«Ein Bettelverbot allein nützt nichts»

Journalist*innen und Bürgerliche Politiker*innen beziehen sich gerne auf ihn, um Roma-Bettler*innen in Verbindung mit «Menschenhandel» zu bringen: Den Berner Fremdenpolizei-Chef Alexander Ott. Er aber spricht weder von «mafiösen Strukturen» noch von einfachen Lösungen. Dafür von einem ausbeuterischen System, das die Schweiz explizit fördert.

Fremdenpolizei Bern
Alexander Ott

Die «BaZ» hat ihn interviewt ebenso wie die «NZZ» und der neue «Nebelspalter» und die Basler Behörden haben bei ihm Rat gesucht. Alexander Ott leitet die Berner Fremdenpolizei und gilt als der Mann, der mit dem Projekt «Agora» vor zehn Jahren das Bettelproblem in der Stadt Bern gelöst hat.

Alexander Ott, die BaZ schreibt, dass Sie sich Sorgen machen wegen der Situation mit den rumänischen Bettler*innen in Basel. Warum machen Sie sich Sorgen?

Es hat mich einfach sehr erstaunt, dass in Basel nun auch Kinder beteiligt sein sollen. Wir hatten diese Situation in Bern in den Jahren 2008, 2009.

Wie haben Sie damals auf die bettelnden Kinder reagiert?

Wir haben in der Stadt Bern kein Bettelverbot, bis heute nicht. Wir verfolgten damals und auch heute einen ganzheitlichen Ansatz namens «Agora». Unter Beteiligung aller involvierten Behörden. Die Kantonspolizei, die Kinderschutzbehörden, der Sozialdienst, die zuständige ausländische Vertretung (Konsulat), fedpol, IOM, die zuständigen Stellen des EDA (AMS) und auch Vertreter im Herkunftsland.

Erklären Sie.

Bis 2008 wurden ausländische Bettelnde ohne ganzheitliche Abklärungen weggewiesen, wenn sie die Einreisevoraussetzungen nicht erfüllten und/oder die öffentliche Ruhe und Ordnung störten.

Basel-Stadt hat letzte Woche auch 19 Bettler*innen weggewiesen. Hat das in Bern nichts genützt?

Mit dem Vorgehen vor 2008 wurde das Problem nur verschoben. Das Schlüsselereignis war dann eine ausländische Frau, die mit einem Kleinkind in den Armen bettelte – es zeigte keine Reaktionen, sondern schien dauernd zu schlafen. Abklärungen im Kinderspital in Bern zeigten, dass das Baby mit einem Beruhigungsmittel stillgelegt worden war. Zudem handelte es sich gar nicht um das leibliche Kind der bettelnden Frau.

«Das Baby war bei uns ein Einzelfall. Direkte Fälle von ausgeliehenen Kindern hatten wir sonst keine.»

Woher hatte sie denn das Baby?

Wir haben mit Hilfe einer Übersetzerin mit der Frau gesprochen. Sie sagte uns, das Kind stamme aus ihrem Umfeld. Sie habe das Kleine von der Kindsmutter ausgeliehen und auch dafür bezahlt, um mit dem Baby Mitleid zu erwecken und mehr Geld generieren zu können.

Von diesem Baby haben Sie in den letzten Jahren schon vielen Journalist*innen erzählt, ich habe in mehreren Zeitungen über diesen Fall gelesen. War das ein Einzelfall oder hatten Sie noch mehr Hinweise auf vermietete Kinder?

Das Baby war bei uns ein Einzelfall. Direkte Fälle von ausgeliehenen Kindern hatten wir sonst keine, beziehungswiese verlagerte sich das Phänomen nach unserer Intervention weg aus der Stadt Bern. Bei weiteren Kontrollen wurden Kinder festgestellt, die einen anderen Wohnsitz hatten als ihre Begleitpersonen. Dabei gelang es im Rahmen der regelmässigen Abklärungen, sowohl die Identität festzustellen als auch mit den leiblichen Eltern Kontakt aufzunehmen.

Ist das kriminell? Wir haben in Basel mit mehreren Grossfamilien gesprochen. Dort waren Nichten und Neffen mit Onkel und Tanten unterwegs. Oder wenn ich mit meinem Gottenkind unterwegs bin, ist das ja auch nichts Aussergewöhnliches.

