«Menschlicher Abschaum»
Die vierte Welle ist da, die Spitalbetten füllen sich, derweil die Stimmung immer aggressiver wird. Am meisten bekommen die Pfleger*innen ab.
Corona bringt die Menschen emotional an ihre Grenzen. Das bekommen auch die Mitarbeitenden des Universitätsspitals Basel immer mehr zu spüren. Sie werden beschimpft, manchmal sogar körperlich angegriffen, wie Kommunikationschef Nicolas Drechsler erzählt: «Es gibt Leute, die keinerlei Vorschriften akzeptieren. Es gibt Maskenverweigerer, Menschen, die das Besuchsverbot nicht akzeptieren wollen oder die Zeiten überschreiten. Es gibt Zutritte von Leuten, die wissen, dass sie positiv getestet sind, falsche Zertifikate en masse und so weiter.» Und dies seit Wochen, wenn nicht Monaten, so Drechsler.
Er selbst wurde vor kurzem von Impfskeptiker*innen als «menschlicher Abschaum», «Allesglauber» und «Spalter» bezeichnet. Und immer wieder kommen ins zentrale Postfach so nette Mails geflattert, die gleich das ganze Spitalpersonal als «Abschaum» betiteln.
«Patient*innen und deren Angehörige sind zum Teil sehr uneinsichtig und wollen nicht verstehen, dass es nicht nur um sie geht, sondern auch um den Schutz aller anderen anwesenden Personen.»Daniel Simon, Präsident des Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner
Besonders auf den Notfallstationen kommt es zu Konflikten, wie Daniel Simon, Präsident des Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) beider Basel, erzählt. Etwa wegen der Hygienemassnahmen: «Patientinnen und Patienten, sowie deren Angehörige sind zum Teil sehr uneinsichtig und wollen nicht verstehen, dass es nicht nur um sie geht, sondern auch um den Schutz aller anderen anwesenden Personen.»
Interessanterweise nehmen die Beschimpfungen allerdings ab, je näher man der Intensivstation kommt. Doch auch dort machen die Angehörigen von Patient*innen manchmal Druck, etwa, weil sie diese und jene Untersuchung oder Behandlung auch noch fordern, so Simon. Und auch dort gibt es Menschen, die sich weigern, eine Maske zu tragen.
Das Pflegepersonal versucht, dann zu schlichten. Wenn es hart auf hart geht und die Deeskalationsmassnahmen nicht fruchten, muss der Sicherheitsdienst eingreifen. Das ist zwar nicht die Regel, aber auch nicht gerade selten. Und bei Drohungen gegen Leib und Leben wird dann halt Anzeige erstattet. Das sei schon einige Male nötig geworden, so Unispitalsprecher Drechsler. Vor allem, wenn die Expert*innen des Unispitals öffentlich zu einem Aspekt der Pandemie Stellung genommen haben. Selbst ihm ist das schon passiert, als er einen Auftritt bei «Telebasel» hatte. Am Tag danach seien ihm Prügel angedroht worden. «Allerdings aus der gebotenen Distanz, da ich dem Mann etwa zwei Gewichtsklassen voraus war», wie Kraftsportler Drechsler ergänzt.
«Es interessiert die Pflegenden nicht, welche Verhaltensweise die Erkrankten ins Spital gebracht haben. Es ist unser Auftrag, diese Menschen zu pflegen.»Daniel Simon, Präsident des Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner
Die Staatsanwaltschaft (Stawa) Basel-Stadt dagegen hat keine Hinweise darauf, dass «die Covid-19-Pandemie ein Aufregerthema darstellt oder sonst wie auffällt», wie Sprecher Martin Schütz erklärt. Allerdings fehlt ihm auch die Datengrundlage: Zwar verzeichnet die Stawa für das erste Halbjahr 2021 im Vergleich zur Vorjahresperiode eine Zunahme um 18 Prozent bei Fällen von Gewalt und Drohungen gegen Behörden und Beamte, wie sie am Dienstag mitteilte. Da aber keine Statistik geführt werde, kann Schütz nicht sagen, ob und wie viele Anzeigen im Zusammenhang mit Corona stehen.
