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Sexualisierte Gewalt

Drei Jahre Strafe

Im Sommer 2019 zeigte Anja einen Mann wegen Vergewaltigung an, auch um andere vor ihm zu schützen. Doch drei Jahre später ist der erstinstanzlich verurteilte Täter noch immer auf freiem Fuss. Der Fall ist ein Paradebeispiel dafür, dass in Strafverfahren Täter*innen statt Opfer im Zentrum stehen.

10/18/22, 06:28 AM

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(Foto: Iris Weidmann)

Das ist eine Bajour-Recherche in Kooperation mit das Lamm. Das werbefreie, leser*innenfinanzierte Medium verzichtet auf eine Paywall und finanziert sich und seine Recherchen gänzlich aus Spenden.

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Es ist ein warmer Tag Ende August. Anja sitzt in ihrem Wohnzimmer, sie hat frei. «Es geht mir gut», versichert Anja via Zoom. In den letzten eineinhalb Jahren hat sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen, sagt sie. Sie geht in Therapie und hat einen neuen Job gefunden.

Vor drei Jahren hat Anja einen Mann wegen Vergewaltigung angezeigt. Was darauf folgte, war ein für Anja undurchsichtiger und retraumatisierender Prozess: Sie fühlt sich weder beim Unispital noch bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft gut aufgehoben (Bajour und das Lamm berichteten).

Eineinhalb Jahre nach der Tat sah das Strafgericht Basel-Stadt Anjas Aussagen als erwiesen an. Der Beschuldigte wurde wegen sexueller Nötigung schuldig gesprochen und zu 28 Monate Haft verurteilt, davon 14 Monate bedingt. Für Anja eine Erleichterung. Doch für die Staatsanwaltschaft war die ausgesprochene Strafe zu tief, für den Beschuldigten – der weiterhin auf unschuldig plädiert – zu hoch: Beide gingen in Berufung.

Disclaimer

Es geht Bajour und das Lamm in dieser Berichterstattung nicht darum, das Urteil zu werten oder jemanden vorzuverurteilen. Es geht darum, aufzuzeigen, was das Strafverfahren aus Sicht von Opfern sexualisierter Gewalt bedeutet, die durch mehrere Hürden Gefahr laufen, retraumatisiert zu werden. Wir möchten uns hiermit der Frage widmen, wie ein opferfreundliches Strafverfahren aussehen könnte.

Wir verwenden in diesem Text das Wort «Vergewaltigung», genauso wie die Geschädigte selbst, obwohl es in diesem Fall juristisch gesehen keine war: Das erstinstanzliche Urteil lautete sexuelle Nötigung. Im geltenden Strafrecht wird nur von einer Vergewaltigung gesprochen, wenn die Person «weiblichen Geschlechts» ist, der Täter sie zum «Beischlaf» gezwungen und dabei Drohung, Gewalt oder psychischen Druck ausgeübt hat.

Die Wortwahl ist insbesondere für Geschädigte ein wichtiger Punkt, weil sie das Unrecht ausdrücken soll, das ihnen angetan wurde. Diesem Punkt tragen wir in diesem Artikel Rechnung. Was künftig juristisch als Vergewaltigung gelten soll, wird zudem im Rahmen der Revision des Sexualstrafrechts aktuell neu verhandelt. Unter anderem die SP fordert, dass Vergewaltigungen an Männern genauso bezeichnet und im Straftatbestand inkludiert werden und nicht mehr (wie bis anhin) nur als sexuelle Nötigung gelten sollen.

Amnesty International Schweiz schreibt in einer Stellungnahme, dass die Tatsache, dass erzwungene «beischlafsähnliche Handlungen» im aktuellen Strafrecht nur als sexuelle Nötigung und nicht als Vergewaltigung gelten, internationalen Menschenrechtsnormen widerspricht.

Mittlerweile sind über drei Jahre vergangen und Anja ist immer noch in den Folgen dieser Vergewaltigung gefangen, während der Beschuldigte auf freiem Fuss ist. Aber was heisst das für Anja? Was läuft in diesem Prozess von der Anzeige bis zum Urteil schief? Und wie könnte ein Strafverfahren aussehen, das die Bedürfnisse des Opfers ins Zentrum stellt?

