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Derfiir und derwiider

Liebe Ökonom*innen, was haltet ihr vom Mindestlohn?

Der Mindestlohn ist ein Segen für Wenigverdienende, glauben Linke. Bürgerliche dagegen fürchten: Er zerstört die letzten Jobs für Geringqualifizierte. Ja, was jetzt? Wir haben Wirtschaftswissenschaftler*innen gefragt.

05/12/21, 02:30 AM

Aktualisiert 05/12/21, 08:08 AM

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leerer Kühlschrank

Ohne Mindestlohn bleibt bei Angestellten bestimmter Branchen nicht viel übrig am Monatsende. (Foto: Enrico Mantegazza/Unsplash)

Die Linken sind für den Mindestlohn, die Bürgerlichen dagegen und zwar aus dem gleichen Grund: Sie fürchten um die Existenz der Menschen mit kleinem Portemonnaie. 

Die Linke argumentiert, verkürzt gesagt: Auch Menschen ohne Lehre müssen von ihrem Lohn leben können, das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Die Bürgerlichen halten dagegen: Ein Mindestlohn kostet die Unternehmen zu viel Geld und vernichtet Arbeitsplätze, am Schluss haben Menschen ohne Ausbildung gar keine Arbeit mehr. 

Was stimmt? 

Auch die Ökonom*innen sind sich uneinig, die Wissenschaft gibt keine klaren Antworten – es finden sich Studien für beide Seiten.

Darüber stimmt Basel ab:

1.Die «Kein Lohn unter 23 Franken»-Initiative fordert einen Mindestlohn von 23 Franken. Unterstützt wird der Vorstoss von der SP, den Grünen, BastA! sowie mehreren Gewerkschaften.

2. Der Gegenvorschlag der Regierung sieht 21 Franken die Stunde vor sowie viele Ausnahmen (z.B. GAV sind ausgenommen und damit etwa die Gastrobranche)

3. Gar keinen Mindestlohn. Das fordern unter anderem der Basler Gewerbeverband und Wirteverband sowie die bürgerlichen Parteien (FDP, Mitte, GLP, SVP und LDP)

Neuchâtel als Vorbild für Basel?

Die Linken zitieren gerne eine Studie aus Neuchâtel. Der Kanton hat 2018 einen Mindestlohn eingführt. Ökonom Bruno Lanz von der Uni Neuchâtel hat zusammen mit seinem Kollegen Markus Berger etwa 100 Restaurants in Neuchâtel und angrenzenden Regionen vor und nach Einführung des Mindestlohns untersucht. Sie schauten sich unter anderem die Löhne, die Mitarbeiter*innenanzahl und die Preise der Gerichte an.

Die Resultate sehen gut aus:

  • die Löhne von Niedriglohn-Empfängern in Neuchatel sind mit dem Mindestlohn gestiegen

  • die Angestellten konnten dadurch auf Sozialhilfe verzichten, sodass die Kosten für den Staat gesunken sind. 

  • der GAV in Restaurants wurde dank Mindestlohn neu durchgesetzt (er galt schon vorher, die Löhne waren teilweise aber tiefer als der GAV vorsah)

  • auch Angestellte mit höheren Löhnen verdienten mehr, es kam zu einer Art Übertragungseffekt, wahrscheinlich, um die Hierarchie der Löhne aufrecht zu erhalten

In Neuchâtel hat sich der Mindestlohn laut Studie also bezahlt gemacht – zumindest für die 100 untersuchten Restaurants in dem untersuchten Zeitraum. Die Basler Mindestlohnbefürworter*innen sagen deshalb gerne: Schaut, in Neuchâtel, da klappt es doch auch sehr gut.

«Ich wäre vorsichtig damit, die Studie auf andere Kantone zu übertragen.»

Bruno Lanz, Ökonom Uni Neuchâtel

Aber lassen sich Ergebnisse einer so kleinen Stichprobe einfach auf Basel übertragen? 

Video-Anruf beim Studienautor Bruno Lanz. Der Volkswirt zeigt sich überrascht, dass seine Studie so eine grosse Rolle in der Basler Diskussion spielt. Er sagt: «Wir haben die Studie unabhängig und gewissenhaft durchgeführt, aber ich wäre vorsichtig damit, die Studie auf andere Kantone zu übertragen. Wir haben Effekte auf Restaurants in Neuchâtel angeschaut, das heisst nicht unbedingt, dass das Gleiche für Basel gilt.»

