Bettelboss oder Armutsopfer? Der Wissenschaftler weiss es

In Basel halten sich abenteuerliche Vorstellungen zu den Bettler*innen aus Rumänien. Was ist da dran? Wir haben die gängigen Klischees dem Soziologen Zsolt Temesvary vorgelegt. Er hat die Roma begleitet.

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Wanted: Ominöser Mafiachef.

Wenn es um die rumänischen Bettler*innen geht, scheint jede*r in Basel eine Meinung zu haben. Einer aber kennt sich mit dem Thema aus: Zsolt Temesvary, Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW. Gemeinsam mit seinen Student*innen hat der Soziologe die Bettler*innen aus Osteuropa im Rahmen eines Moduls über vier Monate hinweg jeden Montagabend begleitet und sie interviewt – und nachher der bz davon berichtet. Nun haben wir dem Wissenschaftler die gängigen Klischees schön zugespitzt zur Überprüfung auf den Tisch gelegt.

Zsolt Temesvary, jetzt mal ehrlich: Die rumänischen Bettler*innen müssen ihr Geld einem Bettelboss abgeben, oder? Niemand hat ihn je gesehen, trotzdem haben wir sein Bild genau im Kopf: Fieser Mafiosotyp, mit mattschwarzem Porsche Cayenne und zu Hause mit fetter Villa und goldenen Wasserhähnen.

Den Bettelboss gibt es nicht. Jedenfalls konnten wir in den vier Monaten, in denen wir die Bettler*innen begleitet haben, dieses Phänomen nie beobachten.

Einen Boss haben Sie vielleicht keinen gefunden. Aber eins ist wohl glasklar: Die Bettler*innen sind eine mafiös organisierte Bettelbande, die sich europaweit organisiert und abspricht und dann überfallartig unsere bis nach Rumänien bekannte Basler Grosszügigkeit ausnützt.

Nein, keinesfalls. Es sind Grossfamilien von 15 bis 20 Personen, die in ihren Heimatländern in extremer Armut gelebt haben. Sie betteln hier, um ihr eigenes Leben und das ihrer Angehörigen, die noch in Rumänien sind, zu finanzieren. Hinter jedem Bettler stehen fünf bis sieben Personen in Rumänien oder anderen osteuropäischen Ländern, die finanziell von ihrem Familienmitglied in der Schweiz abhängen. Beim Betteln geht es nicht um Kriminalität, es geht um Armut und soziale Ausgrenzung. 

Was wir beobachtet haben, ist eine Hierarchie innerhalb der Familien. Manchmal spielen die Frauen eine wichtige Rolle. Dafür, dass sie die Schwächeren ausbeuten würden, haben wir aber keine Hinweise.

Zsolt Temesvary
Zsolt Temesvary

Zsolt Temesvary ist Gastprofessor an der FHNW im Institut für Sozialplanung. 2015 hat er sein Doktorat in Soziologie mit dem Schwerpunkt Sozialpolitik abgeschlossen. In Basel lehrt er über Odachlosigkeit und die Rolle der Sozialen Arbeit.

Alexander Ott, der Chef der Berner Ausländerpolizei, hat Erfahrung mit Roma-Bettler*innen. Er sagt, Bettler*innen würden gezielt mit Bussen in Städten abgeladen. Wenn er von mafiösen Bettelstrukturen und sogar von Menschenhandel spricht, ist das bestimmt so. 

Ich würde nicht behaupten, das Herr Ott im Unrecht ist. Aber ich kann sagen, dass meine Forschungsgruppe in Basel keine solchen Erfahrungen gemacht hat. Es ist so, dass die Rumäninnen und Rumänen oft per Bus in die Schweiz reisen, da das günstiger ist als per Zug oder Flugzeug. Die Besitzer dieser Busse sind kleine Unternehmen oder Privatpersonen. Viele andere, die aus Osteuropa in die Schweiz einreisen, nutzen das gleiche System. So auch Sexarbeiterinnen oder Strassenmusiker. Aber dieser Transport ist nicht kriminell.

Man hat es in Basel ja gesehen: Die Bettler*innen treten in Gruppen auf, sind häufig verwandt. Das ist doch der Inbegriff einer Bande. Oder was könnte es denn sonst sein?

Natürlich sind sie in Gruppen unterwegs, das gibt ihnen Sicherheit in einem Land, dessen Sprache sie nicht sprechen und dessen Kultur sie nicht kennen. Das macht sie aber noch lange nicht  zu einer Bande. Wenn sie gemeinsam unterwegs sind, können sie sich gegenseitig unterstützen. Die Familien sind sozial schwach und haben vulnerable Personen unter sich. Was würden Sie in so einer Situation tun?

Es ist offensichtlich: Seit das Bettelverbot gefallen ist, haben wir rumänische Bettler*innen in Basel. Dann kann man auf jeden Fall von Betteltourismus sprechen. Und unsere Grosszügigkeit zieht nur immer mehr Arme an. Aus der ganzen Welt.

Dieses Klischee haben wir häufig gehört: Sozialtourismus. Wir haben keine Beweise, dass die Legalisierung des Bettelns in Basel eine Anziehungskraft für andere hat – jedenfalls nicht mehr als in anderen Städten. 

Aber es gibt doch seit der Aufhebung des Gesetzes mehr Bettler*innen in Basel, also gibt es eine Sogwirkung.

