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Die Sucht im «lebbaren» Bereich einpendeln

Wie ist es, wenn der Rausch zur Sucht wird und die Sucht seit Jahren Begleiterin ist? Bajour war zu Besuch in einer betreuten Wohngruppe, in der Suchtkranke leben.

10/24/19, 03:06 PM

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Herr Keller am Esstisch.

Herr Keller am Esstisch. (Foto: Sabrina Stäubli)

Herr Keller sitzt am Esstisch, vor sich einen Kaffee, neben sich Kreuzworträtsel. «Hier sitze ich oft und löse Kreuzworträtsel», sagt er. «Hier» ist in der Wohngruppe Laufenstrasse im Gundeli. «Hier» lebt Herr Keller zusammen mit anderen Menschen, die einen Suchthintergrund haben. «Herr Keller» steht an seiner Zimmertür, so nennen ihn auch die Pfleger*innen, die die Bewohner*innen in ihrem Alltag unterstützen.

«Früher habe ich noch mehr anderes gemacht», sagt Keller. «Früher» heisst, bevor er in die Wohngruppe eingezogen ist. Als er noch alleine lebte, alkoholsüchtig war. «Wir haben natürlich im Kollegenkreis immer wieder getrunken. Aber alles im Rahmen. Überbordet habe ich in diesem Kontext nie, mein Umfeld hat wohl lange nicht begriffen, wie viel ich wirklich getrunken habe», erzählt er.

Die Wohngruppe existiert seit zehn Jahren und bietet Platz für 25 Bewohner*innen, aufgeteilt auf vier abgetrennte Stockwerke. Die Gemeinschaftsräume der Wohngruppen sind individuell gestaltet und sauber. Bis auf die anwesenden Pflegerer*innen und ausgehängte Pläne für Aktivitäten und Mahlzeiten deutet nichts darauf hin, dass es sich hier um betreutes Wohnen handelt. Auch ein Notfallklingelsystem oder ähnliches sucht man vergebens. Für allfällige Notfälle werden handelsübliche Babyphone eingesetzt, über die sich die Bewohner*innen bemerkbar machen können.

Ausschnitt des Wohnzimmers.

Ausschnitt des Wohnzimmers. (Foto: Mirjam Kohler)

Als Bajour vor Ort ist, ist es sehr ruhig. Der Fernseher läuft einen Tick zu laut, die Pfleger*innen sind die einzigen, die sprechen. Ein Mann wartet neben der Tür zum Balkon um rauchen zu gehen, er scheint unruhig. Eine Frau mit auffälligen Schuhen sitzt in einem Sessel, den Rollator vor sich, wartet ebenfalls, vielleicht auf das Mittagessen. Der Besuch scheint sie nicht sonderlich zu interessieren, sie wirkt abgestumpft. Es ist schwierig, ihr Alter einzuschätzen. «Die Bewohner wirken älter, als sie sind», sagt auch der verantwortliche Hausleiter Kurt Hildebrandt im Gespräch mit Bajour.

«Zweidrittel unserer Bewohner sind Männer, das Durchschnittsalter liegt bei etwa 60 Jahren», so Hildebrandt. Alkohol sei die Sucht, die die meisten der Bewohner*innen betreffe. «Es ist ein gesellschaftliches Problem, dass bei Männern eher akzeptiert wurde, dass sie Alkohol trinken und auch entgleisen. Meiner Meinung nach ist das einer der Gründe, wieso bei uns mehr Männer wohnen, als Frauen.»

Kurt Hildebrandt, Hausleiter.

Kurt Hildebrandt, Hausleiter. (Foto: Mirjam Kohler)

Jahrelang habe er getrunken, sagt Keller. Getrunken, um zu verdrängen, erklärt er. Zuerst viel Whiskey, danach sei er auf Bier umgestiegen. «Das wurde mein Hausgetränk», sagt der 74-Jährige und lacht.

Erst als ein Bruder ihn zuhause besuchte und Keller betrunken vorfand, kam die Wende. «Er liess mich sofort ins Spital einliefern.» Nach einem Aufenthalt in der Universitären Psychiatrischen Klinik kam Keller auf die Wohngruppe. Für ihn war das in Ordnung: «Denn eigentlich wollte ich schon lange etwas an der Situation ändern, hatte aber die Kraft nicht dazu. Gesucht habe ich es nicht, betreut zu wohnen. Man hat aber einen sanften Druck ausgeübt, dass es besser für mich sei. Die Rückfallgefahr war ein grosses Thema und das wollte ich ja dann auch nicht.» Seit knapp sechs Jahren lebe er in der Wohngruppe und sei trocken.

Einer der wenigen Hinweise darauf, dass es sich um eine Wohngruppe handelt: der Essensplan.