Basel und Neuchâtel sind nicht identisch, auch wenn es gewisse Ähnlichkeiten gibt. Beide Kantone liegen an der Landesgrenze zu Frankreich – ein Einkauf, Coiffeur- oder Restaurantbesuch ist für Basler*innen und Bürger*innen aus Neuchâtel im EU-Ausland (in nicht-Pandemiezeiten) problemlos möglich.

Doch: «Es ist sehr schwer, vorab ein komplettes Bild zu haben», sagt Lanz. Die Auswirkungen eines Mindestlohns hängen von vielen Faktoren ab: Von dem Sektor, der geographische Situation, der Marktkraft, vom Wettbewerb. «Das alles macht eine Vorhersage sehr schwierig», sagt Bruno Lanz. Auch die Höhe des Mindestlohns spiele eine Rolle. Der angestrebte Mindestlohn in Basel ist drei Franken höher als der in Neuchâtel, aber auch die Grundlöhne in Basel sind höher. «Also sind die Ausgangslagen unterschiedlich», so Lanz.

«Selbst, wenn alles so ist, wie die Studie aus Neuchâtel zeigt – die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind jetzt dramatisch schlechter.»

Conny Wunsch, Ökonomin Uni Basel

Ähnliche Zweifel hat auch Conny Wunsch, Professorin für Arbeitsmarktökonomie an der Uni Basel. «Selbst, wenn alles so ist, wie die Studie aus Neuchâtel zeigt, kann man das auf die jetzige Situation auf keinen Fall übertragen, weil die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dramatisch schlechter sind», sagt Wunsch. 

Sie spielt auf die Corona-Krise an, die während der Einführung des Mindestlohns in Neuchâtel noch in weiter Ferne lag. Auch die Grenzsituation sei eine andere, meint Conny Wunsch, weil es nicht nur die Nähe zu Frankreich, sondern auch zu Deutschland gebe. «Wie viel das ausmacht, ist schwer zu sagen. Wir können nur sagen, ob es wahrscheinlich ist, dass diese oder jene Effekte eintreten.» Und durch die Corona-Krise bewertet die Ökonomin die Risiken für negative Auswirkungen als sehr wahrscheinlich.

Risiken durch höhere Löhne

Solche befürchten auch die Basler Bürgerlichen. Sie sehen vor allem folgende Risiken:

  • Konkurse, ergo weniger Jobs und mehr Entlassungen im Niedriglohnsektor
  • Höhere Preise in Restaurants (um die höheren Löhne zu zahlen)

Die Daten aus Neuchatel stützen diese Befürchtungen nicht, sagt Ökonom Lanz. Und auch die Literatur zeigt keine solchen Effekte, zumindest bei den Entlassungen, sagt Conny Wunsch. Ein Beispiel ist dafür zum Beispiel Deutschland, wo ein Mindestlohn 2015 eingeführt wurde – ohne nennenswerte negative Beschäftigungseffekte. 

Anders bei den Preisen: Im Gegensatz zur Neuchatel-Studie zeigen andere Forschungen durchaus erhöhte Preise aufgrund des Mindestlohns. In guten Zeiten kein Problem, während einer Wirtschafts-Krise wie jetzt aber schon, sagt Ökonomin Wunsch: Als Deutschland den Mindestlohn einführte, war die wirtschaftliche Lage gut «Die Unternehmen konnten die Kostenerhöhung auf ihre Kunden abwälzen. Aber durch Corona sind wir jetzt in einer ganz anderen Lage.»

Wunsch ist deshalb überzeugt: Ein Mindestlohn würde die Unternehmen momentan noch zusätzlich belasten». Ein Argument, das übrigens auch der Basler Gewerbe- oder Wirteverband vorbringen.

Gerade in der Gastronomie sehe man trotz Kurzarbeit schon enorme Effekte auf dem Arbeitsmarkt: «Die Arbeitslosigkeit ist massiv gestiegen», sagt Wunsch. «Es kann sein, dass der Mindestlohn die Lage der Unternehmen verschärft, weil Löhne nicht nach unten angepasst werden können. «Das ist einer der Gründe, warum Arbeitslosigkeit entstehen könnte, weil in solch einer Situation Menschen entlassen oder nicht neu eingestellt werden.»

Der Grund: Möglicherweise können es sich die Betriebe aktuell nicht «leisten», die Preise zu erhöhen, weil sie befürchten, dass Kund*innen zur Konkurrenz (im Ausland) gehen, weil diese durch die Krise weniger Geld in der Tasche haben.

Unser Mindestlohn liegt bei 40 Franken.

