Wo sind die Frauen in der (Schweizer) Geschichte?
Warum tauchen in unseren Geschichtsbüchern so wenig Frauen auf? Und wie können wir das ändern? Darüber spricht das Mädchenmagazin KALEIO mit der Historikerin und Journalistin Nadine A. Brügger.
Dieser Beitrag ist zuerst bei KALEIO erschienen. KALEIO gibt Mädchen und Frauen in der Schweiz eine Stimme, regt zu Diskussionen an und hinterfragt Stereotype. KALEIO gibt auch das gleichnamige Magazin heraus, das Mädchen von 8 bis 13 (und den Rest der Welt) empowert, begeistert und inspiriert. Hier kannst Du KALEIO unterstützen.
Im beliebten KALEIO-Comic «Kira und Kooki» reist die 12-Jährige Kira auf der Suche nach ihrer Mutter in die Vergangenheit, begleitet von Kooki, dem intelligenten Zeitreiseroboter. Auf ihrer turbulenten Reise durch die Zeit begegnen sie faszinierenden Schweizerinnen. Ob als Soldatin, Ärztin, Politikerin, Malerin, Aktivistin, Unternehmerin, Gastarbeiterin oder Spionin: Diese und viele weitere Frauen haben Geschichte geschrieben. Doch warum tauchen in unseren Geschichtsbüchern so wenig Frauen auf? Wir fragen eine, die es wissen muss: die Historikerin und Journalistin Nadine A. Brügger.
Nadine Brügger, warum kommen in den Geschichtsbüchern so wenig Frauen vor?
Lange war es Frauen nicht erlaubt, einen Beruf zu erlernen oder zu studieren. Von einer grossen wissenschaftlichen Entdeckung, vom Kommandozelt oder von einer Friedensverhandlung wurden sie darum meistens ausgeschlossen. Aber genau diese Ereignisse stehen in vielen Geschichtsbüchern! Zudem konnten viele Frauen weder lesen noch schreiben. Das macht es schwierig, Geschichte zu schreiben. Die Geschichte, die wir in unseren Geschichtsbüchern finden, wurde also von denen geschrieben, die es konnten und durften, und das waren sehr oft Männer. Und diese erzählten die Geschichte anderen Männern.
Wie meinst du das?
Vielleicht bemerkst du das an dir selber: Wenn du etwas erzählst, das du erlebt oder beobachtet hast, erzählst du es aus deiner Sicht. Und du erzählst es wahrscheinlich den Menschen, die dir ähnlich und am nächsten sind. Die Männer liessen die Frauen nicht unbedingt böswillig aus ihren Erzählungen aus. Sie kamen in ihrem Berufsleben einfach nicht vor. Heute erforschen wir nicht mehr nur grosse Ereignisse wie Kriege, sondern wir untersuchen auch, wie die Menschen im ganz normalen Alltag lebten. Dabei treffen wir auf ganz viele Frauen. Wir versuchen, diese Lücken zu schliessen.
Dann werden unsere Geschichtsbücher also viel dicker sein?
Ich denke nicht! Man wird einfach die Schwerpunkte anders setzen.
Warum lohnt es sich, die Vergangenheit zu untersuchen? Man kann sie ja nicht mehr ändern.
Weil man so die Gegenwart besser versteht. Und weil alle, die vor uns kamen, ein Vorbild sein können. Wenn ich zum Beispiel weiss, dass Menschen, die mir ähnlich sind, sich nicht haben unterkriegen lassen, schenkt mir das Mut. Dann traue ich mich ebenfalls, für meine Rechte und Überzeugungen einzustehen.
Im Gegensatz zu unserer Comic-Heldin Kira hast du keine Zeitreisemaschine. Wie erforschst du die Vergangenheit?
Ich durchwühle Archive, lese Briefe und Tagebücher, sichte Fotos, studiere Abstimmungsplakate, höre alte Radiosendungen und so weiter. Und ich spreche mit Frauen und Männern. Am kniffligsten ist es, Details herauszufinden: Gab es zum Beispiel 1940 schon Velolampen, ass man Orangen, hatten die Fernseher Fernbedienungen? Wie eine Detektivin gehe ich vor.
Wenn du eine Zeitreisemaschine hättest: Wohin würdest du reisen?
Am liebsten hätte ich ein GA für alle Epochen! Ich würde beispielsweise gern um 1900 mit Gertrude Bell durch den Nahen Osten reisen. Sie verstand die Welt als ein Abenteuer. Sie beriet arabische Könige, verhandelte mit nomadischen Stämmen, war an der Gründung vom heutigen Irak beteiligt, taucht aber in fast keinem Geschichtsbuch auf. Ihr Reisepartner hingegen, Lawrence von Arabien, ist weltbekannt. Oder ich würde gern die Physikerin Lise Meitner treffen. Sie entdeckte Ende der 1930er-Jahre zusammen mit Otto Hahn die Kernspaltung. Er erhielt dafür den Nobelpreis, sie nicht. Ich würde sie gern fragen: «Hat dich das wütend gemacht?»
Heute können doch eigentlich alle in die Geschichte eingehen. Jeder und jede kann sich ja im Internet ein Profil erstellen.
Tatsächlich, doch die Frage ist: Wer liest es? Es reicht nicht, dass die Information vorhanden ist. Es ist ja auch bei den Frauen so, dass viele von ihnen irgendwann schreiben konnten. Und sie schrieben zum Beispiel Tagebücher. Aber die las niemand! Erst heute kommen Leute wie ich, die sich dafür interessieren. Oder nehmen wir Wikipedia: Da dürfen alle mitmachen. Erstaunlicherweise haben aber sehr lange nur Männer mitgeschrieben, und zwar meist über Männer. Das heisst, nur weil etwas von allen für alle ist, bedeutet es nicht, dass auch wirklich alle zu Wort kommen.
Was können wir tun?
Wir können ganz genau hinschauen und nachfragen, wie Leute unsere Gegenwart erleben, mit denen wir nichts zu tun haben oder die ein völlig anderes Leben leben als wir. Das Wichtigste ist, dass wir interessiert und neugierig bleiben und dass wir nie aufhören, einander Fragen zu stellen. Und wenn wir Fragen stellen, sollten wir bereit sein, wirklich zu hören, was unser Gegenüber sagen will. Selbst wenn das, was die Person sagt, überhaupt nicht unserer Meinung entspricht. Vielleicht stellt man am Ende fest, dass es ja gar nicht so kreuzfalsch ist. Und wenn man so Gemeinsamkeiten finden kann, kommt man viel weiter – weil man zusammen vorangeht.
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