Freie Fahrt für freie Fussgänger*innen

Stadtweit Tempo 30, viel mehr Platz für Fussgänger*innen und Velos und ein Drittel weniger Autos: So sieht gemäss Verkehrsexperten der Verkehr der Zukunft in Schweizer Städten aus. Eine Recherche von «Bajour», «Tsüri» und «Hauptstadt».

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Mehrspurig: Noch haben Autos in unseren Städten viel Platz. (Bild: Manuel Lopez)

Egal ob in Bern, Basel oder Zürich: Die Verkehrswende erhitzt die Gemüter. In allen drei Städten wurden die Diskussionen um die Neugestaltung der urbanen Mobilität bereits vor Jahren lanciert und gewinnen seither mit jedem abgebauten Parkplatz an zusätzlicher Brisanz.

Am stärksten unter Druck gerät dabei das Auto, sei es wegen Parkplatzabbau, Temporeduktion oder weil anderen Fortbewegungsmitteln mehr Platz eingeräumt werden soll. Diese Offensive gründet auf drei Überlegungen: Einerseits wird der Platz in den Städten knapp, weshalb auch der Druck auf den Strassenraum steigt. Andererseits wollen die Städte durch weniger motorisierten Individualverkehr (MIV) die Lebensqualität und Sicherheit erhöhen. Und nicht zuletzt verlangt die Klimakrise nach einer Mobilität mit massiv weniger Emissionen.

Das passt nicht allen. Die lautesten Stimmen gegen die Verkehrswende gehören den Gewerbevereinen, welche wirtschaftliche Schäden befürchten, wenn einerseits die Zulieferer nicht mehr mit dem Auto in den Städten rumfahren und andererseits die Kund*innen nicht mehr direkt vor dem Geschäft parkieren können.

Doch wie sieht die ideale Verteilung des Strassenraumes aus? «Bajour», die «Hauptstadt» und «Tsüri.ch» haben sich in einer gemeinsamen Recherche auf die Suche nach Antworten gemacht.

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Schwerpunkt Verkehrswende

Die unabhängigen Onlinemedien «Tsüri», «Bajour» und «Hauptstadt» kooperieren schon länger über die Plattform Wepublish. Für die Themenwoche zum städtischen Verkehr haben die Medien zusammengearbeitet und in ihren drei Heimatstädten gemeinsam recherchiert. Neben diesem Text werden diese Woche weitere Artikel zum Thema Verkehr erscheinen. Heute schon: Dem Aeschenplatz hilft nur noch eine Utopie. Und morgen folgen Beispiele für velo- und autofreundliche Strassen in den drei Städten.

Wir haben drei Experten befragt, wie der Verkehr in Städten aussehen sollte, der eine hohe Lebensqualität bietet, die Umwelt schont und der Wirtschaft nützt.

Den Fokus auf Basel richtet Professor Alexander Erath von der Fachhochschule Nordwestschweiz, welcher seit bald 20 Jahren zu den Themen Verkehrsplanung und der Mobilität der Zukunft forscht. Eine Einschätzung der Stadt Zürich kommt von Thomas Hug, Co-Gründer von urbanista.ch, der Gemeinden in Fragen der Raum- und Mobilitätsfragen berät. Und eine Analyse der Stadt Bern wagt Ruedi Häfliger, ehemaliger Dozent der ZHAW und aktuell tätig beim Verkehrsplanungsbüro Metron.

Die Experten liefern klare Antworten. Das Zeitalter der freien (Auto-)Fahrt für freie Bürger, wie es bürgerliche Politiker*innen jahrzehntelang propagierten, ist in der Stadt vorbei:

  1. Der Autoverkehr muss deutlich abnehmen.
  2. Das Tempo soll in der Stadt auf 30 Stundenkilometer reduziert werden.
  3. Der Langsamverkehr – Velofahrer*innen und Fussgänger*innen – braucht deutlich mehr Platz.

Wie bei allen komplexen Fragen gilt auch hier: Es gibt kein Patentrezept für die Verkehrswende. So einig sich die Experten in den drei obigen Punkten sind, so differenziert müssen die konkreten Umsetzungen aussehen. Fahren zukünftig alle Autos mit Tempo 30 durch die Städte, oder dürfen es auch mal 50 Stundenkilometer sein? Brauchen die Velos zwingend eine eigene Spur oder können sie sich den Platz mit den Autos teilen? Und schadet eine Verlangsamung der Fahrgeschwindigkeit dem ÖV?

