Den Krieg eliminieren
Die ukrainische Autorin Eugenia Senik aus Basel versucht mit Worten, Wege aus der Ohnmacht zu finden.
Als ich in Lviv, in der Westukraine, als Deutschlehrerin gearbeitet und Privatstunden gegeben habe, lernte ich mit einem jungen Schüler in solch einer Stunde neue Verben und ihre Vergangenheitsform. Unter vielen Wörtern war ein Verb, das er gar nicht mochte. Leiden. Das Wort war neu für den Jungen und nachdem ich es für ihn übersetzt habe, sah er sehr besorgt aus.
«Warum existiert das Leiden überhaupt? Ich will dieses Wort nicht lernen. Wir sollten das Wort wegwerfen und eliminieren.»
Ich habe meinen Schüler sofort verstanden. Er meinte, wenn das Wort nicht existieren würde, würde auch das Phänomen verschwinden, das es beschreibt. Es ist ein genialer Gedanke. Und leider utopisch.
«Kannst du mich von hier rausholen?»
«Ruf den Präsidenten des Landes an, wo du jetzt bist. Europa muss uns retten!»
«Die Leute in der Welt müssen wissen, was bei uns passiert. Informiere über uns!»
«Das, was du schreibst und erzählst, bringt nichts, sie hören uns nicht.»
«Die Nato muss kommen und helfen, die Ukraine schützt Europa vor dem Krieg mit dem unbewaffneten Körper. Die Welt kümmert sich nicht um die Ukraine!»
«Gib mir den fliegenden Teppich oder eine Tarnkappe, damit ich durch die Truppen von Panzern verschwinden könnte!»
Eugenia Senik (35) ist eine ukrainische Autorin. Seit August 2021 lebt sie in der Schweiz. Aufgewachsen ist Senik im Osten der Ukraine, in Luhansk. Für ihr Studium zog es sie nach Basel, wo sie Literaturwissenschaften im Master studiert.
Verzweiflung, Frust, Angst, Schrei um Hilfe einerseits. Ratlosigkeit, Schmerz und das Verständnis, wie klein ich bin, dass ich meine Schwester aus dem Krieg nicht retten kann. Nicht die Schwester und nicht einmal die zahlreichen Freunde, die sich jede Minute seit dem 24. Februar um 5 Uhr morgens in ständiger Lebensgefahr befinden. Ich bin kein Gott, keine Superheldin und keine Zauberin. Leider.
Wenn ich eine wäre, würde ich als allererstes das Wort «Krieg» eliminieren. Und damit das Phänomen. Aber ich kann es nicht. Ich bin nur ein Mensch. Ein kleiner Tropfen. Nicht nur, dass ich das Wort nicht eliminieren kann, ich kann auch diesen schrecklichen und absurden Krieg nicht stoppen, ich kann meine eigene Schwester nicht davor retten. Sie ist die einzige Familie, die mir geblieben ist. Und damit lebe ich seit 5 Uhr morgens, 24. Februar.
Und es gibt Hunderttausende wie mich.
Alles, was in den letzten Tagen passiert ist, gibt mir allmählich ein Flashback auf die Zeit, als dieser Krieg eigentlich angefangen hat. Als ich mein Zuhause in Donbas verloren habe.
«Nein, es bedeutet immer noch nicht, dass ich diesen Krieg und das Leiden beenden kann, aber ich kann alles tun, was in meiner Macht steht.»Eugenia Senik
Ich versuche eine Verschnaufpause einzulegen, zwischen tausenden Nachrichten, Telefonaten, News, neuen Angriffen und neuer Gefahr und drehe die Zeit zurück. Zu diesem höchst traumatischen und schmerzhaften Jahr 2014, als die Welt aber tatsächlich beide Augen zugedrückt hat. Diese Zeit hat mir und vielen Ukrainern beigebracht, für sich einzustehen. Sie hat uns gelehrt, dass sogar ein kleinster winzigster Tropfen, Teil des Ozeans ist. Und dass der Ozean selbst, aus nichts anderem als Milliarden von kleinen Tropfen besteht.
Nein, es bedeutet immer noch nicht, dass ich diesen Krieg und das Leiden beenden kann, aber ich kann alles tun, was in meiner Macht steht. Ich kann nicht auf einem fliegenden Teppich meine Schwester und ihre Familie aus der Gefahr holen, aber ich kann aus der Distanz für sie da sein und ihre Hand halten, solange es nötig ist. Ich kann ihr meine Schulter geben, während sie panische Attacken hat und riesige Angst einzuschlafen. Wenn sie zusammenbricht, wenn die Nerven diese enorme Spannung nicht mehr aushalten. Ich spreche mit ihr, egal um welche Uhrzeit. So oder so können wir kaum schlafen.
«Vielleicht ist das Schreiben mein sicheres Heilmittel, meine Rettung und meine Art, mit der Welt zu sprechen.»Eugenia Senik
Und solche Gespräche führe ich mit meinen nächsten Freunden, die in Kyiv, Kharkiv oder Sumy sind. Ich bekomme von ihnen die grausamsten Bilder und Videos, die ich je gesehen habe, alle zehn oder zwanzig Minuten. Sie wollen teilen. Sie wollen es nicht allein sehen. Zerstörte Strassen, die ich immer noch erkennen kann, getötete und verletzte Menschen, ruinierte Häuser, U-Bahn als Schutz.
Das Adrenalin steigt wieder auf ein Maximum. Adrenalin ist das sicherste Mittel gegen die Müdigkeit. Der Schlaf geht weg, so sprechen wir weiter. Sie erzählen mir die Nachrichten von der Umgebung. Sagen, dass sie das nie erleben wollten. Sie wollen, dass dieser Horror so schnell wie möglich aufhört. Wir alle wollen es. Alle Menschen der Welt. Auch wenn sie meinen, dass sie der Welt ganz egal sind.
Ich muss aber jetzt zu meiner kleinen Mission zurück. Ich wollte mit euch nur ein bisschen von dem teilen, was ich seit diesem schrecklichem Donnerstag vor einer Woche Tag und Nacht sehe und höre. Vielleicht, weil auch ich es nicht allein hören will. Vielleicht, weil ich in mir drin keinen Platz mehr für enorme Schmerzen, Frust, Angst und Verzweiflung habe. Vielleicht ist das Schreiben mein sicheres Heilmittel, meine Rettung und meine Art, mit der Welt zu sprechen. Damit die Welt es doch hört.