Alt und psychische Probleme? Diese Fachfrau hilft
Tagesstruktur, nur etwas für Kinder? Von wegen! Immer mehr ältere Leute nutzen solche Angebote. Die Stiftung Rheinleben betreut Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen – die sensibelste Gruppe in der Krise.
Die Pflegefachfrau Nina Balmer (37) leitet die Tagesstruktur 65+ der Stiftung Rheinleben, die 2015 aus der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft PSAG und der Stiftung Melchior hervorgegangen ist. Ihre Klientel gehört zur Risikogruppe und darf sich seit einigen Wochen nicht mehr sehen. Das fünfköpfige Team hat in kurzer Zeit einen anderen Weg gefunden, um weiterhin für diese Menschen da sein zu können. Manche kommen mit dem bisherigen Lockdown nicht zurecht, was zu Problemen führt. Für andere ist die Situation ein Segen.
Frau Balmer, was hat sich in Ihrer Tagesstruktur mit der Corona-Krise verändert?
Alles. Wir haben das Angebot der Tagesstruktur bereits vor dem Lockdown angepasst und mussten in kurzer Zeit ein neues Konzept auf die Beine stellen. Seither machen wir aufsuchende Arbeit. Selbstverständlich schützen wir uns mit Gesichtsmasken und halten Abstand. Unsere Klientel gehört zur Risikogruppe: Alle sind älter als 65 Jahre, viele haben Vorerkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes, Lungenkrankheiten oder Herzprobleme. Wir mussten schnell handeln. Denn das Risiko, weiterzumachen wie bisher, war viel zu gross.
Weshalb kommen diese Menschen überhaupt zu euch in die Tagesstruktur?
Die meisten wurden uns durch psychiatrische Kliniken oder ähnliche Institutionen zugewiesen. Wir bringen eine Struktur und einen Rhythmus in ihren Alltag, beschäftigen die Menschen sinnvoll und beugen so der Einsamkeit vor. Viele blieben ohne uns nur zu Hause.
Genau das ist jetzt der Fall. Was macht Ihr, damit diese Menschen nicht vereinsamen?
Wir besuchen sie zu Hause, gehen mit ihnen spazieren, kaufen für sie ein und geben ihnen wöchentlich Aktivierungs- und Beschäftigungsaufgaben ab. So wollen wir die Kernaufgabe der Tagesstruktur aufrechterhalten. Zudem fördern wir die Kontakte untereinander.
Normalerweise halten sich die Menschen regelmässig fast den ganzen Tag bei euch in der Tagesstruktur auf, jetzt sehen sie euch nur für eine Stunde täglich. Was bewirkt das?
Viele bekommen zunehmend Schwierigkeiten. Andere merken nicht gross, dass etwas anders ist, da sie die hektische Gesellschaft als Problem betrachteten. Für diese Leute ist die Situation eher angenehm. Die anderen halten das Alleinsein kaum aus. Je länger der Lockdown dauert, desto mehr entwickeln sie Ängste oder Depressionen und fangen an, zu dekompensieren.
Je länger es dauert, desto mehr entwickeln sie Ängste oder Depressionen und fangen an, zu dekompensieren.
Was bedeutet das?
Chronische psychiatrische Erkrankungen werden teilweise wieder akut. Ein Klient mit einer manisch-depressiven Störung zum Beispiel wurde in der Krise wieder manisch, weil sein gewohnter Ablauf nicht mehr vorhanden ist. Manche Leute brauchen Unterstützung bis hin zu einem Klinikaufenthalt.
Wir versuchen, die Leute so gut zu betreuen, dass sie trotz Schwierigkeiten zu Hause bleiben können. Bisher mussten wir erst einen Klienten in eine Klinik einweisen lassen. Flexible und kurzfristige Terminvereinbarungen ermöglichen uns, Krisenintervention zu Hause zu machen. Diese Sicherheit ist wichtig für die Leute.
Welche Reaktionen zeigen sich bei Eurer Klientel sonst?
Menschen, die in einer Beziehung oder in einer Ehe leben, sitzen jetzt sozusagen den ganzen Tag aufeinander. Das ist neu für viele Paare und führt zunehmend zu Problemen. Ein Klient beispielsweise wünscht, dass ich ihn jeden Tag besuche, seine Frau aber goutiert das nicht.
Besteht die Gefahr, dass es zu häuslicher Gewalt kommt?
Bei manchen schon. Beziehungen, in denen es schon länger Probleme gibt, sind gefährdet. Wir können Entlastung anbieten, aber leider nicht verhindern, dass es zu Gewalt kommt.
Sind es nur Männer, von denen eine Gefahr ausgeht?
Nein, wir kennen auch umgekehrte Fälle, also Männer, die Angst vor ihren Frauen haben. Wir versuchen, die Situationen in Gesprächen zu entschärfen. Bisher ist uns das gelungen.
Es gibt Leute, die sagen: Dann werde ich halt krank und sterbe.
Gewöhnen sich die Leute allmählich an die Situation oder spitzt sich die Lage zu?
Sie werden ungeduldig, so, wie viele andere Menschen auch. Für Senior*innen ist es teilweise schwierig, die strikten Regeln einzuhalten. Es gibt Leute, die sagen: Dann werde ich halt krank und sterbe. Ihnen fällt es schwer, beispielsweise nicht mehr einkaufen zu dürfen.
Wie geht es mit der Tagesstruktur weiter, wenn alles wieder «normal» ist?
Es wird wohl lange dauern, bis wir unsere Klientel wieder in gewohntem Setting in unseren Räumen empfangen können. Ich habe mich darauf eingestellt, dass wir noch eine Weile so weitermachen werden. Für jene Menschen, die sich in der jetzigen Situation wohlfühlen, wird der Weg zurück in die Struktur nicht einfach sein.
Wir vom Team lernen die Menschen jetzt in einem anderen, in einem privaten Rahmen kennen. Das ist schön und wertvoll für die Beziehung. Die Menschen schätzen die aufsuchende Arbeit. Daher schliesse ich nicht aus, dass wir unser Angebot einmal dahingehend erweitern werden. Noch ist das nicht spruchreif.
Mehr Information:
Stiftung Rheinleben
Telefon: 061 686 92 22
www.rheinleben.ch