Ja, aber ich nehme an, Sie legen Ihr Gottikind nicht bei Minustemperaturen vor einen Einkaufsladen auf den kalten Boden, geben ihm Beruhigungsmittel, damit es nicht schreit und nutzen diese Situation, um bei Passanten Mitleid zu erwecken und damit Geld zu verdienen.

Ah, jetzt reden wir wieder von dem offenbar gemieteten Baby. Haben Sie noch weitere Kinder kontrolliert, denen es gesundheitlich nicht gut ging?

Nein, haben wir nicht.

Sind die Berner Behörden wegen eines einzigen Buschis davon ausgegangen, dass es unter den Bettler*innen aus dem Osten kriminellen Kindertausch gibt?

Wir haben im Austausch mit Behörden in Rumänien und Österreich festgestellt, dass der Einzelfall in Bern international gesehen eben kein Einzelfall darstellt. Es handelt sich um eine Praxis, die verbreitet ist. Ob man es als kriminell bezeichnen kann, wenn innerhalb einer Grossfamilie verwandte Kleinkinder weitergereicht werden, möchte ich nicht beurteilen.

«Man müsste auch zugeben, dass wir in der Schweiz ein Niedriglohnsegment beschäftigen, von dem wir alle direkt oder indirekt profitieren.»

Minderjährige heisst unter 18 Jahre alt. Mit wievielen Kindern hatte die Stadtberner Fremdenpolizei insgesamt Kontakt?

Nach dem Fall mit diesem Baby stiessen wir im Rahmen von Agora auf insgesamt fünf Jugendliche, also alleinreisende minderjährige ausländische Bettelnde.

Fünf Jugendliche. Was ist mit Ihnen passiert?

Wir versuchten in einer ersten Phase, die Identität abzuklären, Erziehungsberechtigte ausfindig zu machen und die Kinder zu ihren Eltern bzw. Verwandten zurückreisen zu lassen. Wenn das nicht klappt, nutzen wir die im Zusammenhang mit Agora etablierte Kooperation mit der Drehscheibe Wien.

Eine Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Wien.

Ja, dort arbeiten Fachpersonen wie zum Beispiel Sozialpädagog*innen. Und die begleiten minderjährige alleinreisende ausländische Personen von Wien aus wieder zurück in ihre Heimatländer, wo sie in sogenannten Schutzhäusern untergebracht werden. Das wird von NGOs und österreichischen Hilfsorganisationen finanziert.

Und die Drehscheibe hat garantiert, dass die Kinder im Heimatland sicher aufwachsen und nicht wieder auf der Strasse landen?

Die Schutzhäuser bieten Unterkunft und Betreuung. Ob damit in den Herkunftsstaaten auch eine solche Garantie verbunden ist, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls haben wir Kinder, die so zurückgeführt wurden, bei uns nie wieder festgestellt.

Aber konnten Sie garantieren, dass diese Heime anständig geführt wurden?

Garantieren kann man nie etwas. Vor allem ist es schwierig, aus der Schweiz für eine Situation in einem anderen Staat eine Garantie abzugeben. Ich bin im Rahmen einer Kontaktgruppe Schweiz-Rumänien persönlich in die Herkunftsstaaten (Rumänien, Bulgarien und Bosnien) gereist und habe mir solche Institutionen vor Ort zeigen lassen. Als wichtige Partnerorganisation nutzen wir die Kontakte der Internationalen Organisation für Migration (IOM), welche vor Ort gut vernetzt ist und auch gewisse Unterstützung anbieten kann.

«Wir» ist die Stadt Bern. Wieviel Geld haben Sie gezahlt? Falls Basel-Stadt auch ein solches Projekt aufgleisen möchte, wieviel würde das kosten?

Was die Etablierung von Agora in finanzieller Hinsicht gekostet hat, ist schwer abzuschätzen, da es sich um ein Engagement handelt, welches freiwillig erfolgte. Wir hatten den Vorteil, dass alle Partnerorganisationen den Sinn erkannten und das Vorgehen unterstützten. Das Konzept Agora und auch die Kontakte zu den Partnerorganisationen bestehen nach wie vor: Wir haben seit Agora einfach keine bettelnden Kinder mehr in der Stadt Bern festgestellt.

Sie haben mit diesem Vorgehen insgesamt 5 bettelnde Minderjährige und ein Baby aufgelesen und seither ist das Problem gelöst?

