«Gewalt wird die Probleme nicht lösen»

Amani Almqadma lebt eigentlich in Gaza. Sie war beruflich in Europa, als die Hamas vor genau einem Monat ihren Anschlag auf Israel verübte. Seitdem ist sie in grosser Sorge um ihre Familie. Bajour hat sie zu einem Gespräch in Basel getroffen.

Amani Almqadma Gaza
Amani Almqadma während ihres Aufenhalts in Basel im Basler kHaus. (Bild: Valerie Wendenburg)

Der Lärm ist ohrenbetäubend, als Amani Almqadma auf dem Basler Kasernenareal steht. Sie blickt verwundert auf die Attraktionen der Herbstmesse. Die Bahnen Hip Hop und Deep Zone sorgen für Geschrei, alles blinkt im Überfluss und steht in totalem Kontrast zu ihrem derzeitigen Leben. Die 39-Jährige war beruflich in Europa, als der Krieg in Israel ausbrach. Seitdem sorgt sie sich um ihre gesamte Familie, die im Gazastreifen lebt. Im Sitzungszimmer im kHaus mit Blick auf den Rhein erzählt sie ihre Geschichte auf Englisch. Ihre Aufzeichnungen wurden ins Deutsche übersetzt.

«Ich war an der Islamischen Universität Gaza in Gaza-Palästina tätig. Da meine Universität mit der Schweizer Friedensstiftung swisspeace zusammenarbeitet, bin ich derzeit in Basel. Als die Ereignisse in Israel und im Gazastreifen am 7. Oktober begannen, war ich in Edinburgh. Eigentlich wollte mein Mann an diesem Wochenende zu mir nach Schottland kommen, aber er ist dann doch bei unseren Kindern geblieben. Ich mache mir schreckliche Sorgen um meine ganze Familie.

Alle sind in Gaza: mein Mann, meine drei Kinder, meine Eltern, meine Schwestern und mein Bruder. Meine älteste Tochter ist 15, meine zweite Tochter feiert heute ihren 13. Geburtstag und mein Sohn wird diese Woche acht Jahre alt. Normalerweise organisiere ich immer die Geburtstagsparty für meine Kinder, aber dieses Jahr ist alles anders. Eigentlich sollte ich längst wieder zuhause in Gaza sein. Aber mein Zuhause wurde zerstört und die Dinge haben sich anders entwickelt als geplant. Und ich kann nicht zu meiner Familie, niemand darf zurzeit nach Gaza einreisen.

Amani Almqadma Gaza
Amani Almqadma sorgt sich um ihre Familie in Gaza. (Bild: Valerie Wendenburg)

Amani Almqadma trinkt einen Schluck Wasser und schaut aus dem Fenster auf den Rhein, der ruhig durch Basel fliesst an diesem grauen Herbsttag. Sie holt ihr Handy hervor und zeigt Fotos und Filmen von ihren Kindern. Mittlerweile erhält sie nur noch ab und zu Textnachrichten, da die Internetverbindung schlecht ist und teilweise gekappt wurde. 

«Gestern bin ich bis nachts um 1 Uhr wach geblieben, bis ich endlich eine Nachricht von meiner Mutter erhalten habe. Sie schreibt mir, dass sie sich um meine Kinder kümmert. Ich weiss also, dass alle am Leben sind. Aber Facetime geht gar nicht mehr, auch Filme bekomme ich nicht mehr geschickt. Es ist traurig, weil ich die Stimmen meiner Kinder nicht mehr hören kann. Immerhin weiss ich, dass sie bei meinen Eltern wohnen. Meine Wohnung in Rimal bei Gaza-Stadt wurde am 8. Oktober nach der Bombardierung eines nahe gelegenen Wohnhauses teilweise zerstört.

Meinem Mann gelang es zunächst, unsere Kinder zu Freunden in den Norden von Gaza zu bringen. Dann wurden sie von dort Richtung Süden evakuiert, nachdem die israelischen Streitkräfte an die Menschen im Norden appelliert haben, sich in den Süden zu begeben. Das Haus meiner Eltern liegt im Zentrum von Gaza in der Nähe des Flüchtlingslagers Nuseirat. Jetzt fallen ständig Bomben auf das Gebiet.