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Breites Trottoir: Fussgänger*innen sollen künftig viel mehr Platz erhalten. (Bild: Manuel Lopez)

Klar ist: Obwohl man «den idealen Anteil der verschiedenen Verkehrsmittel nicht unabhängig von konkreten Orten in der Stadt bestimmen kann», wie es Professor Alexander Erath von der Fachhochschule Nordwestschweiz erklärt, müssen die Autos unter dem Strich Platz abgeben und so die Innenstädte entlasten.

«Es ist absurd, wie viel Platz der MIV heute noch hat.»

«Eine ideale Stadt bietet der Bevölkerung viele Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das Auto ist für diese Optimierung am wenigsten geeignet». Professor Erath argumentiert mit einer erhöhten Lebensqualität, wenn weniger Blechkisten durch die Strassen kurven. Ähnlich äussert sich der Zürcher Verkehrsplaner Thomas Hug: «Es ist absurd, wie viel Platz der motorisierte Individualverkehr heute noch hat.» Und das, obwohl nur noch 20 Prozent der Zürcher*innen das Auto als ihr Hauptverkehrsmittel bezeichnen würden.

Ein Blick auf den «Städtevergleich Mobilität» aus dem Jahr 2015 zeigt: Auch in Basel und Bern werden nur rund ein Fünftel der Wege mit dem Auto als Hauptverkehrsmittel zurückgelegt. Doch noch immer sind die meisten Strassen in den Schweizer Städten für das Auto gebaut, wie der ehemalige ZHAW-Dozent Ruedi Häfliger erklärt: «Von 20 Metern zwischen zwei Häuserreihen sind auf beiden Seiten gerade mal zwei Meter für den Fussverkehr. Dann kommen je zwei Meter für parkierte Autos und in der Mitte 12 Meter für die Autos – Bäume haben da keinen Platz, Velofahrer*innen meist auch nicht.»

Weniger Autos: Das planen die Städte
  • Zürich: ÖV und Velo sollen attraktiver werden, daneben sind weniger Spuren, weniger Parkplätze und höhere Gebühren für Autos geplant. Das wird nicht reichen; ab 2040 sollen gemäss Stadträtin Brander in der Stadt keine fossil betriebenen Autos mehr unterwegs sein. 
  • Basel: Ab 2050 dürfen Autos in Basel keine Verbrennungsmotoren mehr haben, so entschied die Stimmbevölkerung 2020. Zudem ist ein Pilotversuch zu Mobility Pricing in Vorbereitung, der prüfen soll, ob so der Verkehr zu Spitzenzeiten reduziert und gleichzeitig der Anteil umweltfreundlicher Verkehrsmittel erhöht werden kann.
  • Bern: In Bern sollen neue Lichtsignalanlagen an der Stadtgrenze und auf der zentralen Verkehrsachse den Autoverkehr dosieren. Der Stadtrat hat dafür einen Kredit von 1,8 Millionen Franken freigegeben. Das Ziel ist, die Anzahl Fahrzeuge am Bahnhofplatz von aktuell 12100 auf 8600 Fahrzeuge pro Tag im Jahr 2025 zu reduzieren.

Nicht nur die Lebensqualität leidet unter vielen Autos, auch mit den Klimazielen sind fossil betriebene Fahrzeuge nicht vereinbar. Elektroautos seien nicht die Lösung, erklärt Thomas Hug. Aktuell gehe man davon aus, dass ein solches über die gesamte Lebensdauer 50 Prozent an Emissionen einspart. «Die Modellrechnungen gehen davon aus, dass wir bis im Jahr 2040 einen Bestand von 50 Prozent Elektroautos haben werden. Wenn diese noch die Hälfte der Emissionen verursachen, dann könnten wir bis dahin nur einen Viertel einsparen. Das ist zu wenig.»

