Liebes kult.kino
Das kult.kino Atelier rüstet wegen Corona um. Ich werde ihm die Treue halten. Ein Liebesbrief an das beste Kino der Schweiz.
Soweit ich zurückdenken kann, warst du immer einer meiner Lieblingsorte. Mit vier oder fünf Jahren rannte ich schon auf dir herum. Klar, damals wusste ich noch nichts von dir. Ich ahnte nicht, dass du direkt unter meinen Füssen lagst. Und dass du mich eines Tages genauso in den Bann ziehen würdest wie die wasserspeienden Skulpturen, um die ich gerade zu einem wagemutigen Slalomlauf ansetzte.
Im Tinguely-Brunnen durften Kinder damals noch herumturnen. Jedenfalls hielt mich meine Mutter nie von meinem Vorhaben ab, und neben mir tollten ständig auch andere Kinder im Wasser herum.
Manchmal war der Tinguely-Brunnen auch still. Da pumpte kein Schlauch, da drehte kein Rad, da rotierten keine Pedale. Alles war zugefroren. Was für eine Ungerechtigkeit, dachte ich damals, dass diese kleinen Skulpturen, die nichts anderes tun, als sich immer zu bewegen, einfach so zum Stillstand gebracht werden können.
Ich weiss nicht, ob die digitale orange Laufschrift schon verheissungsvoll an deiner Stirn prangte, doch Jahre später habe ich dann auch dich entdeckt, liebes kult.kino Atelier. Es war die Zeit, als meine Schulfreunde und ich die ersten abendlichen Ausflüge von der Agglo in die Stadt unternahmen und uns beim Tinguely-Brunnen versammelten. Mit grossen Träumen und mit allerlei Getränken, für die wir bestimmt noch zu jung waren.
An einem dieser Abende lief ich die grosse Treppe beim Theaterplatz hinunter und schritt durch die Glastür direkt in dein Foyer, direkt in eine neue, aufregende Welt. Das mag jetzt etwas abgedroschen klingen. Doch das, was mein Lehrer im Deutschunterricht «Epiphanie» nannte, spürte ich bei dir am eigenen Leib.
Im kult.kino wurde mir schlagartig bewusst, dass nicht nur in Hollywood gute Kinofilme gedreht werden (im Gegenteil!). Und gleichzeitig wurde ich vom Irrglauben befreit, «die Welt» bereits zu kennen, nur weil ich als Kind in Südostasien und in Kalifornien regelmässig auf Familienbesuch war.
«Je tiefer wir in die Berglandschaft vordrangen, desto mehr Einheimische trafen wir an, die kein Dach mehr über dem Kopf haben.»Che Guevara (Gael Garcia Bernal) im Film «Diarios de motocicleta»
In deinen verzauberten Sälen sah ich, wie gross die Welt wirklich ist. Da brauste ich an der Seite von Gael Garcia Bernal mit dem Motorrad quer durch Chile («Diarios de motocicleta»), da schwebte ich mit Wuxia-Meister Chow Yun-Fat durch den Bambuswald («Crouching Tiger, Hidden Dragon») und da verbrüderte ich mich mit dem in der Schule gemobbte Oskar, als dieser sich in die Vampirin Eli verliebt («Låt den rätte komma in»).
Seither schaue ich jeden Film – mit derselben Selbstverständlichkeit wie eure Programmator*innen – nicht in der Synchro-Fassung, sondern in der ihm eigenen Landessprache. Wenn mich das Kino schon in die entlegensten Winkel der Erde transportiert, dann spricht dort sicherlich niemand Deutsch.
Drei Säle hattest du damals, und ich weiss noch, dass der ohnehin schon kleine filmaffine Teil meines Freundeskreises schrumpfte, wenn unser nächster Kinobesuch im Atelier 2 stattfinden sollte. Die harten braunen Lederstühle waren für ein sofageschultes Publikum, wie wir es waren, eine Herausforderung. Aber sie waren auch ein Signal: Kino ist nicht bloss Unterhaltung und Eskapismus, sondern serious business.
«Dinge, die wir anfassen können, sind nie von Dauer. Das ist alles nur eine Illusion.»Li Mu Bai (Chow Yun-Fat) im Film «Crouching Tiger, Hidden Dragon»
Nach und nach kam diese Botschaft auch bei mir an. Vielleicht, weil direkt neben dem Saaleingang grosszügigerweise einige Sitzkissen bereit lagen. Und vielleicht auch, weil ich selbst bei den anstrengendsten Filmen nie alleine im Saal sass.
