«Ich habe das Gefühl, in einem absurden Theaterstück zu leben»
Alfred Bodenheimer, Professor an der Uni Basel, lebt in zwei Welten. Seinen Alltag im Norden Israels erlebt er in permanenter Wachsamkeit vor Angriffen und in grosser Sorge um die Demokratie im Land. Und in Basel fühlt er sich oft unverstanden.
Alfred Bodenheimer, warum verbringen Sie die vorlesungsfreie Zeit trotz des Kriegs in Israel?
Ich bin seit Anfang des Sommers durchgehend hier, weil Israel das Zuhause meiner Familie ist. Eigentlich wollte ich zwischendurch nach Basel fliegen, aber am Morgen meines Abflugs gab es eine heftige Explosion neun Kilometer von unserem Haus im Norden Israels entfernt. In dieser Situation wollte ich meine Frau nicht alleine lassen.
Wie gehen Sie mit solchen bedrohlichen Situationen um?
Nachts wie auch am Tag hören wir oft Einschläge oder Abwehrsysteme, die Raketen treffen. Auch israelische Kriegsflugzeuge und Beobachtungsdrohnen sind dauernd präsent. Einen Alarm gab es bei uns bisher erst zweimal, zum Glück grundlos. Wir haben uns daran gewöhnt, in dieser Anspannung zu leben und versuchen unseren Alltag normal zu bewältigen. Wir befinden uns in einer Art gelassener Wachsamkeit.
Alfred Bodenheimer ist Autor und Leiter des Zentrums für Jüdische Studien an der Uni Basel. Er lebt derzeit bei seiner Familie in Karmiel und erlebt den Konflikt in Israel hautnah. Bajour hat ihn direkt nach dem 7. Oktober gefragt, wie die Situation in Israel einschätzt und das Gespräch nun – mehr als zehn Monate später – erneut aufgenommen.
Ist Gelassenheit überhaupt möglich?
Man kann nicht permanent über Wochen und Monate unter Hochspannung leben. Wir hören immer wieder Geschosse in unserer Umgebung. Uns bleibt nichts anderes übrig, als weiterzumachen wie bisher und zu hoffen, dass der Krieg sich nicht ausweitet. Wir vertrauen darauf, dass der Alarm uns warnt, sollte es wirklich ernst werden. Dann würden wir in unsere Bunker rennen. Aber natürlich hinterlässt dieser Stress, den wir täglich seit mehr als zehn Monaten erleben, tiefe Spuren in den Menschen. Ich erinnere mich an einen Morgen, an dem ich in Panik aus dem Bett aufgeschreckt bin, weil ich ein dröhnendes Flugzeug gehört habe. Kurz darauf realisierte ich erleichtert, dass ich in meinem Bett in Basel liege und die Easyjet-Maschine nach Mallorca höre.
Lebt ihre ganze Familie in Israel?
Unsere Töchter leben in Jerusalem, unser Sohn in der Nähe von Tel Aviv. Jerusalem gilt, zumindest was Raketen angeht, als etwas sicherer, der Raum Tel Aviv macht uns in dieser Hinsicht mehr Sorgen. Mein Schwiegersohn wurde zu Beginn des Krieges eingezogen, jetzt ist er auf Abruf bereit. Wenn es jetzt eine grosse Offensive gäbe, beträfe ihn das sicher. Von einem Tag zum anderen kann sich alles ändern, und das ist besonders für meine Tochter mit ganz kleinen Kindern sehr schwer.
Haben Sie grosse Sorge, dass sich der Krieg ausweitet?
Ja, sicher. Ich befinde mich aber in einem permanenten Up und Down der Gefühle. Wir wissen nicht, was als Nächstes passiert. Zuweilen haben mich die einander jagenden Infos und Eskalationsszenarien sehr nervös gemacht. Aufgrund dieser Ungewissheit wurde ich aber zugleich auch etwas fatalistisch und lasse nun alles auf mich zukommen.
Haben Sie nie überlegt, ganz in die Schweiz zu ziehen?
Natürlich habe ich darüber nachgedacht, aber meine Kinder leben alle in Israel und sind hier fest verwurzelt. Ich möchte, gerade in dieser Situation, so viel wie möglich bei meiner Familie bleiben.