Einer der wenigen Hinweise darauf, dass es sich um eine Wohngruppe handelt: der Essensplan. (Foto: Mirjam Kohler)

«Eine typische Biografie gibt es bei unseren Bewohnern nicht», so Hausleiter Hildebrandt. «Manche werden noch sehr stark von ihren Familien getragen, andere haben nur noch ihren Beistand. Der grösste Teil der Bewohner wird über die AHV, IV und Ergänzungsleistungen finanziert und durch Beistände in die Wohngruppe platziert. Die meisten sind froh, dass sie in diesem geschützten Rahmen leben können, einige von ihnen haben früher auf der Strasse gelebt.»

Auf der Strasse gelebt hat Herr Keller nicht. Einige seiner Möbel durfte er in sein Zimmer in der Wohngruppe mitnehmen. Einen Schrank, ein Sofa. Ins Auge springen die zahlreichen Eulen-Figürchen, die im Zimmer verteilt sind. «Ich habe noch viel mehr. Zum Beispiel ein ganzes Sammelbrett voller Fingerhüte mit Eulen drauf. Die habe ich aber eingelagert», sagt Keller. Auf dem Sofa liegt auch ein Stapel Hüte. «An dem hier habe ich meine Pins, die ich auf Wanderungen gekauft habe», sagt er und zeigt auf einen schwarzen Filzhut. Jetzt wandere er auch noch ab und zu, sein Miniskus-Problem verkürze die Ausflüge aber. Von seinem jahrelangen Alkoholkonsum spüre er körperlich nichts.

Herr Keller und sein Wanderhut.

Herr Keller und sein Wanderhut. (Foto: Sabrina Stäubli)

«Ich fühle mich hier schon wohl», sagt Keller. Zu den anderen Bewohner*innen habe er losen Kontakt. Das sei auch in Ordnung für ihn. «Ich weiss, dass andere auf der Wohngruppe auch ein Alkoholproblem haben oder hatten, das berührt mich aber nicht weiter.» Hildebrandt kennt das: «Über die Süchte der anderen wird nicht gesprochen. Der Kontakt zwischen den Bewohnern ist nicht sehr rege, jeder hat genug eigene Probleme.»

Die Institution gibt den Bewohner*innen durch die Mahlzeiten und Aktivitäten eine Tagesstruktur. Er helfe gerne beim Kochen, sagt Herr Keller. Er sei leidenschaftlicher Hobbykoch. Erzählt, dass er früher für über 230 Personen gekocht habe und Stolz schwingt in seiner Stimme mit. Stolz kommt auch auf, wenn Keller davon erzählt, nicht mehr zu trinken. «Ich bin froh, dass ich dieses Übel ‹Alkohol› nicht mehr habe», sagt er.

Hildebrandt betont, dass es sich bei der Wohngruppe Laufenstrasse nicht um eine Entzugsklinik handle. Stattdessen stabilisiere man die Bewohner*innen dadurch, dass man ihre Grundbedürfnisse sicherstelle. Ziel sei es, dass die Bewohner*innen ihre Sucht auf einem «lebbaren» Ausmass einpendeln können. «Den Wunsch davon wegzukommen, haben sie nicht.»v

Eine der zahlreichen Eulen in Herr Kellers Zimmer.

Eine der zahlreichen Eulen in Herr Kellers Zimmer. (Foto: Sabrina Stäubli)

Im Haus dürfe nicht konsumiert werden, geraucht wird auf den Balkonen. «Die meisten der Bewohner*innen bleiben für den Rest ihres Lebens auf der Wohngruppe. Nur wenige schaffen es, ihre Selbständigkeit so auszubauen, dass sie wieder alleine leben können», so Hildebrandt. «Für mich ist allein die Tatsache, dass es das Angebot gibt, ein Erfolgserlebnis. Dass wir Bewohner mit dieser Krankheitsgeschichte so betreuen dürfen, finde ich enorm», sagt er.

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Basel und die Drogen – stimmt die Chemie? Im Oktober haben wir über den Kokaingehalt im Basler Abwasser geschrieben und darüber gerätselt, warum er ausgerechnet während der Baselworld 2015 so tief war? Wir haben mit drei Menschen gesprochen, die aktiv am Nachtleben teilnehmen aber nichts konsumieren und unter Anderem gefragt: Wie anstrengend sind berauschte Kieferkasper im Club? Wir haben versucht, im Darknet an Stoff ranzukommen und waren überrascht davon, wie einfach das ging. Wir haben zurückgeschaut auf 200 Jahre Basel im Rausch und ein paar tolle Facts herausgepickt – zum Beispiel wurden 1911 SECHS ABSTINENTE IN DEN GROSSEN RAT GEWÄHLT 😱😱😱. Und wir gingen Velofahren auf den Spuren Albert Hofmanns. Das kann man leider nicht nachlesen, da muss man dabei gewesen sein. Am 24. Oktober fand unser Speed Dating zum Thema statt. Ein wunderbarer Anlass!

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