Trotz der Konflikte mit den Corona-Skeptiker*innen ist die Toleranz der Pfleger*innen gegenüber Ungeimpften gross, sagt Pflegeverbandspräsident Simon. Der Grundsatz, wonach die Menschen selber entscheiden sollen, werde hochgehalten. «Es interessiert die Pflegenden nicht, welche Verhaltensweise die Erkrankten ins Spital gebracht haben. Egal ob Covid-19, Hepatitis oder Leberzirrhose, es ist unser Auftrag, diese Menschen zu pflegen.» Erst, wenn die eigenen Herbstferien in Gefahr seien, weil die steigenden Fallzahlen Sondereinsätze nötig machen, könnte diese Einstellung bröckeln, mutmasst Simon.
Deeskalationsmassnahmen werden den Pfleger*innen bereits in der Ausbildung beigebracht. Denn auch ohne Corona kommt es immer wieder zu heiklen Situationen, vor allem auf dem Notfall. So lernen sie Gesprächstechniken, die die Situation entschärfen.
Dazu gehört:
- Keine Vorwürfe erheben, sondern die Person(en) in ein Gespräch einbinden.
- Auf jede Art von Drohung verzichten und die Distanz wahren.
- Kein direkter Körperkontakt.
- Wenn alles nicht hilft, Hilfe holen – die Pfleger*innen sind gehalten, den Sicherheitsdienst zu rufen.
Und wie steht es mit der Impfbereitschaft der Pflegenden selbst? Damit verhält es sich offenbar ähnlich wie mit der Massnahmenskepsis der Patient*innen: Je näher sie der Intensivstation sind, desto höher die Akzeptanz. Die Impfrate liegt gemäss einer Umfrage, die der SBK unter seinen Mitgliedern durchgeführt hat, auf den Intensivstationen des Unispitals Basel und des Kantonsspitals Baselland (KSBL) bei 92 bis 94 Prozent. In Wahrheit dürften es aber sogar noch mehr sein, weil nur jene validiert wurden, die sich in der Schweiz impfen liessen. Viele Grenzgänger*innen dürften aber ebenfalls geimpft sein. In den übrigen medizinischen Abteilungen liegt die Impfrate gemäss Simon bei rund 75 Prozent. Im Juli seien es noch 70 Prozent gewesen. Die Einsicht wachse also langsam. Nur (noch) nicht bei den jüngeren Pfleger*innen, die sich weniger Risiken ausgesetzt fühlen, obwohl der SBK die Impfung sehr empfehle.
Empfehle, und nicht befehle, das ist das Credo des Pflegeverbands. Denn ein Impfzwang sei keine Lösung, weil so die Einsicht fehle und damit die Kontrolle, ob sich diese Pfleger*innen dann später wenn nötig auch ein drittes Mal impfen liessen, sagt Simon, zumal ein Impfzwang «rechtlich schwierig durchzusetzen ist, gerade bei öffentlich-rechtlichen Arbeitgebern». Hingegen würde eine Zertifikatspflicht für Pflegende zwar den Druck erhöhen, sich impfen zu lassen, erklärt der Verbandspräsident. Sie könnte aber möglicherweise eine gegenteilige Wirkung haben im Sinne von: «Jetzt lassen wir uns erst recht nicht impfen.» Besser sei es, wenn ungeimpfte Pflegende nicht zu Risikopatient*innen gelassen würden.
Der Druck auf das Pflegepersonal wird so schnell nicht abnehmen. Denn die Zahlen steigen, die vierte Welle ist angerollt. Das beste Szenario laut Unisprecher Drechsler: «Wir haben jetzt eine Welle von Ferienrückkehrern und die flacht dann ab.» Der Worstcase: «Es geht jetzt so weiter mit den wöchentlichen Verdoppelungen auf der Intensivstation.» Doch man sei vorbereitet. «Wir werden, wie in den letzten Wellen, stufenweise hochfahren, je nachdem, wie der Bedarf sich entwickelt.» Aktuell liegen im Unispital 35 Corona-Patient*innen, davon zehn auf der Intensivstation – alle ungeimpft. Im KSBL sind es Stand Dienstagmittag 16 Personen auf der Isolier- und 4 auf der Intensivstation. Der Anteil Ungeimpfter liegt gemäss Sprecherin Anita Kuoni bei 90 Prozent.
Hier kannst du Bajour unterstützen.