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Der Krieg & ich

«Wir haben gelernt, bis zwölf zu zählen. Zwölf Schüsse, dann gibt es eine Pause.»

Täglich Bomben. Für Alevtina und ihre Familie wurde es in Mariupol zu gefährlich. Sie entschied sich zur Flucht zu Fuss. Der ukrainischen Autorin Eugenia Senik schildert sie ihre Geschichte. Teil 2

03/31/22, 04:30 PM

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Zerbombte Wohnhäuser und Rauchwolken in Mariupol.

Zerbombte Wohnhäuser und Rauchwolken in Mariupol. (Foto: zvg)

Alevtinas Flucht aus Mariupol

Alevtinas Flucht aus Mariupol

Alevtina lebte in Mariupol. Als die Stadt immer und immer wieder bombardiert wurde, entschied sie sich zur Flucht. Am 16. März machte sie sich zu Fuss auf den Weg.

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«Als wir am 16. März die Stadt verliessen, sahen wir, wie das zerstörte Theater und sogar die ganze Stadt brannten. Es war furchtbar. Wir gingen die Küste entlang, weil es neben dem Meer immer noch am sichersten war. Wir wollten zuerst nach Melekine gehen und dort abwarten. Es bestand noch die Hoffnung, dass wir bald zurück können. Wir schafften es aber nicht bis zu Melekine, sondern nur bis zum nächsten Dorf Namens Pischtschane. Wir haben an allen Türen geklopft und schlussendlich hat uns eine Frau reingelassen, die uns erlaubte, bei ihr zu übernachten. Sie hat uns Essen gegeben und überhaupt kein Geld von uns verlangt.

Bevor wir Mariupol verliessen, hat uns die Frau Hinweise gegeben, wie wir am besten weiter flüchten könnten. Die Strecke führte zum Dorf Portivsʼke. Auf dem Weg brach ich zusammen. Ich ging und heulte nur, während ich die Explosionen in Mariupol hörte, das hinter unserem Rücken blieb. Da blieben auch meine Eltern und mein Bruder und ich hatte keine Ahnung, ob ich sie jemals wieder sehen werde.

Als wir an einer Strasse angelangt sind, sahen wir einen langen Stau. Wir wussten aber nicht, wohin sie alle fahren. Während wir uns der bewaffneten Grenzwache näherten, ist uns ein Panzer mit einem «Z»-Buchstaben aufgefallen. Dieses Dorf, wohin wir gingen, wurde von der sogenannten Donezk Volksrepublik erobert. Man hat dort alle Autos sorgfältig kontrolliert, vor allem jene mit Männern drin. Zum Glück haben sie uns übersehen, weil wir fast die einzigen zu Fuss waren. In diesem Dorf wurde uns gesagt, dass alle Schutzsuchenden in der Schule aufgenommen werden. Dort übernachteten wir alle.»

«Jeden Tag erfahre ich, dass jemand von meinen Freunden oder Bekannten gestorben ist. Jeden Tag.»

Alevtina aus Mariupol

«Am nächsten Tag traf ich auf der Strasse zufällig einen alten Bekannten von mir. Er sagte mir, dass er im Moment mit seinem Auto die Menschen aus Mariupol in dieses Dorf evakuiert. Da hatte ich die Idee und Hoffnung, auch meine zurückgebliebene Familie retten zu können. Also haben wir abgemacht, dass wir gemeinsam zurück nach Mariupol fahren, um sie da rauszuholen. Und so fuhren wir los.

In Mariupol angekommen, mussten wir feststellen, dass die Stadt seit unserer ersten Flucht noch mehr zerstört wurde. Ich hatte sofort Angst, dass ich meine Familie nicht mehr lebend sehen werde. Der Hof neben dem Haus, in dem sie sich versteckt haben, wurde so beschädigt, dass wir mit dem Auto erst einen Hof weiter anhalten konnten. Der Bekannte gab mir zehn Minuten, um meine Familie rauszuholen, weil es zu gefährlich sei, zu lange an einem Ort zu bleiben.»

Zwischen Verzweiflung und Erleichterung: Alevtina auf der Flucht.

Zwischen Verzweiflung und Erleichterung: Alevtina auf der Flucht. (Foto: zvg)

«Wir gingen zum Laden und als ich die von Granatsplittern durchlöcherte Tür zum Keller öffnete, stand mein Vater da. Er war sehr überrascht und glücklich. Sie alle haben sich so gefreut, mich wiederzusehen und haben gesagt, dass die vergangene Nacht schrecklich für sie war.

Wir machten uns auf dem Weg zurück zum Auto, als wir plötzlich von einem Granatwerfer beschossen wurden. Die Wucht der Explosionen haben uns in die Tür gedrückt, aber wir schafften es doch noch heil in den Keller zurück. Mittlerweile haben wir gelernt, dass man bis zwölf zählen muss. Zwölf Schüsse, dann sollte es eine Pause geben.

Nach der zwölften Explosion rannten wir also schnell wieder Richtung Auto, nur war dort die hintere Heckscheibe kaputt und mein Bekannter nirgendwo zu sehen. Ich vermutete schon das Schlimmste und dann ging auch gleich die nächste Salve los.

Diese hat die Wohnhäuser direkt getroffen! Irgendwie schafften wir es zurück in den Keller in Sicherheit. Dann zählten wir und bei zwölf rannten wir wieder los.