Ein Drittel weniger Autos

Für eine ökologischere Lebensweise und mehr Lebensqualität muss der Autoverkehr abnehmen. Doch um wie viel im Vergleich zu heute? Professor Erath sagt: «Den motorisierten Individualverkehr kann man nicht ganz abschaffen. Sowohl die kleine Kaffeerösterei im Hinterhof als auch Supermärkte sind auf funktionierende Lieferketten mit motorisiertem Verkehr angewiesen.» Auch Ruedi Häfliger sagt, es brauche einen gewissen Anteil an Autoverkehr, denn die Lösung sei nicht, «ein paar autofreie Inseln in der Stadt zu bauen und darum herum viel Verkehr zuzulassen.»

Es würde den Städten schon viel Spielraum geben, «wenn man den Verkehr zur Spitzenzeit um 20 Prozent und den restlichen Tagesverkehr um 40 Prozent reduzieren könnte», sagt Häfliger.

Aus ökologischer Perspektive müssten die Autos ganz weg, ist Thomas Hug überzeugt: «Stand heute müssten wir den MIV auf null bringen, um klimaneutral sein zu können ohne das Einlagern von Emissionen.» In die gleiche Kerbe schlägt Erath, ohne derart deutlich zu werden: «Wenns uns mit dem CO2 und Netto-Null ernst ist, müssen wir so oder so den MIV reduzieren – unabhängig davon, wie viel Platz wir in einer Stadt für Autos haben.»

Für eine höhere Lebensqualität hingegen reicht für Hug ein Drittel weniger Autoverkehr in den Städten: «Im ersten Lockdown und teilweise auch während der Ferien hatten wir 20 bis 30 Prozent weniger Autos auf den Strassen. Die Stadt ist sofort eine andere: Es gibt Platz, es fühlt sich besser an.» Eine relativ geringe Reduktion könne also schon viel bringen und sei ausserdem politisch auch eher umsetzbar.

Getrennte Wege: Veloschnellrouten kommen, Autospuren verschwinden
Getrennte Wege: Veloschnellrouten kommen, Autospuren verschwinden. (Bild: Manuel Lopez)

Und was ist mit dem Gewerbe und der lokalen Wirtschaft, wenn nur noch rund zwei Drittel des früheren MIV in der Stadt rumkurven dürfen? Für Ruedi Häfliger ist klar, dass der neu gewonnene Raum durchaus eine positive Wirkung entfachen kann: «Mehr Platz an der Häuserfront gibt im Erdgeschoss auch Möglichkeiten für attraktive gewerbliche Nutzung. Die Stadt kann mit mehr Platz für Fussverkehr schlicht besser leben.»

«Das Gewerbe sollte sich freuen!», meint auch Thomas Hug. Denn: «Wenn wir die Leute von der Strasse wegbringen, haben die Gewerbler*innen mehr Platz.» Er geht davon aus, dass die lokale Wirtschaft von weniger Autos in den Städten profitieren würde. Dennoch beklagen viele alteingesessene Gewerbebetriebe die Vertreibung der Autos aus den Städten. Doch die Behauptung, nur ein Parkplatz bringe Umsatz, wurde schon in vielen Städten widerlegt. Erfahrungen aus Amsterdam und Brüssel würden zeigen, dass weniger Verkehr dem Gewerbe nicht schadet. Für Anlieferungen und Handwerker gibt es schon heute in Innenstädten Sonderparkplätze. «Ich traue auch unseren Unternehmer*innen zu, sich an die neue Situation anzupassen», ist Hug überzeugt.

Parkplätze sollen verschwinden

Die Autos müssen also weichen, aber wie soll das gelingen? Einerseits könne man versuchen, den Verkehr von ausserhalb zu drosseln: «Verkehrsprobleme beginnen nicht in der Stadt», sagt Thomas Hug. Nur noch rund jede dritte Person in den Städten Zürich, Bern und Basel besitzt ein Auto. Wird es auf den Strassen eng, sind also meist Auswärtige dafür verantwortlich. Die Stadt Zürich beispielsweise lässt die Autos darum auf den Einfallsachsen stauen. Thomas Hug erachtet dies für sinnvoll: «Draussen warten, bis es drinnen wieder Platz hat.»

Eine weitere Möglichkeit, den MIV zu reduzieren, wäre Mobility Pricing bei einer gleichzeitigen Verbesserung des öffentlichen Verkehrs, schlägt Erath vor. Häfliger fordert zudem einen weiteren Abbau der Parkplätze sowie die Bevorzugung von Velos und ÖV an Lichtsignalen.

