Was haben die im Oberbaselbiet nur gegen uns Städter*innen?
Alle Welt redet über den Stadt-Land-Graben. Warum wollen die auf dem Land anders sein als wir in der Stadt? Ein Roadtrip durchs Oberbaselbiet.
Der Unterschied zwischen politischen Landkarten im Fernsehen und politischen Landkarten, wenn man mittendrin steht: Die glatte, trennscharfe Fläche ist weg. Stattdessen sind da überall Brüche und Widersprüche und Stolperstricke und höchstens ab und zu das Gefühl für ein grosses Ganzes.
Das grosse Ganze haben wir gesucht, aber das Unscharfe gefunden. Folglich kann das hier nur ein Auftakt sein für ein Verstehenlernen dessen, was sich politisch ausserhalb der Stadt abspielt und wie es zustande kommt. Der Stadt-Land-Graben wird uns noch eine Weile begleiten. Nur, ob wir ihn weiterhin so nennen werden, steht in den Sternen.
Wir haben Gräben gesucht, aber mehr Maulwurfhügel als sonstwas gefunden.
Wo Städter*innen das Gras plattfahren: Zeglingen
Ein Dienstag Mitte August, vom Himmel brennt die Sonne und auch im Oberbaselbiet, genauer, in Zeglingen* ist auf den Feldern schwer was los. Alle Maschinen sind im Einsatz beim Versuch, etwas von der ausgeschwemmten Getreideernte zu retten.
Im Dorf selber ist es ruhig. Wir investigieren hartnäckig umher beim Versuch, «mit jemandem zu reden». Allein, da ist niemand. Nur neugierige Augenpaare hinter hohen Hecken, die schnell verschwinden, als wir nach ihnen rufen. Erste Beobachtung: Teilnehmende Beobachtung ist hier keine Option. Wer in Jeans und T-Shirt kurz vor Mittag auf der Dorfstrasse in Zeglingen umhergeht, fällt auf wie ein Kakadu. Am Dorfausgang steht glücklicherweise eine Tür offen. Wir rufen kurz rein, Antwort: «Chume grad.»
Eine Frage des Sich-in-Andere-Hineinversetzens
Marcel Niklaus sagt, er ist stolz auf seinen Beruf. Landmaschinenmechaniker, neben der Sägerei der grösste Betrieb im Dorf, neun Angestellte. Der Vater hat das aufgebaut, jetzt ist Marcel der Chef, mit 37 Jahren. Zeglingen ist ein ruhiges Dorf, sagt er, das mag er. Mit Corona sei auch hier oben vieles schwieriger geworden. Mit den beiden Agrarinitiativen vom 13. Juni stand sein Geschäft vor einer Richtungsfrage.
«Ich habe ausschliesslich Landwirte als Kunden. Die haben vor der Abstimmung nichts mehr investiert, weil sie bei einem Ja ihre Maschinen hätten modifizieren müssen. Im ganzen Land war Abstimmungskampf, aber ich stand hier und die Aufträge waren weg. Abwarten hiess es. Da spürte ich: Was da passiert, hat eine unmittelbare Konsequenz für meine Bude und meine Angestellten und meine Familie. Musste dann nicht gross überlegen, was abstimmen. Jetzt geht’s wieder.»
Geht er manchmal in die Stadt?
«Selten, einmal im halben Jahr. Ins Kino oder an eine Konzertveranstaltung.»
Und umgekehrt – kommt die Stadt manchmal hier hoch, nach Zeglingen?
«Während Corona kamen plötzlich viele, um zu wandern. Die haben dann die Autos auf die Wiesen gestellt, das hat dem Gras nicht gutgetan. Das war bestimmt nicht böse gemeint, aber für uns war das schon bisschen, naja, unglücklich. Das war nicht ganz durchdacht.»
In den Augen von Marcel Niklaus ist das, was wir als Stadt-Land-Graben aufspüren wollen, eine Frage der Feinfühligkeit und des Sich-in-Andere-Hineinversetzens. Dieses Grasplattfahren der Besucher*innen aus der Stadt war später auch Thema am Stammtisch im Rössli, erzählt er. «Die Touristen verstehen es nicht», hiess es da, womit das grosse Ganze des Landlebens gemeint war. Wie man hier Sorge trägt zum Land, zu den Wiesen, zur Umwelt sozusagen. Niklaus erzählt das alles ohne Groll, er spricht mit Bedacht.
