Liebe Eltern, wollt ihr die Kleinklassen zurück?
Eine Gruppe Basler Lehrpersonen möchten wieder Förderklassen für «besonders verhaltensauffällige» Schüler*innen einführen. Was halten Eltern davon? Wir haben die Gärngschee-Community gefragt.
Kaum ein Schulthema hat die Basler Gemüter in den letzten Jahren so bewegt wie die abgeschafften Kleinklassen. Lehrpersonen klagten immer wieder, es sei eine Zumutung, Kinder mit Lernschwäche, Behinderung oder Mühe mit Disziplin alle in der Regelschule zu integrieren. Jetzt wollen sie eine Initiative lancieren und wieder Fördergruppen für «besonders verhaltensauffällige» Schüler*innen einführen.
Doch was denken die Eltern? Das wollten wir wissen und fragten die Gärngschee-Community. Und bekamen viele Antworten. So viel vorneweg: Die meisten Eltern und auch Pädagog*innen aus der Community wollen die Kleinklassen zurück.
Früher wurden Mädchen und Knaben mit Behinderung, einer Lernschwäche oder verhaltensauffällige Kinder in Kleinklassen unterrichtet. Seit zehn Jahren gehen fast alle Kinder in Regelklassen, dafür bekommen Lehrpersonen je nachdem Unterstützung durch Fachpersonen wie zum Beispiel Heilpädagog*innen. Diese Schulform ist unter Basler Lehrer*innen stark umstritten.
Eine Initiative will nun wieder Förderklassen für «besonders verhaltensauffällige» Schüler*innen einführen. Das Ziel sei nicht, die integrative Schule abzuschaffen, sondern zusätzliche Förderklassen für «besonders verhaltensauffällige Kinder» wieder einzuführen.
Kritik am Status Quo
Vreni Gramelsbachers Sohn war in einer Förderklasse und hat aus Sicht der Mutter profitiert: «Es ist nicht möglich, in einer Regelklasse Kinder mit besonderen Bedürfnissen genug Beachtung zu schenken. Alle leiden darunter, auch die ‹normalen› Schüler*innen und die Lehrpersonen.» Ihre Meinung stösst auf Zustimmung.
Fabienne Schenker sieht es ähnlich: «Als Mutter eines Kindes mit besonderen Bedürfnissen bin ich absolut dafür», schreibt sie.«Aktuell stehen wir kurz vor dem Kindergarten-Eintritt, aber auch ich mache mir Gedanken, wie es in Zukunft für uns weiter geht. Es fehlt einfach, so wie ich jetzt schon öfters mitbekomme, an Fachpersonal.»
Andere Eltern schreiben anonym unter einem Bajour-Artikel zum Thema:
«Das System der integrativen Schule mag in der Theorie und mit sehr viel Engagement der Lehrpersonen eine grossartige Sache sein… allerdings mussten wir bei unseren beiden Söhnen feststellen, dass es sich in der Realität als sehr schwierig erweist. Beim älteren Sohn gab es 4 integrative Kinder zusätzlich kamen noch drei fremdsprachige Kinder (ohne Deutschkenntnisse) dazu. So kam es häufig vor, dass in der Klasse bis zu 6 Lehr-/ und Betreuungspersonen gleichzeitig anwesend waren. [...] Es war eine konstante Unruhe, für die Kinder insbesondere, aber auch für die Lehrer.»
Das aktuelle System: «eine Zumutung»
Es meldeten sich allerdings nicht nur Eltern, sondern auch Lehrpersonen und Fachpersonal.
Die Mehrheit wünscht sich Kleinklassen zurück, etwa die Primalehrerin Saskia Schnittlauch. Sie bezeichnet die integrative Schule als «Reizthema Nr. 1».«Integrative Schule funktioniert nur, wenn max. 15-18 Kinder/Klasse sind, 100% Heilpädagogen, Sozialarbeiter und qualifizierte Assistenten mit dabei sind und genügend ‹Räume› vorhanden sind! Diese Sachen sind zurzeit alle nicht nur nicht gegeben – wir sind weit weg davon und die Mittel werden immer mehr gestrichen. [...] so funktioniert das nicht!» Ausserdem gehe es zu lange, bis man als Lehrer*in die nötige Unterstützung durch Heilpädagog*innen bewilligt bekomme.
Mit ihrem Kommentar stösst Schnittlauch bei vielen offenbar auf Zustimmung. Mit 20 Likes hat er mit Abstand am meisten Reaktionen ausgelöst.
Die Lehrerin Petra Lüthi Tsengo unterrichtet Technisches und Textiles Gestalten. Früher in den Klein- und Einführungsklassen hatte sie in einer Gruppe jeweils fünf bis sechs Schüler*innen gleichzeitig. Sie sagt, damals hätten diese profitiert. «Ich konnte sie individuell fördern.»
Jetzt sei die Situation eine andere. Sie unterrichte zwar dieselben Fächer, habe aber pro Gruppe elf bis zwölf Schüler*innen und davon mindestens vier bis fünf Kinder mit besonderen Bedürfnissen. «Es ist unmöglich alle individuell zu fördern, da ich keine Assistenz im Unterricht habe und somit alles alleine bewältigen muss.» Das sei für alle Beteiligten oft frustrierend.
Die Kindergartenlehrerin Dunia Eglin hat zwar Hilfe, aber seit der Abschaffung der Einführungs- und Kleinklassen würden langsamere oder verträumte Kinder in der Regelklasse noch mehr auffallen, wenn extra für sie ein*e Heilpädagog*in in den Unterricht komme. Das sei ein «klarer Rückschritt».
Es sind Stimmen, wie man sie immer hört, wenn es um die integrative Schule geht. Es gibt aber auch andere. Die Primarlehrerin Nadine Bühlmann macht sich Sorgen wegen der Initiative: «Jetzt will man wieder Kinder in Kleinklassen abschieben», sagte sie gegenüber Bajour. Sie ist überzeugt: «Alle Kinder profitieren von der integrativen Schule.» Etwa, weil sie Verständnis füreinander entwickeln und voneinander lernen. Für Bühlmann ist klar: «Das Problem sind nicht die verhaltensauffälligen Kinder, sondern die Haltung der Lehrpersonen.» Es brauche die nötige Bereitschaft und den Willen zur Weiterbildung.
Ihrer Meinung ist auch eine Heilpädagogin, die Bajour eine Mail schrieb und anonym bleiben möchte. Sie schreibt: «Ich bin Heilpädagogin und sehe die Forderung nach Kleinklassen auch eher kritisch.» Es gäbe bereits heute kleinere Lerngruppen für verhaltensauffällige Kinder in der Volksschule. Sie wundere sich, dass in dieser Diskussion kein Wort zu diesen «Spezialangeboten» gesagt werde.
Erziehungsdirektor Conradin Cramer zeigte sich offen für Diskussionen. Er sei sich durchaus bewusst, dass es Verbesserungspotential gebe, sagte er dem «Regionaljournal». Die integrative Schule sei ein «Jahrhundertprojekt», das man nicht einfach so aufgeben könne. «Meine Hoffnung ist es, dass wir die Anliegen der Initiative mit einer Verbesserung des bestehenden Systems vorwegnehmen können.»
Dieser Wunsch zeigt sich auch in den Wortmeldungen der Gärngschee-Gruppe.
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