Sechs, ja. Und wir haben eine Wirkung erzielt. Die Stadt Bern ist nicht mehr attraktiv für Bettelnde, welche Minderjährige für ihre Zwecke ausnützen. Und Sie müssen wissen, dass wir mit den rumänischen Behörden zusammengearbeitet haben. Diese haben die Vorgehensweise in Rumänien publik gemacht. Offenbar wurde bekannt, dass man in Bern mit Kindern nicht betteln kann. Das war eine wichtige Message, die sich schnell verbreitet hat. Deshalb kamen nachher keine Minderjährigen mehr.

Bettelnde Frau in Basel
Gehört zum Basler Stadtbild. Oder? (Bild: Keystone)

In der «NZZ» hiess es in Bezug auf die Fremdenpolizei Bern, das Betteln sei eine Art von Menschenhandel. Das tönt krass.

Ja, lesen Sie die Dokumentation über den Menschenhandel-Ring von einem Rumänen namens Titi in der NZZ vom 19. Februar 2020. Kennen Sie diese Recherche?

Moment, ich muss das nachlesen (hier im Original auf Englisch). Also: Gemäss der Journalistin und der britischen Staatsanwaltschaft soll ein Mann namens Titi Kinder armer rumänischer Familien regelrecht versklavt und in England zum Betteln und Stehlen gezwungen haben. In London wurden 100 Personen verurteilt, Titi selbst aber nicht, wenn ich das richtig verstehe. Das laut Journalistin und Menschenrechtsorganisationen korrupte Gericht in Rumänien sprach Titi allerdings wegen mangelnder Beweise frei. Gilt die Unschuldsvermutung für Bettler*innen in Basel und Bern nicht?

Selbstverständlich gilt die Unschuldsvermutung für alle. Der französische Soziologe Olivier Peyroux hat sich allerdings ebenfalls mit dem Thema befasst. Das Problem ist: Die Familien in Rumänien haben keinerlei Zukunftsperspektiven, das nutzt der Menschenhändlerring aus.

Aber der Angeklagte kam frei, oder? Wurde Menschenhandel im geschilderten Ausmass im Zusammenhang mit Betteln je bewiesen?

Gemäss unseres Wissens gibt es sehr wohl Verurteilungen wegen Zwangsbettelei. Ob dabei jeweils der effektive Straftatbestand des Menschenhandels oder «nur» Wucher, Nötigung und Drohung bewiesen werden konnte, entzieht sich unserer Kenntnis. Ein ähnliches Verfahren wie im Fall Titi hatte man in Salzburg, da ging es um organisierte Bettelei. Dort gab es ebenfalls Verurteilungen. Vergleichen Sie dazu auch, was Daniel Dury, Präsident der Menschenrechtsliga Haute-Savoie, sagt.

Was sind das für Personen, diese verurteilten Menschenhändler*innen?

In den geschilderten Verfahren handelte es sich um Landsleute aus den eigenen Gruppierungen.

Was heisst Gruppierungen? Ich frage das, weil in Basel sprechen Politiker*innen gerne von «mafiösen Strukturen», die Polizei dagegen von «Bandenmässigem Betteln». Wir von Bajour haben mit Bettler*innen geredet und trafen auf Grossfamilien.

Das Wort «mafiös» habe ich nie ausgesprochen. Wir stellen fest, dass es Abhängigkeitsstrukturen gibt. Und diese Abhängigkeitsstrukturen können auch familiär sein. Grossfamilien haben auch Hierarchien.

«Wir stellen oft fest, dass die ‹Einnahmen› regelmässig abgeschöpft werden.»

Gut, das haben wohlhabende Schweizer Familienunternehmen teilweise auch: Patrons, die ihre Söhne rumkommandieren und so weiter.

Ich rede in Zusammenhang mit den von uns hier besprochenen Roma-Grossfamilien von Abhängigkeitsstrukturen. Gruppierungen von 200 bis 300 Leuten, die alle denselben Namen tragen. Ganz zuunterst sind die Frauen.

Ein Soziologe der Fachhochschule Nordwestschweiz hat die Basler Bettler*innen Monate lang begleitet. Er sah auch Hierarchien, häufig seien aber die Frauen Chefinnen.