Warten, warten, warten

Kaum hatte Anja die Verhandlung am Strafgericht Basel-Stadt im Februar 2021 überstanden, ging erneut das Warten los – auf den nächsten Gerichtstermin. Monatelang fragt sie sich, wann der Brief kommt und mit wie viel Vorlaufzeit. Was, wenn sie genau dann in den Ferien ist? Was, wenn der Brief sie aus der Bahn wirft und sie wieder nicht im Stande sein wird, zu arbeiten? «Mein Leben war auf Pause», fasst Anja zusammen und seufzt.

Als der Brief mit dem Gerichtstermin im Frühling 2022 nach über einem Jahr Wartezeit endlich kommt, ist Anja aufgewühlt, aber auch erleichtert. Die Verhandlung wird am Basler Appellationsgericht stattfinden. Vier Monate bleiben ihr, um sich darauf einzustellen. Doch: Ihre Vorladung ist fakultativ. Übersetzt heisst das, dass sie nicht noch mal aussagen muss. Ihre Aussagen scheinen nicht infrage gestellt zu werden. Doch worum genau es in der Verhandlung gehen wird, weiss Anja nicht.

Obwohl sie nicht muss, möchte sie an die Berufungsverhandlung gehen. «Ich will das mit eigenen Augen sehen. Ich muss wissen, dass das erledigt ist», erklärt Anja.

«Wenn ich noch einmal die Wahl hätte, ich würde ihn nicht mehr anzeigen»

«Wenn ich noch einmal die Wahl hätte, ich würde ihn nicht mehr anzeigen»

Nur acht Prozent der Frauen, die sexualisierte Gewalt erleben, erstatten Anzeige. Zu gross ist die Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird. Anja* tat es trotzdem – und erlebte, wie die Angst berechtigt ist. Lies hier die Vorgeschichte zu diesem Artikel.

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Grundsätzlich findet Anja es richtig, dass die Staatsanwaltschaft eine härtere Strafe verlangt. «Aber dadurch läuft er immer noch frei herum, und ich konnte deshalb nicht mit der Sache abschliessen», sagt Anja. Hätte sie selbst wählen können, ob das Urteil weitergezogen wird, hätte sie es wohl sein gelassen. Die vom Strafgericht gesprochenen 28 Monate oder die von der Staatsanwaltschaft verlangten vier Jahre Haftstrafe seien beides peanuts. «Ich werde jetzt schon seit drei Jahren bestraft.»

Bestraft wird Anja insofern, als sie sich ohnmächtig und nicht sicher fühlt. Der Beschuldigte wohnt bei Anja in der Nähe. Sie hat ihn schon beim Denner vor ihrer Haustür oder an einer feministischen Aktion, die sie mitorganisiert hat, gesehen. «Das hat bei mir oft eine Panikattacke ausgelöst: Ich habe angefangen zu zittern, konnte kaum atmen, habe geweint», erinnert sich Anja.

Kürzlich sei er sogar in ihr Quartier gezogen, erzählt sie. Seine neue Adresse kennt Anja nicht – sie hat kein Anrecht darauf, sie zu erfahren. Erst wenn das neue Urteil verkündet wird, wird sie seine neue Adresse schwarz auf weiss haben. Er hingegen weiss, wo sie wohnt, da sie seit dem letzten Urteil nicht umgezogen ist.

«Ich werde jetzt schon seit drei Jahren bestraft.»

Anja*

Mittlerweile reagiere sie nicht mehr so stark, wenn sie ihn sehe, sagt Anja. «Die Wut ist so viel grösser geworden als die Angst.» Wut gegen ihn, aber auch Wut gegen den Staat, die Polizei und die Gesetze. Anja zündet sich eine Zigarette an, bevor sie sich aufrichtet und etwas näher an den Bildschirm rückt: «Ich hätte mir gewünscht, dass dieser ganze Prozess viel schneller zum Abschluss gekommen wäre.» Dass er hinter Gittern sei, und sie endlich aufatmen und abschliessen könne.