Die Hauptursache der Migration von Bettelnden liegt in der Armut und der Ausgrenzung im Heimatland. Die Legalisierung des Bettelns ist eine Möglichkeit, für randständige Menschen aus ärmeren Ländern, ihre Familien in ihrer Heimat zu unterstützen und ihre Schulden bezahlen zu können. Es ist eine rationale wirtschaftliche Entscheidung für sie, in Westeuropa zu betteln. Sie nutzen das System, aber nutzen es nicht aus.

Du, die nähen billiger als Bangladesch. Aber wehe sie betteln.
Kommentar

Wir belügen uns selbst. Das Märchen von der organisierten Bettelbande kommt uns wie gerufen. Es erlaubt uns, zu verdrängen, worum es wirklich geht: die Armut – die wir unterstützen.

Also sind Bettler*innen Armutsopfer. Wir müssen sie bemitleiden und ihnen helfen.

 Jein. Menschen zu unterstützen, ist eine Aufgabe der Sozialpolitik und deren Organisationen und nicht einzelner Menschen in modernen Wohlfahrtsstaaten. Eine effektive Hilfe könnte man direkt in den Heimatländern anbieten durch gezielte soziale Entwicklungsprogramme, die z.B. durch den Schweizer EU-Beitrag finanziert werden können.

Einige Bettler*innen behandeln ihre Hunde schlecht, berichtete die BaZ. Und sie betteln aggressiv, halten einen sogar an der Ampel an. Was sind das für Menschen?

Auch das konnten wir nicht beobachten. Den Hunden, die wir gesehen haben, ging es gut und sie waren gut ernährt. Das liegt wahrscheinlich daran, dass die Hunde extrem wichtig sind für die Bettlerinnen und Bettler. Sie sind ein emotionaler Rückhalt, sie bedeuten Sicherheit und sind manchmal sind sie die einzige soziale Beziehung, auch weil die Bettler kein Deutsch sprechen. Dieses Phänomen kann man auch bei Obdachlosen, Sozialhilfebezügerinnen oder Alleinstehenden beobachten.

Und ihr Verhalten in Parks, das Kleiderwaschen in den Brunnen?

Ohne Aufenthaltsbewilligung dürfen sie die meisten Obdachloseneinrichtungen mit Wasch- und Duschmöglichkeiten nicht benutzen und wenn sie reindürfen, müssen sie dafür bezahlen. Bettelnde versuchen, ihre Ausgaben zu reduzieren um mehr Geld nach Hause schicken zu können.

Die Rumän*innen schlafen auch bei Minustemperaturen auf der Strasse. Aber sie wollen es auch nicht anders, schliesslich könnten sie ja in der Notschlaftstelle übernachten, wollen aber nicht.

Die Öffnung der Notschlafstelle war eine schöne Geste der Stadt. Das Problem war aber die fehlende Niederschwelligkeit des Angebots. Solange sich die Bettlerinnen und Bettler offiziell registrieren müssen, um einen Platz in der Notschlafstelle zu bekommen, werden sie das Angebot nicht nutzen. Sie würden nicht riskieren, ausgeschafft zu werden und nicht mehr zurückkehren zu können. Ohne Aufenthaltsbewilligung können sie nur drei Monate in der Schweiz bleiben. Man hat das Bettelverbot aufgehoben, jetzt müssen Lösungen in der Sozialpolitik her. Angebote zum Essen, Schlafen und sich drinnen aufzuhalten und aufzuwärmen ohne Hürden.

Vielen Basler*innen wäre es recht, wenn sie ausgeschafft würden. Sie fühlen sich gestört und hätten gerne ein Stadtbild ohne Bettler*innen.

Einer der befragten Bettler hat gegenüber uns gesagt hat: «Es ist immer noch besser in Basel als Rumäne zu leben als in Rumänien als Roma.» Viele von ihnen leiden auch in ihrem Heimatland an Armut, leben in miserablen Verschlägen ohne Heizung, Leitungswasser und Strom oder als Obdachlose. Sie leiden zudem auch unter rassistischen Vorurteilen und Benachteiligungen Das sieht man an der Polizeigewalt gegen die Roma in der Slowakei oder an der Mordserie an den Roma in Ungarn.

Papperlapapp: Wir müssen das Bettelverbot wiedereinführen. Dann wird alles wieder gut.

Meiner Meinung nach nicht. Wir wissen es aus anderen europäischen Grossstädten, dass ein Bettelverbot randständige Gruppen kriminalisiert und in Richtung Prostitution, Müllsammlung, Drogenverkauf und andere prekäre Tätigkeiten drängen würde. Das heisst, dass sie nach einem Verbot nicht automatisch verschwinden werden.



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Auch Bajour hat sich schon auf die Suche nach dem Bettelboss gemacht. Und keinen gefunden. Lies hier.

Ausserdem waren wir in Graz – die österreichische Stadt macht vor, wie man auf menschliche Art und Weise mit Bettler*innen umgehen kann. Die Reportage gibt's hier.

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Valerie aka «Zeisi» hat als Praktikantin bei Bajour gestartet, dann ein Studium begonnen und arbeitet nun nebenbei als freie Journalistin bei der bz sowie bei Bajour als Briefing-Schreiberin. Sie ist während der Vorfasnachtszeit – laut ihr das ganze Jahr – schlecht erreichbar, ist aber ständig unterwegs.

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