Das Leben für meine Familie in Gaza ist dramatisch. Nicht nur meine Familie lebt bei meinen Eltern, auch meine beiden Onkel und ihre Söhne mit Familie sind dort. Insgesamt wohnen 34 Personen in einem Haus, das eigentlich für sechs Personen ausreicht. Es ist viel zu klein für so viele Menschen. Sie haben zwei Badezimmer, aber kaum Wasser, also darf die Toilette nur zweimal am Tag gespült werden.

Elektrizität und Internet sind begrenzt. Nachts ist der Strom ganz abgeschaltet und es wird immer kälter. Ein echtes Problem aber ist das knappe Wasser. Mein Mann hat einen grossen Tank besorgt. Anfangs konnte er mit dem Auto Wasser bei Freunden holen, die weiter weg leben. Jetzt gibt es kein Benzin mehr und das Wasser wird immer knapper. Die Panik ist gross und die Stimmung könnte bald kippen, wenn es nicht wieder Wasser und Lebensmittel für die Menschen in Gaza gibt.

Auf dem Markt gibt es im Moment noch eine begrenzte Auswahl an Lebensmitteln, aber es ist lebensgefährlich, dorthin zu gehen. Es sind schon Bomben in der Gegend gefallen. Anfangs hat meine Mutter mit meinen Tanten den ganzen Tag gebacken, jetzt sind die Vorräte aufgebraucht. Der Druck, der auf den Frauen lastet, ist enorm, weil sie ihre Kinder satt bekommen möchten und nicht wissen, wie sie das schaffen sollen.» 

Amani Almqadma Gaza
(Bild: Valerie Wendenburg)

Humanitäre Hilfsgüter hat die Familie von Amani Almqadma noch nicht gesehen. Sie vermutet, dass diese eher an Spitäler oder in Flüchtlingslagern verteilt werden. Wobei sie ohnehin nicht ausreichend sind. Neben der Sorge ums Essen und Trinken ist vor allem die Sicherheit ein Problem.

«Meine Familie ist nirgendwo sicher. Sie könnte in den Süden von Gaza fliehen, aber auch dort wären sie in Lebensgefahr. Jetzt haben sie immerhin ein Dach überm Kopf. Meine Freundin von der Uni lebt gerade mit 30’000 Flüchtlingen in einem Camp. Sie wohnt in einem Zelt und wartet ungefähr zwei Stunden, um auf die Toilette gehen zu können. Meine Familie bleibt erst einmal im Haus meiner Eltern. Sie sind dankbar für jeden Tag, den sie überstehen. Mein Mann hat mir alle seine Passwörter und Bankdaten gesendet, falls er stirbt. Es ist grauenvoll für mich, nicht bei ihm und meinen Kindern sein zu können. Sie sind furchtbar verängstigt. Sie hören die Bomben und haben grosse Angst.»

Amani Almqadma zeigt ein Video ihres Sohnes, der weint, während man in der Ferne Einschläge von Bomben hört. In anderen Filmen spielt er mit Kindern in einem grossen Wassertank oder tut so, als ob er bäckt. Es sind die letzten Filme, die ihr Mann ihr geschickt hat. Sie erinnert sich:

«Vor dem 7. Oktober waren wir eine ganz normale Familie. Mein Mann und ich haben gearbeitet, die Kinder gingen zur Schule. Mein älteste Tochter liebt es zu zeichnen. Meine beiden jüngeren Kinder waren gerne in der Schule, sie hatten ihre Hobbys wie andere Kinder auch. Wir sind am Wochenende oft ans Meer gefahren. Das Leben in Gaza war vor dem 7. Oktober nicht einfach. Mein Mann und ich haben 15 Jahre lang sehr hart gearbeitet, um eine Wohnung zu haben.

Ich habe die letzten zehn Jahre gearbeitet und nur 50 Prozent meines Gehalts erhalten, wie andere Universitätsangestellte auch, weil die Student*innen aufgrund von Armut und hoher Arbeitslosigkeit ihre Studiengebühren nicht bezahlen konnten. Da ich jetzt an der Universität in Edinburgh studiere, habe ich dort eine Aufenthaltsgenehmigung. Ich hätte meine Familie nach Schottland holen und dort mit ihnen leben können, aber mein Mann und ich wollten die Kinder nicht aus ihrer gewohnten Umgebung herausreißen. Wir hatten keine Ahnung, was passieren würde.»