Danke für die Auskunft. Wir fahren weiter.
«Wir sind 3 schwule Paare (...) und es gab da noch nie, ich sag's Ihnen, noch gar nie gab es Probleme.»Zugezogener in Zeglingen
Umweltschutz aus der Steckdose
Und kommen in der Nachbarschaft an einem grauen Haus vorbei, ein Neubau, die Garage steht offen. Darin wird gerade die Batterie eines BMW i3 aufgeladen, von dem der Hersteller auf seiner Homepage schreibt, er sei «Ausdruck eines selbstbewussten Lebensstils».
Draussen vor dem Haus steht ein zweites Auto, ein Volvo XC40 Recharge. Dabei handelt es sich, – man darf das ruhig genau nacherzählen, denn schliesslich erzählen Autos auch etwas über ihre Besitzer*innen, – es handelt sich also dabei um ein «inspirierendes Plug-in Hybrid-Kompakt-SUV. Entwickelt für ein nachhaltigeres Leben in und ausserhalb der Stadt». Das schreibt zumindest Volvo zur entsprechenden Zielgruppe. Und prompt: Ein Mittvierziger mit dicker Hornbrille zieht hinter dem SUV einen Sack mit Grünzeug hinter sich her.
In Zeglingen wurde das CO2-Gesetz mit 61,7 Prozent abgelehnt, oder wie man auf dem Dorf weiss: Mit 185 zu 115 Stimmen.
Entschuldigen Sie, rufen wir in Richtung des Mannes mit dem selbstbewussten Lebensstil, wie ist das hier so, mit diesen beiden elektrifizierten Fahrzeugen im Nein-zum-Klimaschutz-Terrain?
Der Mann, sofort sehr freundlich und aufgeschlossen, antwortet mit geschliffenem Hochdeutsch: «Soll ich Ihnen was sagen? Die Leute hier sind sehr umweltbewusst, das sehe ich jeden Tag mit eigenen Augen. Viele haben einen Trockenholzhaufen im Garten, für die Käfer und Insekten. Oder wenigstens ein Bienenhotel. Umweltschutz ist hier kein Fremdwort.»
Aha, ein Zugezogener, denken wir hinter dem Notizblock, sehr gut. Der kann uns bestimmt helfen: Wie ist das denn hier mit dem Stadt-Land-Graben?
«Ich lebe hier mit meinem Partner. Wir sind drei schwule Paare, die alleine in dieser Strasse wohnen und es gab da noch nie, ich sag's Ihnen, noch gar nie gab es Probleme. Die Leute sind sehr nett und aufgeschlossen. Ich muss jetzt weiter zu den Hühnern, ciao.»
Unsere Reise durchs Oberbaselbiet dokumentieren wir parallel auf dem Bajour-Instagram-Account. Als wir dort die Frage stellen, was denn für unsere Follower*innen der Stadt-Land-Graben bedeutet, schreibt die Userin @wyssjul: «Der Unterschied, wo ich die Hand meiner Freundin halten darf auf der Strasse.» In Zeglingen sei das Schwulsein kein Problem, sagt unsere Zaunbekanntschaft. Wie wird das Dorf am 26. September über die Ehe für alle abstimmen?
Der Stadt-Land-Graben akzentuiert sich
Zirka 70 Kilometer südwestlich von Zeglingen, am politikwissenschaftlichen Institut der Universität Bern, wird der Stadt-Land-Graben seit einem halben Jahr wissenschaftlich untersucht. Das Interesse an der Forschung ist gross, sagt die Doktorandin Alina Zumbrunn, sie hatte schon viele Journalist*innen am Telefon und sagt, um den Stadt-Land-Graben zu erklären, gebe es zwei Theorien.
«Die kontextuelle Theorie sagt, dass die in der Umgebung herrschenden Wertemuster, die Traditionen und Lebensstile, das Abstimmungsverhalten beeinflussen.» Das ist die eine Erklärung. «Die kompositionelle Theorie geht davon aus, dass der Stadt-Land-Graben durch die unterschiedlichen Eigenschaften der Menschen, zum Beispiel dem Bildungsstand, Einkommen oder Vermögen entsteht.»
«Die beiden Theorien haben eine Wechselwirkung. Sie beeinflussen sich also gegenseitig», sagt Zumbrunn.