Das könnte ich jetzt weder bestätigen noch dementieren. Wir beobachten die bettelnden Personen und versuchen die Funktionsweise der «Zusammenarbeit» zu verstehen. Wenn wir Kenntnisse haben, das irgendwo einer vor einem Laden sitzt, dann gehen wir nicht einfach hin und kontrollieren ihn.

Sondern?

Wir beobachten, was vor sich geht. Ob ein bestimmtes Muster erkennbar ist und ob die bettelnden ausländischen Personen gruppenweise aktiv sind. Wir achten darauf, wie sich diese Person verhält. Dabei stellen wir oft fest, dass die «Einnahmen» regelmässig abgeschöpft werden.

Das heisst?

Jemand anders kommt vorbei und sammelt das erbettelte Geld ein. Wir verfolgen solche sogenannten Läufer und können dann beobachten, wie das Geld verpackt wird. Oft dienen die Autos, mit denen die Bettelnden eingereist sind, als Stützpunkt. Es herrscht eine Arbeitsteilung, welche dazu dient, das Geld ins Herkunftsland zu verschieben. So ergeben sich dann Mosaikstein nach Mosaikstein.

Und was folgern Sie aus diesen Mosaiksteinchen?

Dass die Bettelei durchstrukturiert und hierarchisch organisiert ist. Interessant ist nämlich: Es gibt noch eine weitere Ebene von Personen, die das Erbetteln von Almosen und das Einsammeln des Geldes beobachten. Diese Leute navigieren die Szene mit Natels: Wo hat es Polizei, wo finden Kontrollen statt?

Eine Art Späher*innen?

Wenn wir diese Leute kontrollieren, stellen wir fest, dass die schon mehrfach polizeilich in Erscheinung getreten sind. Unter anderem oft wegen Diebstahls, illegalen Aufenthalts, wegen Einbruchs, wegen Betäubungsmitteldelikten, wegen Verdachts auf Menschenhandel in den nordischen Staaten, zum Beispiel Dänemark, Finnland oder Schweden. Diese «Führungsebene» bettelt selbst nicht. Sie organisieret den Prozess. Und wenn wir dies sehen, da bekomme ich schon das Gefühl, dass wir es mit Clanstrukturen zu tun haben.

Geht's genauer?

Und wenn jetzt der Bettler am Boden seinem Verwandten auf der dritten Ebene nicht gehorcht?

Dann hat das Konsequenzen. Welche genau, können wir nicht bezeichnen. Wir wissen aus Erfahrung, dass sie dann zur Strafe mehr Geld anschaffen oder stehlen müssen, vor allem die Jugendlichen. Oder die Frauen müssen – ja schauen Sie, was in Zürich am Sihlquai passiert ist.

Am Sihlquai war der Drogenstrich. Habe ich Sie richtig verstanden: Glauben Sie, wenn eine Bettlerin in Basel zu wenig Geld erbettelt, muss sie auf den Strich?

Wir wissen, dass im Rahmen der Kontrollen am Sihlquai Prostituierte festgestellt wurden, die zuvor auch als Bettelnde eingesetzt wurden. Wir schliessen es somit nicht aus. Ob sich eine vergleichbare Situation in Basel anbahnt, kann ich nicht sagen.

Sie sagen gerne: Es ist möglich. Aber Beweise haben Sie keine?

Ich kann nur das bestätigen, was wir selbst festgestellt und zur Anzeige gebracht haben. Weiter kann ich Zusammenhänge aufzeigen und die Konsequenzen, die sich daraus ableiten. An diversen Orten in der Schweiz und in Europa manifestiert sich dann das, wofür Sie einen Beweis verlangen. Im Zusammenhang mit der organisierten Bettelei müssen Sie auch den Zwangsehebereich berücksichtigen.

«Eigentlich hat jeder EU-Staat die Verantwortung für seine Staatsangehörigen zu übernehmen. Wenn Länder dieser Verantwortung nicht nachkommen, ist das ist ein Skandal.»

Was hat Zwangsehe mit Betteln zu tun?

Fragen Sie mal junge ausländische Bettlerinnen, die mit 13/14 Jahren geheiratet haben, inwiefern dies selbstbestimmt geschah. Weiter sollten Sie sie fragen, was ihnen widerfährt, wenn sie sich gegen den Willen ihres Mannes auflehnen?

