«Es hört sich wie das Ende der Welt an, nicht wahr?»

Eugenia Senik ist Schriftstellerin aus der Ukraine und besucht regelmässig ihren Freund in Basel. Welche Welt trifft sie hier an? Und welche lässt sie zurück? Ein Gastbeitrag über Freiheit, Müll und den Luxus von Leitungswasser.

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Du sagst mir, ich sei eine freie Frau in einem freien Land. Es macht dich nicht müde, mir diese Worte immer wieder und bei jeder Gelegenheit zu wiederholen. Langsam wird es mein Lieblings-Mantra, es kommt tief in mich hinein, bis zu meinem Unterbewusstsein. Dann fange ich plötzlich an, mir diesen Gedanken selbst zu sagen. 

Wir sitzen am Rhein und beobachten die Menschen, wir beobachten das Wasser im Rhein und die Menschen im Wasser. Sie überlassen es dem Fluss, sie und ihre alltäglichen Sorgen zu tragen. Sie sind auch freie Menschen in dieser Stadt, in diesem Land.      

Ich erzähle dir von den Zeiten, als ich in der Ukraine Deutsch unterrichtete. In einer Lektion wurde Basel dargestellt als ein Dreiländereck. Es ging vor allem um Pharmakonzerne, Grenzgänger und Pendler. Letztere Wörter musste ich den Studenten mit einem langen Satz erklären, weil keine Analoge im Ukrainischen existieren. Die Bilder im Buch zeigten den Tinguely-Brunnen und ein aktives, industrielles Leben. Ob der Rhein dort war, kann ich jetzt nicht mehr sagen. Ich kann aber sicher sagen, wie sehr ich dieses Land einmal besuchen wollte. Damals mit dem Lehrbuch an der Tafel konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass ich hier mit dir am Rheinknie sitzen werde. Dass du mir sagen wirst, wie frei ich hier bin.

«Damals mit dem Lehrbuch an der Tafel konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass ich hier mit dir am Rheinknie sitzen werde. Dass du mir sagen wirst, wie frei ich hier bin.»

Du findest es unfair, dass ich nicht länger im Land bleiben darf. Es tut dir wirklich leid, dass ich bald gehen muss. Dorthin, wo ich nicht mehr so frei bin. Ich antworte, dass ich unendlich froh bin, hierher überhaupt kommen zu dürfen, um diese Freiheit zusammen mit dir zu geniessen. Auch wenn es nicht langandauernd ist, auch wenn meine Tage neben dir später an der Passkontrolle streng und nörglerisch gerechnet werden. Aber wieso muss ich jetzt darüber nachdenken? Ich lasse den Blick mit der Strömung fliessen. Meine Augen trinken gierig den Rhein, verstecken sein Antlitz hinter den Augenlidern.

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Bei dir kann ich den Wasserhahn öffnen und ganz einfach Wasser trinken, wann immer ich Durst habe. Ich höre nicht auf, das als Wunder zu sehen. Zuerst fragte ich mich ständig, ob es wirklich Trinkwasser ist. Es schmeckt aber gut und ich kann ein paar Gläser auf einmal austrinken. So ein Wasser würde mich in der Ukraine sehr viel kosten. Dabei geht es nicht nur um das Geld. Ich muss erst riesige Flaschen kaufen gehen, soviel ich tragen kann. Im Winter ist es viel schwieriger, wegen dem Schnee und Eis auf dem hier und dort kaputten Trottoir. Man muss richtig balancieren können, mit zehn bis zwölf Litern in den Händen.

Je näher ich zuhause bin, desto intensiver werden meine Sorgen. Funktioniert der Fahrstuhl jetzt? Das kann man nie im Voraus wissen, es ist wie russisches Roulette. Wenn ich Pech habe, muss ich die schweren Flaschen noch bis zum 6. Stock hinauf tragen. Denn jeder Schluck von diesem Wasser ist kostbar. Zwei Gläser auf einmal trinke ich nie. Ein Glas ist genug. 