Strassenraum: Das planen die Städte
  • Zürich: Das Volk hat mit dem Ja zum Richtplan Verkehr auch klar ja gesagt zu mehr Platz für Velo und Fussverkehr und weniger Platz für Autos. Bei konkreten Bauprojekten wie den Velovorzugsrouten wehren sich Anwohner*innen aber aktiv mit Einsprachen und verzögern so die Projekte und die Umverteilung.
  • Basel: Ende Juni 2022 ist eine neue Volksinitiative zu Velovorzugsrouten zustande gekommen. Vor fünf Jahren wurde ein Veloring an der Urne abgelehnt. In den letzten zwei Jahren sind zudem über 500 Parkplätze auf der Allmend aufgehoben worden. 
  • Bern: Im Rahmen der Velooffensive plant die Stadt eine weitere Velohauptroute vom Zentrum über Bethlehem nach Brünnen. Diese kostet 3,1 Millionen Franken. Die neue Veloverbindung soll künftig vom Inselplatz über zwei Routen in Berns Westen führen. 

Alle diese Massnahmen würden den Druck auf den Strassenraum reduzieren und somit Platz für den langsameren Verkehr schaffen. Aber was tun an Orten, wo die Strassen schmal sind und an den Seiten keine Parkplätze haben, die abgebaut werden können? «Eine etwas extreme Lösung wäre, für die Autos alles nur noch einspurig und Einbahn zu machen», überlegt Thomas Hug. Denn weniger Spuren für die Autos führen zu weniger Kapazität.

«Das Velo ist ein Wunderverkehrsmittel»

Der neu geschaffene Platz soll zu einem guten Teil dem Velo zugute kommen. Denn dieses sei, findet Erath, «eigentlich der einzige adäquate Ersatz zum Auto». Das Velo sei ebenfalls Individualverkehr und erlaube in Form von Lastenvelos auch den Transport von kleineren Gütern, führt Professor Erath aus. «Das Velo ist ein Wunderverkehrsmittel: Es braucht wenig Platz, ist schnell und ermöglicht direkte Punkt-zu-Punkt-Verbindungen.»

Das Problem sei jedoch, dass sich viele Verkehrsteilnehmer*innen mit dem Velo in den Innenstädten nicht sicher fühlen. Dies zeigt auch eine im Frühling publizierte Umfrage von Pro Velo. Deshalb fordert Thomas Hug im Vergleich zu heute mehr verschiedene Strassentypen, welche den jeweiligen Fahrzeugarten angemessen sind: «Also nicht nur Fahrbahnen für die Autos, sondern zum Beispiel auch Velovorzugsrouten.» Es müsse aber nicht jede Strasse velotauglich gemacht werden. Einige Durchgangsstrassen könnten durchaus den Autos vorbehalten bleiben.

Auch gemischte Fahrbahnen soll es weiterhin geben. Aber nur, wenn die Verkehrsteilnehmenden in etwa ähnlich schnell unterwegs sind. «Grundsätzlich gilt: Wenn auf einer Spur gemischt wird, sollte immer das schwächere Verkehrsmittel die höheren Frequenzen haben», fordert Thomas Hug.

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Tempo 30: Auf gemischten Fahrbahnen sollen alle Verkehrsteilnehmer*innen ein ähnliches Tempo fahren. (Bild: Manuel Lopez)

Der ideale Querschnitt einer Strasse sieht also deutlich anders aus, als dies heute der Fall ist. Ruedi Häfliger würde den Raum zwischen zwei Häuserfronten so verteilen: «Auf beiden Seiten je 30 Prozent für den Fussverkehr und in der Mitte 40 Prozent für die eigentliche Strasse, also für Autos und Velos.» Bei einer 20 Meter breiten Strasse hiesse dies je sechs Meter vor den Häusern und in der Mitte acht Meter für den Verkehr. «Mehr Platz für Aufenthalt und Fussverkehr macht eine Stadt lebenswerter», sagt Häfliger. Zudem sei die wichtigste Verkehrsart der Zukunft in der Stadt der Fussverkehr. «Je dichter wir leben, desto mehr Fussverkehr gibt es.»