Die Tage vor der Verhandlung nutzt Anja intensiv, um sich darauf vorzubereiten. Zudem organisiert sie zusammen mit dem feministischen Streikkollektiv Basel für den Abend nach der Verhandlung eine Solidaritätskundgebung gegen sexualisierte Gewalt. Auch am Morgen werden ihre Bezugspersonen Anja begleiten. Einige werden vor dem Gericht eine Mahnwache abhalten, andere mit an die Verhandlung gehen.

«Ich bin auf alles gefasst», sagt Anja einige Tage vorher.

Kontrollverlust – schon wieder

Es ist frühmorgens in Basel-Stadt, die Sonne ist schon aufgegangen und tastet langsam die Gebäude von oben nach unten ab. Heute soll der Fall am Appellationsgericht behandelt werden. Die Stadt erwacht, der Pendelverkehr ist laut.

Nur im Gerichtssaal ist es still. Und leer. Die Verhandlung wurde am Abend vorher abgesagt.

Anja sitzt im Tram, als ihr Handy klingelt – ihre Anwältin. Sie erklärt Anja, dass die Verhandlung verschoben werden müsse, weil der Beschuldigte im Spital liege. Anja fällt aus allen Wolken. «Das kann doch nicht sein», raunt sie ins Handy. Sie beginnt zu weinen und verlässt das Tram.

Sie habe mit allem gerechnet – nur nicht damit. «Ich habe mich total verarscht gefühlt. Vor allem, weil der Skandal an dem Ganzen ist, dass der Prozess schon so lange dauert», erzählt Anja einige Tage später.

«Das Strafverfahren ist traditionellerweise täterzentriert. Das Opfer spielt in diesem System eher eine Nebenrolle.»

Nora Scheidegger, Juristin und Mitautorin des Artikels «Reformbedarf im schweizerischen Sexualstrafrecht»

Dass diese Strafverfahren so langwierig sind, sei eine der grössten Schwierigkeiten für Geschädigte von Sexualdelikten, bestätigt Sarah Schärer-Brown, Opferhilfeberaterin bei der Opferhilfestelle beider Basel.

Das Problem sei, dass das Strafverfahren auf den Täter zentriert sei. So könne es etwa einfach verschleppt werden, sagt Schärer-Brown. Im vorliegenden Fall sei die Kurzfristigkeit besonders stossend: «Für die Betroffene bedeutet das schon wieder: Kontrollverlust», so Schärer-Brown. Dieser Kontrollverlust, den die Betroffene schon in der Gewaltsituation selbst erfahren habe, wiederhole sich im Strafverfahren.

Wieso genau der Beschuldigte nicht am Verfahren teilnehmen kann, ist unklar. Seine Anwältin gibt dazu auf Anfrage von Bajour und das Lamm keine Auskunft. Christine Bucher, Sekretärin am Appellationsgericht Basel-Stadt, bestätigt aber: «Die Verhandlung wurde verschoben, weil der Beschuldigte hospitalisiert ist.» Die Verhandlung werde frühestens nächstes Jahr stattfinden, so Bucher weiter. Der Terminkalender des Appellationsgerichtes sei für dieses Jahr schon voll.

Anja wird – schon wieder – vor vollendete Tatsachen gestellt und muss sich damit zurechtfinden. Das Einzige, das sie in diesem Moment noch kontrollieren kann, ist die geplante Kundgebung: Soll sie trotz abgesagter Verhandlung stattfinden?

«Jetzt erst recht», findet Anja nach einer kurzen Besprechung mit ihren Bezugspersonen.

Zahlreiche Personen versammelten sich auf dem Marktplatz, um ihre ihre Solidarität gegenüber Opfern sexualisierter Gewalt kundzutun.

Zahlreiche Personen versammelten sich auf dem Marktplatz, um ihre ihre Solidarität gegenüber Opfern sexualisierter Gewalt kundzutun. (Foto: Betty Achterberg)

Rund 100 Personen versammeln sich am Abend der Verhandlung auf dem Basler Marktplatz. Die graue Wolkendecke, die über der Stadt liegt, steht im Kontrast zum sonnigen Morgen. Auf den mitgebrachten Schildern der Anwesenden steht «Nur Ja heisst Ja!», «Hast du nach Konsens gefragt?» oder «Wir glauben dir».