Haben Sie Beweise, dass Frauen zwangsverheiratet und später von ihren Männern zum Betteln geschickt wurden?

Zwangsverheiratet können wir so kaum beweisen, weil sie keine entsprechenden Aussagen machen. Allerdings herrscht unter den von uns beobachteten Grossfamilien ein striktes Patriarchat. Vor allem die bettelnden Frauen sind bildungsfern und haben in den meisten Fällen, wenn überhaupt, nur eine rudimentäre Schulbildung. Unser Appell wäre, dass man die Emanzipation dieser Frauen in ihrem Herkunftsland stärkt, sie ausbildet. Dann heiraten sie auch nicht mit 14 Jahren.

Patriarchale, hierarchische Familienstrukturen sind aber kein Beweis dafür, dass die Bettler*innen in der Schweiz sich kriminell verhalten, oder?

Uns geht es darum, dass man das organisierte Betteln in einem Gesamtkontext betrachtet. Dass ein archaisches, patriarchalisches Familienverständnis, in dem der oder die Einzelne nichts gilt, den Nährboden für Ausbeutungssituation bildet. Die Lebensumstände von Roma in Bulgarien oder Rumänien sind für uns schwer vorstellbar. Besuchen Sie das Viertel Ferentari in Bukarest.

Was ist das für ein Viertel?

Im Ferentari-Quartier sind die Roma ausgegrenzt, geniessen keine Bildung und verharren in unzumutbaren Umständen. Sie haben keinerlei Perspektiven. Dies führt dazu, dass sie leicht für jegliche Art von Geldverdienen rekrutiert werden können. Freiwillig oder unwissend begeben sie sich damit in Ausbeutungssituationen oder werden selbst zu Tätern. Aber wissen Sie, was mich stört?

Was stört Sie?

Eigentlich hat jeder EU-Staat, und dazu gehört auch Rumänien, die Verantwortung für seine Staatsangehörigen zu übernehmen. Die EU-Sozialcharta verpflichtet dazu, den Bürgern ein bedarfdeckendes System sozialer Sicherheit zu gewährleisten. Wenn einzelne Länder dieser Verantwortung nicht nachkommen, dann ist das ist für mich ein Skandal.

Roma in Basel sagen teilweise: Lieber hier in Basel betteln, als in Rumänien beschimpft werden.

Genau! Hier gilt es mehrere Ebenen zu betrachten. Es gibt in Rumänien ernsthafte Bemühungen, die Roma-Minderheit im Arbeitsmarkt zu integrieren. Dies kann aber nur gelingen, wenn die Betroffen sich auch dafür zur Verfügung stellen. Falls sie dennoch Diskriminierung im Herkunftsstaat erfahren, sollte die Politik aktiv werden. Verbote nützen da wenig. Dies kann nur mit politischem und öffentlichem Druck geschehen. Man muss die Staaten auch auf oberster politischer Ebene in die Verantwortung ziehen, dass sie sich für ihre Bevölkerung einsetzen; auch für Minderheiten.

Aber wenn wir sie einfach abschieben, dann...

Wir weisen ausländische Personen aus EU-Staaten erst dann aus der Schweiz weg, wenn sie wiederholt gegen Sicherheit und Ordnung verstossen haben. Wir sind aber nicht nur repressiv tätig. Wir versuchen kriminelle Machenschaften und Strukturen aufzudecken und Ausbeutungssituationen zu verhindern. Dazu machen wir auch entsprechend Druck.

«Nur weil jemand nach Essen bettelt, wird niemand, nirgendwo in der Schweiz weggewiesen.»

Wie machen Sie Druck?

Wir haben einen Kooperationsmechanismus etabliert, der sich zur Verhinderung von Ausbeutungssituationen bewährt hat.

Sie meinen das beschriebene Projekt, Agora?

Ja, wir haben dazu unter anderem auch Kontakte zu Rumänien und Bulgarien geknüpft. Wir können keinen direkten Druck ausüben. Doch denke ich, dass Agora als best practice beispielhaft ist und auch andere wirksame Methoden gegen das Phänomen entwickeln. Denn ich fürchte, dass sich das Problem mit Corona in den nächsten Monaten noch verschärft. Welchen Einfluss der Bund auf die Entwicklung hat, kann ich nicht konkret beurteilen. Tatsache ist, dass auch aus rumänischer und bulgarischer Sich immer wieder auf die geschuldete Kohäsionsmilliarde der Schweiz verwiesen wird.