Heisses Eisen Tempo 30

Viele Städte sind dabei, den Ausbau von Tempo-30-Strassen zu prüfen und voranzutreiben. Grundsätzlich finden das die drei Experten richtig. «Mit einer Temporeduktion lassen sich verschiedene Ziele erreichen: weniger Lärm, mehr Sicherheit, höhere Aufenthalts- und somit Lebensqualität entlang der Strasse mit einfacheren Querungsmöglichkeiten», erklärt Erath.

Auch Ruedi Häfliger, der für das Bundesamt für Strassen eine Studie zu Tempo 30 verfasst hat, sieht nur Vorteile: «Wir haben weniger Unfälle, weniger Lärm und einen flüssigeren Verkehr: Das heisst auch weniger Luftschadstoffe und Pneuabrieb und damit weniger feine Partikel, die in der Lunge landen.» Zudem fördere die tiefere Geschwindigkeit die Koexistenz verschiedener Verkehrsteilnehmer auf der Strasse: Besseres Einbiegen von Verkehrsteilnehmern, einfacheres über die Strasse laufen. Häfliger nennt eine einfache Formel: «Je dichter wir wohnen, desto tiefer soll das Tempo auf der Strasse sein.»

Dennoch spricht sich keiner der drei Experten für flächendeckende Tempo-30-Städte aus. Ruedi Häfliger sagt: «Das Temporegime auf den Einfallsachsen könnte bei 50km/h bleiben. Zumindest da, wo niemand die Strasse queren will.» In Wohnquartieren favorisiert Häfliger Tempo 20 mit Fussgängervortritt.

Temporeduktion: Das planen die Städte
  • Zürich: Die Stadt will auf praktisch allen Strassen maximal Tempo 30 einführen. ein Treiber sind die Lärmbestimmungen des Bundes. Daneben sind in den Quartieren viele Begegnungszonen (Tempo 20) in Diskussion. Der Kanton bremst aber auf den Kantonsstrassen. 
  • Basel: Ende Juni hat sich der Grosse Rat für flächendeckendes Tempo 30 in den Basler Siedlungsgebieten ausgesprochen. Innerhalb von zwei Jahren muss nun der Regierungsrat ein entsprechendes Konzept ausarbeiten. 
  • Bern: Der Gemeinderat hat im Februar ein weiteres Tempo-30-Paket verabschiedet und will auf neun Strassen auf dem gesamten Stadtgebiet Tempo-30-Abschnitte realisieren. In einem Pilotversuch sollen zudem die Auswirkungen einer Temporeduktion auf den ÖV untersucht werden.

So hochgelobt die Vorteile, so laut ist die Kritik. Gegner*innen von Tempo 30 argumentieren, weniger Tempo führe zu mehr Stau und Ausweichverkehr in den Quartieren. Ausserdem kämen die Blaulichtorganisationen zu langsam voran. Verkehrsexperte Thomas Hug widerspricht: «Der Verkehr wird flüssiger, auch wenn die einzelnen Fahrzeuge mit einem kleinen Zeitverlust rechnen müssen.» Wo der Verkehr flüssiger laufe, werde auch mehr Platz frei, womit eine Temporeduktion nicht automatisch zu einem Kapazitätsverlust führen müsse. Laut Häfliger sind die Verkehrskapazitäten auf den Strecken zwischen zwei Kreuzungen mit Tempo 30 am höchsten.

Und was ist mit dem ÖV? «Man muss schauen, dass Tempo 30 den ÖV nicht zu stark bremst», gibt Professor Erath zu bedenken. Für einzelne Reisende möge eine geringe Verlängerung der Fahrzeit durch eine Temporeduktion kein Problem sein, doch andere würden sich dann vielleicht wieder für das Auto entscheiden.

Weniger Vorbehalte hat hier Verkehrsexperte Hug: «Die Attraktivität des öffentlichen Verkehrs setzt sich zusammen aus Fahrzeit, Wartezeit, Umsteigezeit, Sitzplatzverfügbarkeit und Komfort», zählt er auf. Die Fahrtdauer sei also nur ein kleiner Teil und werde beispielsweise als halb so wichtig wahrgenommen wie die Wartezeit. «Wenn man mal im Tram sitzt, ist es egal, ob ich 15 Sekunden länger fahre. Die Attraktivität des ÖV wird durch Tempo 30 nicht beeinträchtigt», ist er überzeugt.

