht. Und diese müsste die Fachrichtungen so einschränken, dass wir mehr Hausärzte und weniger Chirurginnen bekommen. Sonst schaut jeder Kanton nur für sich und die Unikantone tragen die finanzielle Hauptlast. Uri, Glarus, et cetera zahlen relativ wenig.

Sarah Wyss, Nationalrätin SP BS im Gespräch mit Andrea Fopp, Bajour
(Bild: Roland Schmid)

Die Krankenkassenprämien steigen diesen Herbst um sechs bis zehn Prozent. Die SP hat zuerst angekündigt, dass sie mehr Prämienverbilligungen will. Und jetzt plötzlich will sie auch wieder eine Einheitskasse. Ich komme nicht ganz draus. Was gilt denn jetzt?

Im Gesundheitswesen reicht eine Massnahme nicht, um alle Probleme zu lösen. Zum einen sind die Kopfprämien einfach wahnsinnig unsolidarisch, das ist der sozialpolitische Aspekt. Und zum anderen braucht es Massnahmen zur Kostendämpfung. Zum Beispiel die Reduktion der Überversorgung oder die Prävention. Doch das bürgerliche Parlament hat sich dem letzte Woche verweigert.* Sie schreien nach Kostendämpfung, machen aber genau das Gegenteil.

Haben Sie ein Beispiel?

Wir haben letzte Woche über die Finanzierung der Spitäler gesprochen: Die Bürgerlichen haben die rosinenpickenden Privatspitäler bevorteilt, statt die Grundversorgung zu stärken. Dieser Fehlentscheid wird die Prämienzahlenden hunderte Millionen Franken kosten, wenn der Ständerat das nicht korrigiert.

Hier in der Region werden Privatspitäler benachteiligt. Aber bleiben wir bei der nationalen Politik: Wo setzt die Einheitskasse der SP an?

Bei den Kosten UND den Prämien. Ein Beispiel: Allein die Krankenkassen-Wechsel kosten uns jährlich mindestens 130 Millionen Franken, wegen des Bürokratieaufwands. Ich reiche deswegen diese Woche noch einen Vorstoss ein. Eine Einheitskasse würde diese Kosten eliminieren.

Die Prämienentlastungsinitiative der SP kostet dafür sechs Milliarden Franken pro Jahr. Wer zahlt das?

Bei der Initiative muss der Bund deutlich mehr bezahlen.

Eigentlich sind die Kantone zuständig für Prämienverbilligungen.

Das Problem ist, dass die Kantone ihren Job nicht machen. Zehn Kantone zahlen heute – in absoluten Zahlen – weniger Prämienverbilligungen als früher. Und auch die meisten anderen Kantone haben Gelder eingespart. Resultat: Die Menschen zahlen immer mehr Prämien.

Fazit: Ob bei den Unis, bei den Kitas oder den Prämienverbilligungen – wenn die Kantone nicht machen, was der SP passt, wollen Sie sie übersteuern und das Bundeskässeli aufmachen.

Wenn wir sehen, dass die Menschen leiden, weil die Kantone ihren Job nicht machen, müssen wir Lösungen anbieten.

«Ein Menschenleben rechne ich nicht monetär auf. Das ist mir zuwider.»
Sarah Wyss über die Kosten des Asylwesens.

Woher nehmen Sie das viele Geld für all diese Massnahmen?

Erstens hat das Parlament eine Aufstockung des Armeebudgets beschlossen, die völlig unnötig ist. Das allein sind dreihundert Millionen Franken im Jahr 2024.

Dreihundert Millionen sind noch keine sechs Milliarden, die Sie für die Prämienentlastungsinitiative brauchen.

Wir haben zwischen 2002 und 2019 satte 21,9 Milliarden Franken Überschuss gemacht. Und die dürfen wir nur aus unverständlichen Finanz-Haushaltsgesetz-Gründen nicht antasten. Ich fordere, dass man die Schuldenbremse so anpasst, dass man dieses Geld für sinnvolle Investitionen nutzen kann – zum Beispiel zur Stärkung der Kaufkraft.

Und was ist mit dem Schuldenabbau?

Wir haben die tiefste Schuldenquote in Europa, die Schuldenquote des Bundes betrug 2022 15.6 Prozent. Und es ist absolut nicht zielführend, in Krisenzeiten wie jetzt weiter Schulden abzubauen.

Wir haben während der Pandemie viel in Coronahilfen investiert, und…

28 Milliarden.

Das konnten wir uns leisten, weil wir vorher die Schulden abgebaut hatten, dank der Schuldenbremse. Und jetzt haben wir wieder Schulden angehäuft. Bevor wir also wieder investieren, müssen wir zuerst die neuen Schulden abbauen. Sie geben daheim sicher auch erst neues Geld aus, wenn Sie alle offenen Rechnungen bezahlt haben.

Wenn Sie ein Häuschen kaufen, nehmen Sie auch Schulden auf. Richtig eingesetzte Investitionen des Bundes führen zu einem Mehrwert und mit einem steigenden Bruttoinlandprodukt bauen sich die Schulden automatisch ein bisschen ab.