«Das Misstrauen der Menschen gegenüber den Palästinensern seit dem Massaker vom 7. Oktober sitzt tief bis weit in die linken Kreise hinein.»Alfred Bodenheimer
Haben Sie Vertrauen in die israelische Regierung?
Nein. Und damit stehe ich nicht alleine da. Selbst der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant äussert Bedenken an Benjamin Netanjahus Kriegsführung. Ich bin sehr kritisch gegenüber der Regierung, weil sie keine Motivation zeigt, die Situation zu deeskalieren oder zu befrieden. Im Gegenteil. Die radikalen Siedler in der Westbank fühlen sich von der Regierung getragen und können fast nach Belieben schalten und walten. Das alles hat katastrophale Auswirkungen. Ich kritisiere auch, dass die Geiseln nicht ganz oben auf der Prioritätenliste der Regierung stehen und dass es keine echten Bemühungen gibt, diesen Krieg zu beenden und die Zeit danach zu planen. Etliche der Politiker, die in der Regierung sitzen, träumen von der Besiedlung Gazas.
Wer unterstützt die Regierung überhaupt noch?
Es ist schwer vorstellbar, aber die Regierung erfährt durchaus noch Zuspruch. Das Misstrauen der Menschen gegenüber den Palästinensern seit dem Massaker vom 7. Oktober sitzt tief bis weit in die linken Kreise hinein. Das ist für die Regierung ein gefundenes Fressen. Die meisten Menschen sind nicht einfach rechtsextrem oder messianisch, auch wenn es diese Strömungen gibt. Es geht ihnen nicht darum, Palästinenser zu unterdrücken oder Siedlungen zu errichten. Die Mehrheit der Bevölkerung kann sich nach dem Anschlag der Hamas schlicht nicht mehr vorstellen, in Frieden mit den Palästinensern zu leben. Der Glaube an eine Zwei-Staaten-Lösung ist nicht mehr vorhanden. Die meisten führenden Oppositionspolitiker mögen integrer und weniger manipulativ sein als Netanyahu, sich von den Rechtsextremen klarer distanzieren und in der Welt mehr Wohlwollen geniessen – aber ein grundlegendes gesellschaftliches und politisches Gegenkonzept haben sie auch nicht aufzuweisen.
«Wenn wir die Unis von der internationalen Wissenschaft isolieren, dann gehen jene Institutionen kaputt, die in Israel wirklich noch eine Gegenstimme sind.»Alfred Bodenheimer
Wie könnte ein möglicher Frieden aussehen?
Da bin ich nicht schlauer als andere Menschen. Aber es gibt um Israel herum eine Gruppe von Staaten, die zwar nicht demokratisch sind, aber keinerlei Interesse an Extremismus in der Gegend haben. Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien zum Beispiel. Mit ihnen müsste Israel sich zusammentun. Es ist ein grosses Versäumnis von Seiten Israels, diese Länder nicht abzuholen und gemeinsam ein Sicherheitskonzept zu erstellen. Eine aktive Koalition von Staaten gegen den Iran wäre sehr wichtig und Israel könnte ein Teil davon sein. Allerdings sicher nicht mit der aktuellen Regierung. Sie wäre dazu gar nicht in der Lage.
Warum nicht?
Die Regierung, die jetzt an der Macht ist, untergräbt jedes Vertrauen, nach innen wie nach aussen. Die rechtsstaatlichen Standards im Land gehen kaputt, unser Rechtssystem steht auf der Kippe. Es gibt innerhalb der Regierung kein klares Bekenntnis mehr zur demokratischen Staatsform im liberalen Sinne. Und wenn Israel keine wirkliche Demokratie mehr ist, dann muss man als Jude hier auch nicht mehr leben. Die Idee von Israel als jüdischem Staat wäre für die Katz.
Sind Sie eher pessimistisch oder optimistisch, was die Zukunft angeht?