Der Stadt-Land-Graben ist kein neues Phänomen. Die Archive der Abstimmungsgeschichte berichten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts von aufkeimenden Interessenkonflikten zwischen Stadt und Land. In den vergangenen 30 Jahren hätten sich diese Interessenkonflikte aber akzentuiert. Die Abstimmungen mit den deutlichsten Differenzen zwischen Stadt und Land sind alle seit den 1990ern abgehalten worden, sagt Zumbrunn.
Die Minarettinitiative gehört zu den prominentesten Beispielen eines deutlichen Stadt-Land-Grabens. Die Masseneinwanderungsinitiative auch. Laut dem Politologen Michael Herrmann gehört die «Volksinitiative für den Schutz vor Waffengewalt» zu jenen Abstimmungen mit dem tiefsten Graben. Sie wurde 2011 mit 56,3 Prozent abgelehnt, Nur in den sechs Kantonen Basel-Stadt, Zürich, Genf, Neuenburg, Waadt und Jura wurde die Initiative angenommen.
Systemstabilisierend sei aber, sagt Zumbrunn auch, dass die Abstimmungen mal auf diese und mal auf jene Seite kippen. Die NZZ am Sonntag hat recherchiert, dass in den vergangenen zwanzig Jahren das Land die Stadt 29-mal überstimmte, die Stadt das Land 22-mal. In mehr als 70 Prozent der Fälle war man sich einig. «Das führt dazu, dass sich keine Seite konsequent als Verliererpartei fühlen muss», sagt Zumbrunn.
Klingt versöhnlicher, als es manche 1. August-Rede vermuten liesse.
Vernetzung und Vorurteil
Weg aus dem Archiv, zurück in die Oberbaselbieter Hügel, wo wir auf dem besten Weg sind, in eine nächste, zu einfache Vorverurteilung hineinzurasseln. Wir sind in Häfelfingen, 260-Seelen-Dorf, es ist die fünftkleinste Gemeinde im Kanton und hat, eingeklemmt unter dem Wisenberg, keinen Handyempfang. In diesem Dorf wurde noch nie Pokemon Go gespielt. Dafür klebt an der Hauptstrasse ein «Das Baselbiet bleibt selbständig»-Kleber auf einem Briefkasten.
Der Gemeindepräsident, Rainer Feldmeier, ist nicht in der SVP, sondern parteilos. Wie im Übrigen der gesamte Gemeinderat. Feldmeier trägt an einem durchschnittlichen Mittwochmorgen im August ein dunkelblau gepunktetes Hemd, blaue Hosen, Trekkingschuhe. Die rechteckige Brille hat selbsttönende Gläser. Ein praktischer Typ.
Was besorgt Sie zurzeit am meisten, Herr Feldmeier, was treibt Sie um im Dorf?
«Die Leute sind dünnhäutiger geworden», antwortet Feldmeier. «Seit wegen der Corona-Pandemie alle zu Hause sitzen, gibt's öfter mal Streit im Dorf. Nichts Schlimmes, meistens geht's um ungeschnittene Hecken oder Rasenmäherlärm.» Feldmeier muss trotzdem häufiger ausrücken als früher und hie und da ein paar schlichtende Worte einlegen.
Dann erklärt Feldmeier, wie das Leben hier funktioniert und dass Häfelfingen in ein feines Netzwerk praktischer Allianzen eingesponnen ist. Es gibt den Feuerwehrverbund, zweimal im Monat wird geübt. Es gibt den Zweckverband Wasserversorgung, das heisst, im Fall einer Havarie versorgt man die Nachbargemeinden mit Wasser. Das Forstrevier wird gemeinsam verwaltet. Es gibt einen Friedhofzweckverband, der Schützenverband kocht am Bündelitag vor der Dorfbeiz zur «Alten Laterne» Risotto.
«Wir arbeiten schon lange sehr eng mit den Nachbargemeinden zusammen», sagt Feldmeier. Und wenn wir anfangs dachten, Häfelfingen sei Abschottungsterrain, weil man nicht einmal im Internet abhängen kann, während man an der Dorfhaltestelle auf eine der seltenen Busverbindungen wartet, dann kriegen wir jetzt eine andere Perspektive auf die Weltangebundenheit dieser kleinen Gemeinde.
Das Miteinander ist kleinräumiger als in der Stadt. Aber wenn wir uns gesellschaftliche Zusammenarbeit oder Vernetzung als kulturelle Eigenschaft vorstellen, dann wird diese Eigenschaft hier genauso gepflegt wie in der Stadt. Ab welchem Radius gilt ein politisches Miteinander als Weltläufigkeit und bis wohin gilt es in unseren Augen als provinziell?