Amani Almqadma

Amani Almqadma ist 39 Jahre alt und hat ihr ganzes Leben im Gaza-Streifen verbracht. Sie ist Elektroingenieurin und war Dozentin an der Islamischen Universität von Gaza. An der Universität ist sie für internationale Beziehungen zuständig. Derzeit nimmt sie an einem Doktorandenprogramm an der Universität Edinburgh teil. Sie war am 7. Oktober, dem Tag des Hamas-Angriffs auf Israel, in Edinburgh. Die Gebäude der Universität in Gaza wurden ebenso wie andere Einrichtungen von der israelischen Armee als Reaktion auf den Angriff der Hamas auf Israel zerstört.

Hat sie kommen sehen, dass ein Konflikt in dieser Dimension ausbrechen könnte? Amani Almqadma öffnet das Fenster und schaut in Richtung Grossbasel. Sie denkt länger nach, bevor sie antwortet.

«Nein, ich habe keine Ahnung gehabt. Niemand hat das kommen sehen. Ich bin aber der Ansicht, man sollte sich nicht nur auf den 7. Oktober fokussieren. Das alles hat schon lange vorher angefangen. Ich bin im Gazastreifen geboren, die Menschen dort wurden mit grosser Willkür behandelt und daran gehindert, ein normales Leben zu führen. Als ich ausreisen wollte, um in Edinburgh zu studieren, musste ich viele Monate auf meine Erlaubnis warten. Als ich endlich die Bewilligung hatte, Gaza mit dem Auto verlassen zu dürfen, musste ich mehr als fünf Stunden an der Grenze warten.

Die Menschen hier haben eine grosse Sehnsucht danach, sich frei bewegen zu können. Sie möchten nicht mehr fremdbestimmt sein. Wir leben seit 2007 isoliert von der Aussenwelt. Isolation führt zu nichts, und Repression führt zu Gewalt. Aber Gewalt wird die Probleme nicht lösen. Wenn sich alle an das internationale Recht halten würden, wäre das ein erster Schritt in die richtige Richtung.»

Wie ihr Leben in Zukunft aussehen wird, weiss Amani Almqadma nicht. Von Basel wird sie wieder nach Edinburgh reisen und vorerst dort leben. Sie schliesst das Fenster und zieht ihre Winterjacke an. Ihr sei kalt, sagt sie, sie würde immerzu frieren.

«Alles, was ich hatte, wurde im letzten Monat zerstört: Mein Apartment, die Uni in Gaza, an der ich gearbeitet habe. Ich habe keine Ahnung, wie es nun weitergehen wird. Ich habe kein Zuhause mehr und ich weiss nicht, wann und ob ich meine Familie wiedersehen werde. Ich weiss auch nicht, wie die Zukunft in Gaza aussieht und ob es ein Leben dort für mich und meine Familie gibt. Die Zerstörung, die dort zurzeit stattfindet, erscheint mir willkürlich und ich weiss nicht, welches Ziel Israel damit verfolgt. Während wir hier sprechen, sollen schon mehr als 6000  Palästinenser*innen getötet worden sein. Die Menschen in Gaza sind nun die Notleidenden. Auch meine palästinensischen Freund*innen in Europa leiden jetzt unter Vorurteilen und Anschuldigungen. Wir leben alle in Angst.»

giphy
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Valerie Wendenburg

Nach dem Studium, freier Mitarbeit bei der Berliner Morgenpost und einem Radio-Volontariat hat es Valerie 2002 nach Basel gezogen. Sie schreibt seit fast 20 Jahren für das Jüdische Wochenmagazins tachles und hat zwischenzeitlich einen Abstecher in die Kommunikation zur Gemeinde Bottmingen und terre des hommes schweiz gemacht. Aus Liebe zum Journalismus ist sie voll in die Branche zurückgekehrt und seit September 2023 Senior-Redaktorin bei Bajour. Im Basel Briefing sorgt sie mit ihrem «Buchclübli mit Vali» dafür, dass der Community (und ihr selbst) der Lesestoff nicht ausgeht.

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