Es ist sehr schwer zu beurteilen. Das Problem ist, dass alles von kaum messbaren Dingen abhängt. Es geht nicht mehr um politisch strategische Überlegungen, sondern um Launen, parteipolitische Berechnungen und willkürliche Ideen der verantwortlichen Politiker. Das macht die Situation für mich sehr bedrohlich. Vieles spricht dafür, dass die Hamas einen Waffenstillstand will, aber es ist nicht abzusehen, wie Israel darauf reagiert. Manchmal habe ich das Gefühl, in einem absurden Theaterstück zu leben.
Im September sind Sie wieder in Basel an der Uni. Werden die pro-palästinensischen Proteste wieder aufleben, wenn die vorlesungsfreie Zeit vorbei ist?
Das hängt stark davon ab, was in den kommenden Wochen geschieht. Wenn die Situation in Bezug auf den Krieg nahezu unverändert ist, dann wäre das wohl eine Steilvorlage für weitere Protestaktionen. Sollte sie sich auf irgendeine Weise beruhigen, könnte es anders aussehen.
Wie schätzen Sie die Stimmung an der Uni allgemein ein?
Ich habe Sorge, sollte die Zusammenarbeit mit den israelischen Unis und Akademikern in Frage gestellt werden. Die Uni Genf hat bereits auf ihrer Website ein Statement publiziert, in dem steht, man wolle die bestehenden Kooperationen mit Israel überprüfen. Dagegen gilt es anzugehen. Denn wenn wir die Unis hier von der internationalen Wissenschaft isolieren, dann gehen jene Institutionen kaputt, die in diesem Land wirklich noch eine Gegenstimme sind. Die Unis sind einer der wichtigsten Motoren, um die Demokratie in Israel zu erhalten. Manchmal habe ich das Gefühl, es sei das Ziel von Israels intellektuellen Gegnern, diese Bastionen offenen Denkens gerade deshalb zu schädigen, damit Israel zu dem undemokratischen Staat wird, als den sie es heute schon bezeichnen.
Wie ist die Stimmung am Institut für Jüdische Studien? Fühlen Sie sich sicher?
Die Uni in Basel ist sehr wachsam. Ich fühle mich gut geschützt. Persönlich habe ich mich zu keinem Zeitpunkt irgendwie bedroht gefühlt. Aber die Studierenden fühlen sich teilweise nicht wohl. Ganz unabhängig von den offensiven Protesten fühlen sie sich teilweise ausgegrenzt, wenn sie sich beispielsweise positiv oder neutral über Israel äussern. Meine grösste Sorge ist ein Stimmungsumschwung an der Uni. Ich befürchte, dass einige Studierende sich bald nicht mehr trauen, ihre Meinung frei zu sagen. Das darf nicht passieren.
«Die Menschen in Israel sind traumatisiert und möchten nichts anderes, als aus dieser Schleife der Gewalt auszubrechen und in Frieden zu leben.»Alfred Bodenheimer
Fühlen Sie sich in der Schweiz verstanden?
Ich vermisse in der Schweiz schon manchmal das Verständnis dafür, unter welchem Druck die israelische Bevölkerung steht. Abgesehen von der täglichen Bedrohung sind zahlreiche Menschen im Krieg verletzt worden, Soldaten, aber auch Opfer von Raketenangriffen und Terror. Menschen mit verlorenen Gliedmassen stehen sinnbildlich dafür, dass die Gesellschaft hier auseinanderfällt.
Wie meinen Sie das?
Wir sind seit dem 7. Oktober extrem schwer beschädigt worden. Den Israelis wird oft Kriegslüsternheit nachgesagt oder der Wunsch, die Palästinenser auszulöschen, zumal es auch Politiker gibt, die widerliche Dinge sagen. Der Grossteil der Bevölkerung ist daran aber gar nicht interessiert. Die Menschen in Israel sind traumatisiert und möchten nichts anderes, als aus dieser Schleife der Gewalt auszubrechen und in Frieden zu leben. Der Krieg wird von den Menschen hier als Überlebenskampf verstanden. Wenn wir ihn verlieren, so ihre Gewissheit, könnte von einem Moment auf den anderen unsere Existenz zusammenbrechen. Diese Sorge der Israelis wird in der Schweiz und in Europa nicht wirklich wahrgenommen.