Es bleibt allerdings beim Konjunktiv: Welche wirtschaftlichen Folgen ein Mindestlohn für Basel-Stadt hat, kann heute niemand mit Sicherheit sagen. 

So weit die Ökonomie. Aber: Die Frage nach einem Mindestlohn ist auch eine politische. 

Ökonom Bruno Lanz findet: «Viel in der Mindestlohn-Diskussion hat mit Fairness zu tun.» Damit, welche Löhne eine Gesellschaft für fair hält und wer dafür aufkommen muss.

Freiwillig zahlen die Unternehmen nicht mehr

Eine Branche, die profitieren würde, wäre für Bruno Lanz eindeutig die der Food-Kurier*innen, die aktuell sehr niedrige Löhne bekommen. «Das ist ein Sektor, in dem es fast keine Regulierung gibt. Und die Plattformen stellen Arbeiter ein, die den Job unbedingt brauchen und so ziemlich alles für einen Lohn machen würden.» Einige Liefer-Plattformen hätten eine dominante Stellung im Markt, deshalb könnten sehr niedrige Löhne zahlen. «In solchen Fällen ist eine Regulierung berechtigt», meint Lanz. Ein Mindestlohn könnte hier sogar die Beschäftigungszahl erhöhen, weil viele Menschen lieber arbeitslos seien, als für diesen extrem geringen Lohn zu arbeiten. Das ginge auf Kosten des Staats.

Conny Wunsch sieht es ein wenig anders: «Wenn genügend Leute bereit sind, zu diesen niedrigen Löhnen zu arbeiten, dann müssen die Unternehmen auch nicht mehr bezahlen. Unternehmen wollen Gewinne maximieren, deshalb ist klar, dass sie nicht freiwillig 20 Prozent mehr Lohn anbieten.»

Zwar sagt auch sie: «Man muss sich fragen, was das Ziel eines Mindestlohns ist». Oftmals sei es der politische Wunsch, Armut zu reduzieren. «In der Schweiz sind aber niedrige Stundenlöhne nicht unbedingt der Grund, dass die Leute unterhalb der Armutsgrenze sind.» Das liege an anderen Dingen, wie dem Gesamteinkommen eines Haushalts, dem Arbeitspensum oder der Unvereinbarkeit von Familie und Beruf.

Es geht um den politischen Willen

Ausserdem gibt sie zu bedenken: «Die Idealvorstellung ist, dass Unternehmen einfach ihre Gewinne reduzieren, um höhere Löhne zu zahlen», sagt Conny Wunsch. «Aber können sie das wirklich oder passen sie Preise an, verzichten auf Weiterbildungen oder andere nicht-direkte Lohnbestandteile?» 

Irgendwer bezahle die höheren Löhne. Angesichts der Corona-Krise hält Wunsch den Mindestlohn aktuell für eine schlechte Idee – «bei allem Verständnis für die Motive». Den Gegenvorschlag hält sie für deutlich weniger problematisch. «Denn Sie müssen sich überlegen: Wenn Sie einen Stundenlohn von 20 auf 21 Franken erhöhen, sind das 5 Prozent mehr Lohn. Auf 23 sind es schon 15 Prozent mehr. Das ist viel! Und je höher der Anteil ist, den die Lohnkosten an den Gesamtkosten des Unternehmens ausmachen, desto problematischer ist das.» 

Die reine ökonomische Lehre gibt es beim Mindestlohn nicht. Am Ende geht es auch um den politischen Willen.

Kurzkommentar

von Ina Bullwinkel

Soll Basel einen Mindestlohn bekommen? Die Frage lässt sich für Ökonom*innen nicht mit einem kurzen Ja oder Nein beantworten. Für die Basler Stimmbevölkerung macht es das nicht unbedingt leichter. Schliesslich sind die Effekte momentan nicht wirklich abzusehen, und es scheint, als ginge es auch ums Bauchgefühl. Das ist vielleicht nicht verkehrt, wenn man eher in politischen denn ökonomischen Kategorien denkt: Will ich, dass es Betriebe gibt, deren Geschäftsmodell darauf basiert, extrem niedrige Löhne zu zahlen? Bin ich bereit, im Supermarkt, im Restaurant und beim Coiffeur mehr zu bezahlen, damit die Angestellten ihren Lebensunterhalt einfacher bestreiten und in die 3. Säule einzahlen können? Denn eines ist klar: Wer schon in jungen Jahren nur das Minimum verdient, wird auch im Alter keine grossen Sprünge machen. Aber wie Conny Wunsch sagt: Irgendwer muss die höheren Löhne zahlen. Und das geht nur gesamtgesellschaftlich.

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