Anja hat innert 24 Stunden ihre Rede umgeschrieben, die sie für die Kundgebung vorbereitet hatte. Als sie ins Mikrofon spricht, ertönt sie laut und deutlich: «Ich habe drei Jahre auf den heutigen Tag gewartet.» Sie prangert das Strafverfahren an, das ihr ihre Privatsphäre, ihre Energie, ihre Zeit und ihr Selbstvertrauen geraubt habe.

«Heute ist mein Tag X», erzählt sie den Anwesenden. Heute schliesse sie damit ab, auch ohne Urteil.

Unterschiedliche Bedürfnisse

Das Mantra «Zeig ihn an, damit er anderen nicht dasselbe antun kann» hört man in Bezug auf Sexualdelikte oft. Auch Anja entschied sich aus diesem Grund für die Anzeige. Ihr Fall zeigt jedoch, dass die Realität dem gar nicht gerecht werden kann.

Für Anja ist schon lange klar: Sie würde nie mehr so eine Anzeige machen und es auch niemandem empfehlen. Da ist sie nicht die Einzige – bei Sexualdelikten liegt die Anzeigerate gemäss einer Studie von gfs.bern bei lediglich 8 Prozent. Nicht zur Polizei gegangen sind die Befragten aus Scham oder aus Angst, dass die Anzeige chancenlos wäre oder dass ihnen nicht geglaubt würde.

«Die Bedürfnisse der Geschädigten müssten im Strafverfahren zentral oder zumindest gleichgestellt sein wie die des Täters», sagt Sarah Schärer-Brown. Sprich: Die Kontrolle müsste bei der Betroffenen liegen. «Denn genau diese wurde ihr weggenommen und hat mehrheitlich das Trauma verursacht.»

Das würde auch berücksichtigen, dass die Bedürfnisse der Geschädigten sehr unterschiedlich seien: «Eine Betroffene möchte nie mehr etwas vom Täter wissen, eine andere möchte ihm vielleicht Fragen stellen, um das Erlebte einordnen zu können», erklärt Schärer-Brown.

Doch all diese Bedürfnisse seien im heute gängigen Strafverfahren unsichtbar. Dass die Staatsanwaltschaft wie im vorliegenden Fall gegen das Urteil Berufung einlegt, wäre bei einem opferzentrierten Strafverfahren nur mit dem Einverständnis der Geschädigten möglich, so die Opferhilfeberaterin.

Auch Nora Scheidegger, Juristin und Mitautorin des Artikels «Reformbedarf im schweizerischen Sexualstrafrecht», schreibt auf Anfrage von Bajour und das Lamm: «Das Strafverfahren ist traditionellerweise täterzentriert. Das Opfer spielt in diesem System eher eine Nebenrolle.»

Deutlich wurde das für Anja zum ersten Mal auf dem Polizeiposten: Obwohl sie sich nur über ihre Möglichkeiten informieren wollte, erstattete die Polizei Anzeige gegen den Mann, weil es sich um ein Offizialdelikt handelte. Anjas Zustimmung brauchten sie dafür nicht. Aufgrund der Schwere der Straftat sind die Strafverfolgungsbehörden dazu verpflichtet, diese zu verfolgen.

Wichtig wird die Betroffene erst wieder in der Gerichtsverhandlung, quasi ganz am Ende des Verfahrens. Sie muss erzählen, wie schlimm es denn wirklich war, wie sie sich verhalten hat und wieso. Das geschieht nicht zugunsten der Betroffenen, sondern zugunsten der Strafzumessung: Anhand ihrer Aussagen wird entschieden, wie hoch die Strafe für den Täter sein soll.

Juristin Nora Scheidegger kämpft für ein neues Sexualstrafrecht.

Juristin Nora Scheidegger kämpft für ein neues Sexualstrafrecht.