Eu Schweiz
Kohäsionsmilliarde?

Die EU unterstützt neue Mitglieder mit so genannten Kohäsionsbeiträgen. Das Ziel ist, dass Reichtums- und Demokratieunterschiede zwischen den EU-Ländern ausgeglichen werden. Die Schweiz muss sich eigentlich daran beteiligten, um am Binnenmarkt mitmachen zu dürfen. Seit 2019 hat die Schweiz allerdings nicht gezahlt, um in den Handelsbeziehungen Druck auf die EU auszuüben.

Was wünschen sich Rumänien oder Bulgarien von der Schweiz?

Vielleicht könnte man die Entwicklungsprojekte in diesen beiden Ländern gerade in Bezug auf die Roma-Minderheit präzisieren und damit auch dem im Raume stehenden Vorwurf, dass die Entwicklungsgelder oft nicht bei denen landen, die sie tatsächlich nötig haben, begegnen. Das muss man thematisieren.

Sie reden von Korruption.

Ich frage mich einfach, was mit dem vielen Geld geschieht und weshalb offenbar die Bildungsprogramme nicht die erwartete Wirkung zeigen.

Okay, aber was nützt das der Roma-Frau, die mich gestern gefragt hat, ob sie etwas zum Essen haben kann, wenn die Behörden sie jetzt abschieben?

Wir schieben sie nicht ab, wer hat gesagt, wir schieben sie ab?

Sie werden aus dem Land geschickt. Darf man dem nicht abschieben sagen?

Wir weisen sie unter Umständen aus der Schweiz weg, ja. Es gilt dabei aber den Gesamtkontext zu wahren. Nur weil jemand nach Essen bettelt, wird niemand, nirgendwo in der Schweiz weggewiesen. Man muss man schon ein bisschen differenzieren.

Warum muss man differenzieren?

Eine Ausschaffung hat mit Zwang zu tun. Wer die Schweiz freiwillig verlässt, wird nicht ausgeschafft und eine zwangsweise Rückführung ist nur in bestimmten Fällen möglich. Im Zusammenhang mit der organisierten Bettelei handelt es sich in der Regel um EU-Staatsangehörige. Wir versuchen in solchen Fällen herauszufinden, wer sie sind und woher sie kommen.

Und dann?

Dann nehmen wir ihrer heimatlichen Vertretung Kontakt auf. Es wird geprüft, ob die Vertretung die betroffene Person unterstützen kann; gemäss europäischer Sozialcharta wären diese dazu verpflichtet. Im Wiederholungsfall und/oder bei massiver Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung weisen wir sie daraufhin, dass sie aufenthaltsrechtlich keinen Status haben und dass sie die Schweiz verlassen sollen. Wir weisen sie aus der Schweiz weg.

Bleiben Sie in Kontakt mit den Bettler*innen, die sie zurückschicken?

Nein. 95 Prozent sehen wir nie wieder.

«Spargelstecher aus Osteuropa leisten für einen Hungerlohn Knochenarbeit.»

Rumäninnen dürfen sich hier prostituieren, aber betteln dürfen sie nicht. Müsste man das Betteln als Arbeit definieren, damit sie eine Aufenthaltsbewilligung kriegen?

Nun. Betteln gilt nicht als Erwerbstätigkeit. Somit erübrigt sich die weitere Diskussion. Unter Berücksichtigung der mehrmals beschriebenen Lebensumstände und strukturellen Besonderheiten würde ich die Energie eher in die Ausbildung dieser Leute setzen. Haben Sie überhaupt schon einmal mit Bettler*innen geredet?

Als Privatperson auf der Strasse. Und Bajour-Journalistin Adelina Gashi hat mehrmals mit Hilfe einer Übersetzerin mit Rumän*innen gesprochen.

Es regt mich so auf, wenn ich zum Beispiel mit einer 19-Jährigen spreche – mit Hilfe einer Übersetzerin – und merke: Sie kann nicht lesen und schreiben. Jetzt muss man sich doch überlegen: Was macht man mit denen die nächsten vierzig Jahre, die haben ja das Leben vor sich. Und da müssen wir doch endlich ein anderes Mindset bekommen! Wir, und damit meine ich alle europäischen Staaten, nicht nur die Schweiz, müssen denen eine Chance geben, eine Ausbildung. Liegt eine Schulbildung vor und verfügt eine ausländische Person aus dem EU-Raum über entsprechende Kompetenzen, dann können sie auch einer Erwerbstätigkeit nachgehen und selbstbestimmt durchs Leben gehen. Doch so, bildungsfern und in einer Ausbeutungssituation, finden niemand einen Job in der Schweiz.