SP – die Wachstumspartei? Im Moment haben wir Nullwachstum. Und Ihnen dürfte das Recht sein, die SP will ja kein Wachstum.

Wer hat gesagt, dass die SP kein Wachstum will?

Ihre Genossin, Jacqueline Badran, hat kürzlich der NZZ am Sonntag gesagt, die Schweiz wachse viel zu schnell.

Ja, gut. Das kann man jetzt so oder so sehen. Aber wir haben ein Wirtschaftswachstum, das ist auch richtig so.

Die SP schreibt im Parteiprogramm, sie wolle den Kapitalismus abschaffen. Wenn es aber um den Schuldenabbau geht, sagen Sie, jaja, das Wachstum wird es dann schon richten. Ein Widerspruch?

Wachstum ist nicht per se schlecht. Die Frage ist einfach, wer davon profitiert – ein paar wenige Firmen oder alle Menschen. Das ist auch die Frage, die Jacqueline Badran aufwirft. Wenn wir sagen, sorry, wir haben zwar Wachstum, aber kein Geld für Prämienentlastungen und Mietzinszuschüsse, ist das der falsche Weg. Die Bürgerlichen wollten in den letzten Jahren wenige Supervermögende im Rahmen von 1.8 Milliarden Franken entlasten. Und wir haben im Budget übrigens immer noch 4 Milliarden für die AXPO auf die Seite gelegt. Das Geld ist da – wir müssen es nur richtig ausgeben. Mein Ziel ist nicht, dass wir eine Schuldenquote wie in Italien bekommen, aber das ist auch gar nicht die Diskussion....

…oder Griechenland, wissen Sie noch? Eine Schuldenkrise kann aus dem Nichts kommen.

Oder Griechenland! Die Ökonomen sind sich einig, dass man in der Krise investieren muss.

Nein, die Ökonom*innen sind sich überhaupt nicht einig.

Gut, aber eine Vielzahl sagten, dass es kontraproduktiv ist, in einer Krise Schulden abzubauen, die so tief sind, dass sie keine Gefahr für den Staatshaushalt sind. Und ein Sparkurs in einer Inflationsphase ist auch nicht gesund.

Der Bund spart nicht, er bremst das Ausgabenwachstum.

Doch, er spart. Denn gleichzeitig ist die Nationalbank mit dem Zins raufgegangen, das ist einfach nicht zielführend. Das bremst den Wohlstand.

Wenn die Nationalbank nicht mit dem Zins raufgegangen wäre, hätten wir jetzt noch eine viel krassere Inflation.

Das ist so. Aber jetzt ist die Frage, was passiert in zwei, drei Wochen, wenn die neuen Zahlen bekannt werden? Geht man wieder mit dem Leitzins hinauf? Und wenn man eine hohe Zinslage hat, aber gleichzeitig bei den öffentlichen Investitionen drosselt, dann haben wir am Schluss ein Problem mit der Kaufkraft.

Sarah Wyss, Nationalrätin SP BS im Gespräch mit Andrea Fopp, Bajour
(Bild: Roland Schmid)

Reden wir noch ganz kurz über die Zuwanderung. Ihre Kollegin Jacqueline Badran hat auch noch kritisiert, die Zuwanderung sei zu hoch. Was macht die SP dagegen?

Unsere Spitäler im Dreiland könnten ohne Zuwanderung schliessen. Wir haben einfach ein zu kleines Bevölkerungswachstum, um die Nachfrage nach Arbeitskräften zu decken. Aber Jacqueline Badran stellt eine wichtige Frage: Nämlich, wie nachhaltig unser Wachstum ist.

Die SP möchte – nebst der Zuwanderung via Freizügigkeit – auch mehr Geflüchtete aufnehmen. Wieviele?

Ich nenne in diesem Zusammenhang nie Zahlen. Wenn jemand gezwungenermassen das Land verlassen muss, ist für mich klar, dass wir als Schweiz solidarisch sein müssen und diese Menschen aufnehmen.

Ein*e Geflüchtete*r kostet den Staat 20'000 Franken pro Jahr. Ist es daher nicht wichtig, auszurechnen, wieviele Menschen kommen können?

Ein Menschenleben rechne ich nicht monetär auf. Das ist mir völlig zuwider. Es ist die Verantwortung der Schweiz, Menschen in Not aufzunehmen. Und auch zu schauen, dass weniger Menschen aus ihren Ländern flüchten müssen. Daher ist die Konzernverantwortung und Bankenregulierungen so wichtig, damit wir durch Fehlverhalten nicht Mitverursacher sind von Flucht. Wir müssen auch schauen, dass unsere Banken nicht in Kriegsmaterial oder umweltschädliche Produkte investieren. Auch vor Klimaschäden und Krieg fliehen Menschen…

Wollen Sie damit sagen, die Schweiz sei Schuld an Fluchtbewegungen?

Jein. Aber ich glaube, unsere Gesellschaft trägt eine Mitverantwortung. Und in der Unterbringung von Asylsuchenden gibt es auch Verbesserungsbedarf.