Diesmal sahen wir meinen Bekannten, der sich vermutlich auch verstecken musste und nun zum Auto eilte. Wir rannten schnell zu ihm und fuhren unter weiterem Beschuss los. Es war einfach zu gefährlich, länger dort zu bleiben. So brachte er uns alle wieder nach Portivsʼke. Mit der ganzen Familie konnten wir am nächsten Tag nach Saporishshja und kurze Zeit später weiter nach Kryvyi Rih fahren. Es war schon der 19. März. Hier bleiben wir nun eine Weile und hoffen einfach, dass dieses Massaker in Mariupol bald aufhört.»

«Ich kann gar nicht glauben, dass sowas in der heutigen Zeit überhaupt noch möglich ist.» Alevtina muss zuschauen, wie ihr Zuhause zerstört wird.

«Ich kann gar nicht glauben, dass sowas in der heutigen Zeit überhaupt noch möglich ist.» Alevtina muss zuschauen, wie ihr Zuhause zerstört wird. (Foto: zvg)

«Ich weiss, dass Putin den Bewohnern von Mariupol für seine Niederlage in 2014 nicht verzeihen kann. Damals, als wir unsere Position klar gezeigt haben, dass wir in der Ukraine bleiben wollen. Ist das jetzt seine Rache? Oder will er an uns ein Exempel statuieren, damit die anderen Städte Angst vor ihm haben? Ich kann gar nicht glauben, dass sowas in der heutigen Zeit überhaupt noch möglich ist. Dass man mit all unseren humanitären Fortschritten die Menschen aus Mariupol nicht evakuieren kann. Jeden Tag erfahre ich, dass jemand von meinen Freunden oder Bekannten gestorben ist. Jeden Tag.

Ich will einfach, dass dieser Albtraum bald zu Ende ist und dass die Menschen nicht mehr sterben müssen.

Und dabei kann ich sagen, dass so viele einfache Menschen Helden geworden sind. Sie evakuieren aus eigenem Antrieb die Leute aus Mariupol und wollen kein Geld dafür.»

Eugenias Tagebuch als Podcast

Eugenias Tagebuch als Podcast

Seit Kriegsbeginn in der Ukraine hat die ukrainische Autorin, Eugenia Senik, ihre Gedanken bei Bajour aufgeschrieben. Ihre Sorgen, Ängste und Hoffnungen kannst du nun auch als Podcast hören. Eugenia hat die Texte selber eingesprochen.

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«Jetzt fühle ich mich mehr oder weniger in Sicherheit und langsam kann ich auf unsere Zeit in Mariupol zurückblicken. Wie wir das Essen verteilen mussten und draussen auf der Strasse kochten, weil es zu Hause keinen Strom und kein Gas gab. So haben wir Feuer draussen gemacht und dort Suppe gekocht.

Die Kinder wollten Kartoffeln essen. Das war aber Luxus. Wir leisteten ihn uns, nachdem die Häuser in der Nähe abgeschossen wurden. Wir brauchten diese Entspannung und kochten Kartoffeln. Sonst müssten wir sie sparen und nur eine dünne Suppe machen. Da haben wir von einer Pizza «Vier Käse» geträumt. Das hat uns geholfen, es durchzustehen. Und jetzt kann ich nicht aufhören, zu essen. Weil es genug Essen in allen Läden gibt, kaufe ich alles Mögliche und esse, esse…

Wir fragen auch unbewusst in jedem Laden nach Streichhölzern und Kerzen. Die waren doch das wichtigste für uns in Mariupol. Und wir können es kaum glauben, dass es sie hier überall gibt.»

«Ich kann nicht ausatmen. Nicht solange dieser Krieg weitergeht und die Menschen jeden Tag sterben.»

Alevtina aus Mariupol

«Was ich jetzt fühle? Ich kann noch nicht richtig ausatmen. Ich kann es nicht, solange dieser Krieg weitergeht und die Menschen jeden Tag sterben.

Alles, was ich jetzt erlebe, kriege ich einfach nicht in den Kopf. Einerseits geben uns die Menschen in der Ukraine ihr Letztes, damit wir eine sichere Unterkunft haben können. Man spendet das Geld und hilft einander. Und andererseits haben so viele Menschen in Russland eine schreckliche Schadenfreude uns gegenüber. Damit kann ich keinen Frieden finden.»

Nach diesem tiefen, ehrlichen und gleichzeitig schockierenden Gespräch mit Alevtina habe ich noch mehrere Nächte von ihrer Flucht geträumt. Ihre Erfahrung zusammen mit ihrer Stimme sind mir unter die Haut gekrochen.

Ich denke oft an sie während diesen Tagen. Und die Fragen, die sie stellte, würde ich so gerne beantworten können. Auch heute musste ich an sie beim Mittagessen denken, als meine Schwester erzählte, dass die Eltern der Frau, mit der sie im gleichen Auto die Ukraine verlassen hat, gestern in Mariupol während der Bombardierung getötet wurden. So hätten auch die Eltern von Alevtina enden können, wenn sie nicht den Mut gefunden hätte, sie rauszuholen. Wir essen aber unser Mittagessen schweigend weiter und genau in dieser Zeit werden ununterbrochen ganz brutal die Menschen getötet.

Zur Autorin

Zur Autorin

Eugenia Senik (35) ist eine ukrainische Autorin. Seit August 2021 lebt sie in der Schweiz. Aufgewachsen ist sie im Osten der Ukraine, in Luhansk. Für ihr Studium zog es sie nach Basel, wo sie Literaturwissenschaften im Master studiert.

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