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Kompliziert: Verkehrspolitik ist langwierig und eine Verkehrswende braucht viel Leadership von Politiker*innen. (Bild: Manuel Lopez)

Langsamere Busse und Trams würden aber mehr Kosten verursachen, «weil dann bei gleicher Taktfrequenz mehr Fahrzeuge eingesetzt werden müssen», so Erath.

Doch ein Tram, welches mit Tempo 30 fährt, sei auch leiser und sicherer, fügt Häfliger an. Die Temporeduktion könne volkswirtschaftlich Sinn machen: «Wir zahlen eventuell mehr Geld aus Staatskasse für den Buschauffeur, brauchen aber weniger Steuergeld für die Unfallambulanz.»

Verkehrspolitik war bisher Wachstumspolitik

Die Städte Zürich, Bern und Basel werden seit Jahrzehnten rot-grün regiert. Und viele der von den Verkehrsexperten skizzierten Massnahmen werden schon lange diskutiert. Dennoch sind die Städte noch sehr stark von Auto und Asphalt dominiert.

Warum dauert es eigentlich so lange, bis die Verkehrswende spürbar wird? Das haben wir zum Abschluss der Recherche einen Professor für Stadtpolitik und urbane Prozesse gefragt. Philippe Koch von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften sieht dafür mehrere Gründe: «Der Strassenraum ist Infrastruktur und sehr langlebig.» Die Strassen seien schon gebaut und Umbauten teuer. Das mache Veränderungen schwierig und die Politik träge.

Laut Koch haben zudem viele städtische SP-Politiker*innen – trotz rot-grüner Mehrheit in den städtischen Regierungen – den Verkehr als Teil der Wirtschaftspolitik und damit der Wachstumspolitik gesehen und darum nur ausgebaut und nicht abgebaut. «Man hat sich mit einer autofreundlichen Politik oft die Hilfe der Bürgerlichen in anderen Projekten gesichert.»

Zudem gehe es jetzt in der städtischen Verkehrswende um einen fundamentalen Paradigmenwechsel, weg vom Fokus auf den MIV, hin zu einer lebenswerten Stadt der kurzen Wege. «Das braucht Leadership, ein grosses politisches Engagement und eine neue Prioritätenordnung», sagt Koch. Es brauche also Politiker*innen, die in- und ausserhalb der Verwaltung grosse Überzeugungsarbeit leisten würde. Davon gebe es nicht viele. «So eine Politikerin war vielleicht die Berner Gemeinderätin Ursula Wyss, die morgens um 7 Uhr mit ihren Projektleiter*innen mit dem Velo auf einer Einfallsachse in die Stadt fuhr.» Ebenfalls eine solche werden könne vielleicht die Zürcher Stadträtin Simone Brander, die eine klare Verkehrsagenda habe. Schwieriger sei es für die neu gewählte Basler Verkehrsdirektorin Esther Keller. «Als Mitglied einer Kleinpartei ohne Hausmacht bräuchte sie ungleich viel mehr Mut und Durchsetzungswille für einen Paradigmenwechsel», so Koch.

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Dem Aeschenplatz hilft nur noch eine Utopie

Wir haben unsere Leser*innen gefragt, welcher Platz in Basel dringend gelüftet werden sollte. Die Antwort war glasklar: Der Aeschenplatz. Also hat der Hamburger Künstler Jan Kamensky ihn von Autos befreit. Der Verkehrsalbtraum brachte aber sogar den Spezialisten ins Schwitzen.

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Nach einem Masterstudium in Geisteswissenschaften und verschiedenen Wissenschafts- und Kommunikations-Jobs ist Michelle bei Bajour im Journalismus angekommen: Zuerst als Praktikantin, dann als erste Bajour-Trainee (whoop whoop!) und heute als Junior-Redaktorin schreibt sie Porträts mit viel Gespür für ihr Gegenüber und Reportagen – vorzugsweise von Demos und aus den Quartieren. Michelle hat das Basler Gewerbe im Blick und vergräbt sich auch gern mal in grössere Recherchen. 


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