Warum? Das Parlament hat zwar den Kredit für Containersiedlungen verweigert. Aber die Kantone konnten sich mit Militärunterkünften behelfen.

Ich glaube, dass einige Ständeräte darauf gesetzt haben, dass es ein Asylchaos gibt und daher absichtlich Nein sagten zu den Containern.

Wem nützt ein Asylchaos? Die einzige Partei, die von Antizuwanderungspolitik profitiert, ist die SVP. Es waren aber auch Freisinnige und Mitte-Ständeräte, die gegen die Container stimmten.

Einige Ständeräte haben sich gewehrt, weil sie haargenau wussten, wo diese Container in ihren jeweiligen Kantonen gestanden hätten.

Wollen Sie sagen, Freisinnige und Mitte-Ständerät*innen hatten Angst um ihre Wiederwahl, weil die Bevölkerung keine Containersiedlungen will und verweigerten sich daher einer Lösung?

Bei einigen mag das so gewesen sein. Und es zeigt, dass die Schweiz besser vorbereitet sein muss für Krisen. Es gibt den Ukrainekrieg, die Menschenrechtssituation in Afghanistan, im Iran oder Syrien, jetzt noch das Erdbeben in Marocco, die Unwetter in Libyen. Es köchelt auf der Welt. Wir können uns nicht zurücklehnen.

«In der Politik gibt es keine Erfolge von Einzelpersonen. Man muss immer mit Betroffenen zusammenarbeiten und dann politische Mehrheiten finden.»
Sarah Wyss über erfolgreiche Politik.

Kommen wir zum Schluss. Möchten Sie noch sagen, was Ihr grösster Erfolg in Bern war? Katja Christ hat das auch gemacht.

Ich bin der Ansicht, dass es in der Politik keine Erfolge von Einzelpersonen gibt. Man muss immer mit Betroffenen zusammenarbeiten und dann politische Mehrheiten finden. Soll ich Ihnen einen erfolgreichen Vorstoss nennen?

Sie könnten auch einen Erfolg aus einer Kommission nennen. Der wahre Einfluss von Politiker*innen zeigt sich häufig in der Kommissionsarbeit und dort hat die Öffentlichkeit wenig Einblick.

Gut. Ich habe mich beispielsweise in der nationalrätlichen Gesundheits- und Sozialkommission erfolgreich für einen guten Gegenvorschlag zur vorhin besprochenen Prämienentlastungsinitiaitive engagiert. Leider machte der Nationalrat den Gegenvorschlag nun aber fast wirkungslos. Wenn der Ständerat hier nicht nachbessert, werde ich mich dafür einsetzen, dass die Initiative im Frühjahr vors Volk kommt. Davon gehe ich aus, die kleine Kammer ist schon lange nicht mehr die chambre de réflexion, die sie einmal war.

Das lasse ich jetzt einmal stehen.

Das sagen auch Bürgerliche über den Ständerat... Neben der Kommissionsarbeit finde ich auch die unsichtbare Politarbeit im Kleinen wichtig, beispielsweise mit Organisationen hinter den Kulissen.

Wie funktioniert Politarbeit im Kleinen?

Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Bei den Hörgeräten gab es unlängst einen Systemwechsel. Die Betroffenen müssen nun einen viel höheren Selbstbehalt bezahlen. Jeder achte Mensch braucht so ein Gerät. Und jetzt versuche ich, mit der Verwaltung eine Lösung zu finden, damit sich Hörgeschädigte ein Hörgerät leisten können, die es brauchen.

Danke für Ihre Zeit, Frau Wyss.

Vielen Dank für das Gespräch.

*Anmerkung: Das Interview wurde vor der Gesundheitsdebatte im Parlament geführt. Die aktuellsten Entwicklungen wurden beim Gegenlesen noch eingefügt.

Sarah Wyss, Nationalrätin SP BS im Gespräch mit Andrea Fopp, Bajour
(Bild: Roland Schmid)
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Wo geht's hier zum lustigen Wahlsong?

Nein.

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Bei Bajour als: Journalistin.

Hier weil: Das Hobby meines Mannes finanziert sich nicht von alleine.

Davor: Chefredaktorin im Lokalmedium meines ❤️-ens (Bajour), TagesWoche (selig), Gesundheitstipp und Basler Zeitung

Kann: alles in Frage stellen

Kann nicht: es bleiben lassen

Liebt an Basel: Mit der Familie am Birsköpfli rumhängen und von rechts mit Reggaeton und von links mit Techno beschallt zu werden. Schnitzelbängg im SRF-Regionaljournal nachhören. In der Migros mit fremden Leuten quatschen. Das Bücherbrocki. Die Menschen, die von überall kommen.

Vermisst in Basel: Klartext, eine gepflegte Fluchkultur und Berge.

Interessensbindungen:

  • Vorstand Gönnerverein des Presserats
  • War während der Jugend mal für die JUSO im Churer Gemeindeparlament. Bin aber ausgetreten, als es mit dem Journalismus und mir ernst wurde.

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