Wieso das Strafverfahren so täterzentriert ist, lässt sich nicht in einem Satz beantworten, schreibt Scheidegger weiter. Möglichst kurz gesagt: Im Strafverfahren werde die individuelle Verantwortung für das Tatunrecht ausgehandelt. Darum stehe notwendigerweise das Individuum im Mittelpunkt, über dessen Verantwortung geurteilt wird – und dem im Fall der Fälle mehrere Jahre die Freiheit entzogen wird.

Professor Karl-Ludwig Kunz, Rechtswissenschaftler und Kriminologe an der Uni Bern, schreibt dazu: «Der Staat nimmt mit dem Strafmonopol dem Opfer das Recht, die Verletzung seiner Interessen beim Täter zu ahnden.» Die staatlich betriebene Strafverfolgung entferne somit das Opfer und ersetze dessen Interessen durch den staatlichen Strafanspruch.

Wichtig wäre Sensibilisierung

Mit Blick auf das heute gängige Strafverfahren sind gemäss Scheidegger hinreichende Aus- und Weiterbildungen für alle involvierten Akteur*innen betreffend den Umgang mit Geschädigten von sexualisierter Gewalt besonders wichtig.

Damit spricht die Juristin einen Punkt an, den Anja schon vor eineinhalb Jahren anprangerte: Das Verhalten der Staatsanwaltschaft bei Anjas Befragung (Bajour und das Lamm berichteten). Die Staatsanwältin habe die Hände hinter dem Kopf verschränkt und gefragt, wieso Anja nach der Vergewaltigung halb nackt zu dem Mann an der Tramhaltestelle hingerannt sei – das tue man doch nicht nach so einem Erlebnis.

Auf die Bitte nach Stellungnahme zu Anjas Geschichte antwortete die Pressestelle der Staatsanwaltschaft damals: «Bestehen Zweifel an Aussagen eines Opfers, so müssen diese, wie bei anderen Delikten, hinterfragt werden, denn eine mögliche Verurteilung der Täterschaft ist nur möglich, wenn entsprechende Beweise bzw. Indizien vorliegen.»

«Die Aufgabe der Staatsanwaltschaft ist die Wahrheitsfindung, nicht die Wertung.»

Sarah Schärer-Brown, Opferhilfeberaterin bei der Opferhilfestelle beider Basel

Das ist kein Einzelfall, weiss Schärer-Brown. Grund für solch unsensible Fragen seien die Vergewaltigungsmythen, die immer noch in der Gesellschaft und den Köpfen verankert sind, ob bewusst oder unbewusst. Die Staatsanwaltschaft müsse zwar Fallstricke ausloten und überlegen, welche Fragen von der Verteidigung gestellt werden könnten – so würden sie zumindest unangenehme, detaillierte Nachfragen begründen.

Schärer-Brown stellt jedoch klar: «Die Aufgabe der Staatsanwaltschaft ist die Wahrheitsfindung, nicht die Wertung.» Als Befrager*in müsse man sich darauf achten, wie man die Fragen stellt und zu welchem Zeitpunkt, damit es für die Geschädigte möglichst nicht retraumatisierend ist. Hierfür wäre eine Sensibilisierung im Umgang mit traumatisierten Personen nötig.

In Basel-Stadt gibt es mittlerweile einen runden Tisch zum Thema sexualisierter Gewalt. Zudem äusserte sich Patrizia Krug, Erste Staatsanwältin im Kanton Baselland, letzten Sommer gegenüber der NZZ zu dieser Thematik: «Das Verhalten des Opfers soll nicht die zentrale Rolle spielen. Genau das aber geschieht, wenn man Frauen nach den Motiven für ihr Verhalten fragt.»

Das seien Schritte in die richtige Richtung, stellt Schärer-Brown fest. «Aber eine solche Sensibilisierung ist nie abgeschlossen.» Erstens gäbe es immer wieder neue Erkenntnisse, zweitens seien Wiederholungen zentral, damit immer wieder über das eigene Verhalten reflektiert werden könne.

Palette von Instrumenten

Ein Grund, den sowohl Sarah Schärer-Brown wie Nora Scheidegger hinter der langen Verfahrensdauer vermuten, sind personelle Kapazitäten. Ob und wie diese Verfahren beschleunigt werden könnten, lasse sich jedoch nicht allgemein beantworten, so Scheidegger. «Dazu fehlen nur schon empirische Daten zur Verfahrensdauer und den Gründen dahinter.»