Herr Ott, bürgerliche Politiker*innen in Basel wollen das Bettelverbot wieder einführen. Sie sagen, das ist die einzige Lösung.

Meine Erfahrung ist, dass ein Bettelverbot allein nichts nützt. Mit dem Verbot werden Symptome bekämpft und dem Problem nicht auf den Grund gegangen. Wie ich bereits sagte, Bildung ist ein fundamentales Menschenrecht, deshalb braucht es einen ganzheitlichen Ansatz. Politischer Wille und Nutzung des Handlungsspielraums, beispielswiese in Bezug auf die Verwendung der Kohäsionsmilliarde, Schaffung von Arbeitsplätzen in den Herkunftsstaaten aber auch die Zahlung von anständigen Löhnen für Arbeitsmigranten aus Rumänien oder Polen. Ebenso notwendig ist die Umsetzung eines wirksamen Rückführungsprogramms für Minderjährige, welches sozialpädagogische Aspekte berücksichtigt; wie wir mit Agora etabliert haben. Ich möchte noch etwas sagen, was mich wütend macht.

Sagen Sie es.

Ich bin seit 31 Jahren bei der Fremdenpolizei und wenn ich der Ursache für das Phänomen der organisierten Bettelei den Grund gehe, wird es unschön.

Unschön?

Ja. Die Problematik ist vielfällig. Man kann das Problem weder mit einem Bettelverbot aus der Welt schaffen, noch die Ursache mit mehr Entwicklungsgeldern beheben.

Sondern?

Man müsste auch zugeben, dass wir in der Schweiz ein Niedriglohnsegment beschäftigen, von dem wir alle direkt oder indirekt profitieren. Es handelt sich ebenfalls um Abhängigkeiten. Um eine breit akzeptierte Art von Ausbeutung der Arbeitskraft. Ob es hier nun um den Spargelstecher aus Osteuropa handelt, der für die Ernte in die Schweiz reist und für einen Hungerlohn Knochenarbeit leisten muss, zu der kein Schweizer bereit wäre oder ob es sich um ausländische Putzkräfte handelt, die keinem Gesamtarbeitsvertrag unterstehen.

Wir Schweizer*innen profitieren von der Armut der Menschen aus Rumänien und Polen.

Es gibt mehrere Branchen unter anderem auch im Baugewerbe, die ohne ausländische Arbeitskräfte nicht existieren könnten. Die Mittel, mit denen die Einhaltung der flankierenden Massnahmen zum freien Personenverkehr dann überprüft werden sollen, sind schlicht ungenügend. Wenn ich dies und weitere weniger schöne Themen an Podien jeweils anspreche, stelle ich fest, dass man lieber nicht darüber spricht. Ich stelle fest, dass es ich dabei auch um ein ethisches Problem handelt. Und dieses müssen wir hier in der Schweiz angehen.

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Foto Pino Covino

Bei Bajour als: Journalistin.

Hier weil: Das Hobby meines Mannes finanziert sich nicht von alleine.

Davor: Chefredaktorin im Lokalmedium meines ❤️-ens (Bajour), TagesWoche (selig), Gesundheitstipp und Basler Zeitung

Kann: alles in Frage stellen

Kann nicht: es bleiben lassen

Liebt an Basel: Mit der Familie am Birsköpfli rumhängen und von rechts mit Reggaeton und von links mit Techno beschallt zu werden. Schnitzelbängg im SRF-Regionaljournal nachhören. In der Migros mit fremden Leuten quatschen. Das Bücherbrocki. Die Menschen, die von überall kommen.

Vermisst in Basel: Klartext, eine gepflegte Fluchkultur und Berge.

Interessensbindungen:

  • Vorstand Gönnerverein des Presserats
  • War während der Jugend mal für die JUSO im Churer Gemeindeparlament. Bin aber ausgetreten, als es mit dem Journalismus und mir ernst wurde.

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