Sich aussen vor sehen
Es gibt wissenschaftliche Erklärmuster, um über den Stadt-Land-Graben nachzudenken. Aber dann gibt es da noch andere, subtilere Faktoren, die ebenfalls beeinflussen, wie wir über das Thema denken und sprechen.
Stichwort Sprache: Warum heisst es zum Beispiel Stadt-Land-Graben und nicht Land-Stadt-Graben? Das ist ja kein neutraler Begriff, wenn man bedenkt, dass die Stadt an erster Stelle steht. An zweiter Stelle steht in diesem Koppelwort gewissermassen die Differenz. Das Erklärungsbedürftige auf der anderen Seite des Grabens.
Diese gedankliche Einbahnstrasse hat sich tief in den politischen und medialen Diskurs eingeschrieben. Journalist*innen, die das Thema aufgreifen, fahren üblicherweise aus den Redaktionsstuben in den urbanen Zentren aufs Land. Interessante Beobachtung: Viele Menschen, die wir im Oberbaselbiet nach ihrer Interpretation des Stadt-Land-Grabens befragen, sagen, sie tickten halt schon ein bisschen anders als die in der Stadt, «mir hei öise eigene Grind».
Sie sagen also nicht, die Städter*innen ticken anders, sondern sie selbst. Das ist, könnte man ein bisschen hochtrabend sagen, internalisierte Differenz.
Migrant im Dorfzentrum
Wir verabschieden uns aus der Häfelfinger Amstsstube und driften weiter durch die Oberbaselbieter Hügel beim Versuch, Land-Stadt-Gräben und Widersprüche aufzuspüren. Warum können beispielsweise die zwei alten Männer im Gasthof Dorfbeizli einen rassistischen Jugo-Witz erzählen, während ihnen in genau diesem Augenblick der neue Dorfwirt, ein 22-Jähriger mit Wurzeln im Kosovo, einen Espresso serviert? Ohne den neuen Wirt hätte diese Kneipe womöglich vor zwei Jahren schliessen müssen, aber die Alten sitzen hier und erzählen sich derbe Witze, als stünde ihnen das zu.
Kurz hineinlauschen in diesen Dorfbeizlisound an einem Augustmittag in Wenslingen.
Wirt, tritt an den Tisch: «Hats euch geschmeckt, wollt ihr noch einen Kaffee?»
Alter Mann: «Ne.»
Frau, auch am Tisch sitzend: «Das heisst nicht ne.»
Mann (schreit fast): «NEI DANKCHE, GOPFERTAMMI. Lönd mi in Rue. Frog nid so nätt die ganz Zit, immer muessi derwäge nätt si.»
Zweiter Mann am selben Tisch (zustimmend): «Alli sind immer so gopfertammi nätt.»
Für nicht Ortsunkundige ist es gar nicht so leicht zu erkennen, ob das alles mit Humor gemeint ist. Wahrscheinlich schon.
Ihm gefalle es hier sehr gut, sagt der Wirt Lirigzon Syla später beim Einkassieren, die Leute seien sehr, sehr nett. Einen älteren Stammgast empfange er manchmal schon auf dem Parkplatz. Einmal hat er ihn huckepack aus dem Auto an den Stammtisch getragen. Alle hätten gelacht. Die frühere Wirtin, Dorli, die wohnt immer noch im Haus und hilft ihm und gibt Tipps. «Wir sind eine Familie.»
Fehlt Syla denn die Stadt nicht, will er nicht ab und zu richtig einen draufmachen?
Er fährt manchmal mit Freunden nach Basel, erzählt er, dann grillieren sie Cevapcici an der Wiese. Auch auf der Speisekarte im Dofbeizli gibt's jetzt Cevapcici. Die Eltern sind in den 90er-Jahren aus dem Kosovo in die Schweiz gekommen, sie wohnen im Nachbardorf Rümlingen. «Ein gutes Dorf, ich bin wirklich sehr glücklich da», sagt Syla. Vor Kurzem ist er Vater geworden.