In deinem Land denke ich immer daran, wenn ich dusche. Ich wasche mich mit Trinkwasser! Noch mehr, bei dir giessen wir Blumen und putzen mit Trinkwasser. Hast du irgendwann daran gedacht? So ein Reichtum ist bei dir im Wasserhahn.   

«Ich wasche mich mit Trinkwasser! Noch mehr, bei dir giessen wir Blumen und putzen mit Trinkwasser. Hast du je daran gedacht? So ein Reichtum ist bei dir im Wasserhahn.»

Oh, und auch in deinem Müll. Ich öffne den Abfall, um etwas wegzuwerfen und sehe den Schweizer Käse, der wahrscheinlich schon abgelaufen ist. In der Ukraine schätzt man diesen Käse als den besten in der ganzen Welt. Man wird ihn nie ablaufen lassen. Auf keinen Fall! Wenn ich Käse aus der Schweiz meiner Familie oder den Freunden mitbringe, wird er so schnell wie möglich gegessen. Auch wenn ich versuche, immer genug zu bringen, versteckt meine Schwester ein Stück in der Ecke vom Kühlschrank, damit kein Familienmitglied ihn finden kann. Am nächsten Tag gibt es ihn nicht mehr. Vielleicht, weil er im Bauch viel sicherer ist.  

Du fragst mich so aufrichtig, was man denn damit machen kann, wenn der Käse nicht mehr essbar ist. Ich lächle und antworte genauso ehrlich, man könne ihn im Bauch verstecken, bevor er schlecht wird oder nur so viel kaufen, wie man essen kann. Aber es überzeugt dich nicht, du kannst es trotzdem nicht verstehen. Dann erzähle ich dir vom Grossen Hunger in der Ukraine und erkläre, dass es mit unserer Geschichte zu tun hat. Während sieben Generationen bleibt das Gedächtnis der Tragödie. Meine Generation ist in der Mitte. Es dauert also noch, bis ich es ruhig akzeptieren kann. Und ich weiss, es ist wirklich unvorstellbar für dich, dass der Käse aus der Schweiz aus irgendwelchen Gründen so schnell verschwinden kann. Es hört sich wie das Ende der Welt an, nicht wahr?   

Du machst für uns beide Cappuccino und gibst mir die Tasse, in der ein leichtes Milchherzchen schwebt. Jeden Tag sieht das Herz von dir ganz anders aus, aber ist immer einzigartig und schön. Meine Tage neben dir galoppieren viel zu schnell, auch wenn ich wünschte, die Zeit stoppen zu können. Ich schliesse meine Augen und geniesse den Kaffee. Damit trinke ich eine Empfindung deiner Präsenz.   

Wir verabschieden uns am Flughafen und ich fliege weg. In der Ukraine muss ich mir als erstes Wasser besorgen und darf auf keinen Fall vom Wasserhahn trinken. Danach einen essbaren Käse finden. Und ja, noch einen Cappuccino mit dem Geschmack deiner Präsenz. Ich weiß, dass es ihn hier nicht gibt. Dafür suche ich mir einen Fluss, setze mich ans Ufer und schaue ins Wasser. Ich schaue so lange, bis das Wasser rein wird. Bis es Rhein wird. Dann mache ich wieder die Augen zu. Nun jetzt sitze ich endlich am Rhein. 

Auch wenn du mich vermissen wirst, komm mal zum Rhein. Dort bin ich auch. So können wir weiter schweigend sitzen und die Menschen beobachten, die das Wasser trägt.    

Eugenia Senik (34) ist Schriftstellerin aus Luhansk in der Ukraine (ein Kriegsgebiet in Donbass). Sie ist Autorin von vier Romanen, ihr aktuelles Buch «Das Streichholzhaus» handelt von internationalen Obdachlosen in der Schweiz und wird in naher Zukunft auf Deutsch übersetzt.

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