Wenn's mal hart auf hart kam, wie etwa beim Palme-d’or-Gewinnerfilm «Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives», dann mischte sich höchstens mal das sanfte Schnarchen einiger Zuschauer*innen unter die Zisch- und Gurgelgeräusche des thailändischen Urwalds.
Im kult.kino aber verliess kaum mal eine*r vorzeitig den Saal, niemand spielte während der Vorführung auf dem Handy rum, und selbst das Rascheln der Popcorntüten verkam häufig zum diskreten Hintergrundrauschen.
«Geister hängen sich nicht an Orte fest. Sondern an Menschen.»Huay (Natthakarn Aphaiwonk) im Film «Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives»
Oft tat ich gut daran, frühzeitig zu erscheinen, wenn ich bei dir einen guten Platz ergattern wollte. Das machte mir nichts aus. Die Wartezeit auf den Filmbeginn liess sich dann locker mit einem Besuch im angrenzenden Comix-Shop verkürzen oder mit der Lektüre der ausgeschnittenen Zeitungskritiken, die in der Vitrine neben dem Saaleingang hängen.
Einmal im Saal drin, nehme ich auch heute noch am liebsten sehr weit vorne Platz. Genau wie die Filmhelden in Bernardo Bertoluccis «The Dreamers» (lief der je im Atelier? gepasst hätte er). Genau wie sie will ich die «hypnotischen Bilder», wie sie sagen, als Erster sehen, «bevor sie verbraucht und abgenutzt sind».
Ich liebe diese Szene, weil sie das Kinoerlebnis als ein mechanisches und zugleich poetisches Zusammenspiel von Licht und Schatten fassbar macht.
Mit dem Erweiterungsbau im Jahr 2015 wurdest du schliesslich zum fünf Säle umfassenden Miniplex. Die ungeliebten Ledersitze im Saal 2 sind verschwunden, eine bunt-moderne Lichtgestaltung hinzugekommen. Geblieben ist eine geballte Ladung Arthouse-Power, die den Puls aller Cineast*innen regelmässig in die Höhe schnellen lässt.
Doch seit Corona ist nichts ist mehr wie zuvor. Während sich dein Betrieb – wie jener aller anderen Lichtspielhäuser – seit Monaten in der Zwangspause befindet, taucht das Kinopublikum zunehmend in den Untiefen der Streamingportale ab.
Ich gestehe: Ich bin da keine Ausnahme. Film muss sein, auch auf Biegen und Brechen, auch auf Netflix und Sky Show. Doch bedeutet dieser Wankelmut sogleich den Tod von dir und anderen Filmstätten, wie allenthalben prognostiziert wird?
Ich ziehe es vor, mit Optimismus in die Post-Corona-Zukunft zu blicken – nicht ganz ohne Grund. Dass du beispielsweise auf MyFilm.ch ein von dir kuratiertes Programm zum Streamen anbietest und an den Einnahmen beteiligt bist, erleichtert nicht nur mein Gewissen; mit etwas Vorstellungskraft (und dem harten Lederstuhl in meinem improvisierten Home Office) fühle ich mich auch aus der Ferne mit dir verbunden.
Und wie ich bei den Kolleg*innen von der bz lese, wird in deinen Sälen derzeit kräftig gewerkelt, damit du in Zukunft Vorpremieren und Diskussionen ins Netz streamen kannst. Ich kann nicht zweifelsfrei sagen, dass ich das für DIE grosse Innovation halte. Aber ich schätze es, dass du während dieser Zeit nicht untätig bleiben wolltest.
So ist es bei dir, liebes kult.kino, ähnlich wie in meiner Erinnerung mit dem Tinguely-Brunnen: Du wurdest nur dem Anschein nach zum Stillstand gebracht, doch in Wirklichkeit tut sich da was, das die ersten kleinen Risse im Eis erkennen lässt. Es mag zwar etwas mehr brauchen als ein paar warme Sonnenstrahlen, um dich wieder auf Betriebstemperatur zu bringen. Doch sobald es soweit ist, bin ich da, promise.
Denn nirgendwo ist es einfacher und aufregender die Welt zu entdecken, als bei dir – und das gilt jetzt, wo das Reisen nur eingeschränkt möglich ist, mehr als je zuvor.