Über den Land-Stadt-Graben erzählt uns jetzt diese Anekdote nicht so viel, ausser dass hier das Leben vielleicht ein bisschen früher eine gewisse Ernsthaftigkeit erreicht mit Verantwortung und Arbeitspflichten. Der kompositionellen Theorie zufolge spräche das möglicherweise für ein pragmatisches Abstimmungsverhalten, im Sinne einer «man muss sich das erarbeiten»-Philosophie. Kurzer Check: Die kantonale Initiative «Stimmrecht mit 16» wurde 2018 in Wenslingen mit 84 Prozent abgelehnt (Kantonsdurchschnitt). Das Stimmrecht für Niedergelassene ebenso. 85 Prozent sagten 2018 dazu nein.
Theorien gut und recht. Aber was ist mit Oltingen?
Die beiden Theorien Komposition und Kontext mögen sich hier mit den Abstimmungsresultaten anschaulich abgleichen lassen. Nur ein Dorf weiter, in Oltingen, wird ihr Erklärpotenzial ordentlich erschüttert. Oltingen ist das politisch grünste Dorf der Schweiz, 38,4 Prozent wählen die Partei von Nationalrätin Florence Brenzikofer, die aus Oltingen kommt. Wir sitzen auf einen Kaffee im «Ochsen», aber gehen dann auch wieder. Weil rasch klar wird, dass schon viele Journalist*innen im «Ochsen» sassen, um sich den Land-Stadt-Graben erklären zu lassen.
Die Stories über die Andersartigkeit und den Stolz darauf, ein cooles Dorf zu sein, sitzen ein bisschen zu perfekt.
Die Erklärung für Oltingens Grünsein in Kürzestversion: Oltingen ist so grün, weil bereits in den 1980er-Jahren viele Zugezogene mit progressiven Haltungen ins Dorf zogen. Das Dorf wurde zu einem Magnet für Alternative, was wiederum der kontextuellen Theorie widerspricht, wonach die Umgebung die Einstellung der Menschen beeinflusst.
Eine nette Erzählung
Wir fahren darum noch einmal zurück nach Zeglingen, wo wir unsere Grand Tour du Oberbaselbiet begannen und hören eine letzte, frappante Erklärung für die Land-Stadt-Differenz. Judith Gysin-Schaffner war neun Jahr lang Wirtin des Dorfgasthauses Rössli, das bei Städter*innen aus Basel einen ausgezeichneten Ruf geniesst. Ciba-Geigy hatte in den 1970er-Jahren eine Teststelle für Staubexplosionen in der stillgelegten Gipsgrube in Zeglingen. Die Konzern-Oberen speisten im Rössli und das oft und gern. Sie machten das Gasthaus in der Stadt bekannt.
Gysin hat keine Berührungsängste mit der Stadt, so viel steht fest, ein Grossteil ihres beruflichen Erfolgs ging mit den Städter*innen Hand in Hand. Und dennoch, sagt Schaffner, liegt über diesen Hügeln eine Art kultureller Argwohn gegenüber denen aus der Stadt. Ein tief sitzender Argwohn, der nie mehr ganz weggeht, denn er sei buchstäblich in die Gegend eingebaut.
Und zwar so: Im 18. Jahrhundert war die Region berühmt für ihre Seidenbandwebereien. Die Webstühle waren teilweise in Fabriken, aber vielfach auch unter den Dächern der Wohnhäuser einquartiert, weshalb die Dächer einen markanten Knick hatten. In regelmässigen Abständen kamen die Gesandten der reichen Gutsherren aus der Stadt, um die Ware abzuholen. Und wehe, da war etwas nicht in Ordnung.
Für Gysin-Schaffner ist der Knick im Dach dieser Häuser ein Sinnbild dafür, dass der Land-Stadt-Graben auch durch die Geschichte verläuft und sich im kollektiven Gedächtnis der Alteingesessenen eingegraben hat.
Sie kommen da nicht raus. Sie wohnen noch immer unter diesen Dächern.
Das ist natürlich nur eine Geschichte. Trotzdem ist es ein bisschen sinnbildlich, dass wir uns mit dieser Geschichte aus den Hügeln verabschieden und zurück in die Stadt reisen. Der Stadt-Land-Graben ist nämlich unter Umständen auch einfach nur das: Eine nette Erzählung.
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* In einer früheren Versionen dieses Artikels stand, Zeglingen liege im Homburgertal, das ist nicht richtig und wurde korrigiert. Es ist auch nicht die Ergolz, die durch Zeglingen fliesst, wie in einer Bildlegende stand. Sondern der angesprochene Bach heisst Nünbrunnbach. Er fliesst in Zeglingen mit dem Wisenbach zum Eibach zusammen.