Anjas Fall ist insofern speziell, als der Beschuldigte erstinstanzlich schuldig gesprochen wurde, was bei Sexualdelikten generell eine Seltenheit ist. Dann wurde der Prozess durch die Berufungen der Staatsanwaltschaft und des Beschuldigten verlängert – aufgrund der Hospitalisierung des Beschuldigten sogar ein zweites Mal.

Wenn die beschuldigte Person nicht an der Verhandlung erscheint, kann sie gemäss Art. 366 der Strafprozessordnung (StPO) in Abwesenheit der beschuldigten Person durchgeführt werden, wenn das die Beweislage zulässt. Oder die Verhandlung wird sistiert. Das Appellationsgericht Basel-Stadt wählte Zweiteres.

«Die notorisch tiefen Anzeigequoten zeigen, dass sich die meisten zu Recht nicht viel vom klassischen Weg erhoffen.»

Nora Scheidegger, Juristin, plädiert für Restaurative Justiz, eine alternative Herangehensweise zur gängigen Strafjustiz

Nora Scheidegger findet es jedoch per se problematisch, anzunehmen, dass ein Strafverfahren ein geeignetes Mittel zur Bewältigung der traumatischen Erfahrung einer geschädigten Person ist oder sein sollte. Die «notorisch tiefen Anzeigequoten» zeigen gemäss Scheidegger, dass sich die meisten zu Recht nicht viel vom «klassischen» Weg erhoffen. Genauso wie Schärer-Brown plädiert sie dafür, auf die Bedürfnisse der Geschädigten einzugehen und ihnen eine breitere Palette an «Instrumenten» anzubieten.

«Neben der Opferhilfe denke ich da insbesondere an Restorative Justice», schreibt Scheidegger. Restaurative Justiz (RJ) ist eine alternative Herangehensweise zur gängigen Strafjustiz, die in der Schweiz noch nicht institutionalisiert ist, aber in anderen Ländern schon gute Ergebnisse gezeigt hat.

Das Swiss RJ Forum möchte RJ in der Schweiz fördern. Gemäss ihrer Website betrachtet RJ Kriminalität primär als Verletzung statt als Gesetzesbruch, und hat deshalb eine Heilung zum Ziel, nicht nur Strafe. Eine der ältesten und am weitesten verbreiteten Formen der RJ sei der Dialog zwischen Opfer und Täter*in: Qualifizierte Moderator*innen ermöglichen ein freiwilliges Treffen, sodass sowohl Opfer wie Täter*in ihre Erfahrungen und Gefühle teilen, und versuchen können, den Schaden zu reparieren.

Der britische Restorative Justice Council schreibt, dass RJ Geschädigten von Sexualdelikten die Möglichkeit gebe, der Täterschaft die Auswirkungen der Tat zu erklären – Geschädigte würden gestärkt, weil RJ ihnen eine Stimme gibt.

Eine Stimme, die Anja in diesem Strafverfahren nie hatte. Sie fragt sich, ob die letzten drei Jahre einfacher für sie gewesen wären, wenn sie die Vergewaltigung ausschliesslich mit ihrer Therapeutin verarbeitet und keine Anzeige gemacht hätte. Nichtsdestotrotz läuft das Strafverfahren weiter.

Der neue Gerichtstermin am Appellationsgericht Basel-Stadt wurde drei Wochen nach dem ursprünglichen Termin kommuniziert. Er findet Anfang 2023 statt.

Doch Anja wartet nicht mehr. An der neuen Verhandlung teilnehmen wird sie nicht, «auch ein bisschen aus Protest». Sie möchte sich diese intensive Vorbereitung nicht noch einmal antun. Das Urteil wird sie feiern, wenn es dann mal da ist. Aber eigentlich wünscht sich Anja, dass sie ihren Abschluss findet, auch ohne dass das Gericht eingreift – weil sie darauf nicht vertrauen kann.

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*Name von der Redaktion geändert

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