Anonyme Alkoholiker*innen treffen sich per Videochat
Wie geht es alkoholkranken Menschen während der Corona-Krise? Und soll man jemandem jetzt den Alkohol verweigern? Betroffene erzählen, wie sie die Ausnahmesituation meistern.
Angst ist ein starker Antrieb, der Menschen dazu bringt, zu trinken. Im Alkohol lassen sich Sorgen ertränken, er hilft zu verdrängen und zu vergessen. Besonders in Krisenzeiten, wie wir sie gerade erleben, sinken die Hemmungen, zur Flasche zu greifen. Für viele Menschen. Vor allem für Alkoholkranke ist die Corona-Krise eine Gefahr und Herausforderung – aber auch eine Chance.
AA trifft sich weiter – aber online
«Das Glas ist immer gleich weit weg. Egal, ob man drei Tage oder drei Jahre trocken ist. Der Respekt vor einem Rückfall bleibt», sagt Sibylle*. Seit neun Jahren trinkt Sibylle keinen Alkohol mehr.
Bis heute besucht die 49-Jährige regelmässig die Treffen der Anonymen Alkoholiker. Nur, dass sie seit dem Ausbruch der Pandemie nicht mehr physisch dabei sein kann, sondern sich dafür an ihren Computer setzt: Die Meetings werden seit dem «Lockdown light» über Zoom oder Skype abgehalten. Aber funktionieren solche Treffen auch online? Kann übers Internet überhaupt so etwas wie eine vertrauensvolle Atmosphäre entstehen?
Der Einsamkeit entfliehen
Sibylle räumt ein, dass es anfangs etwas gewöhnungsbedürftig war. «Am Ende jedes Treffens geben wir uns normalerweise alle die Hand und sagen unseren AA-Spruch auf. Dieses Ritual schätze ich, und das fehlt mir jetzt.» Trotzdem sei sie unheimlich froh um das Online-Angebot, besucht inzwischen sogar zwei Treffen pro Woche.
«Man kann sich von überall dazuschalten und braucht nicht mal die Kamera dafür anzumachen.»Sibylle, trockene Alkoholikerin
Das brauche sie jetzt, da ein grosser Teil ihrer sozialen Kontakte wegfalle: «Ich lebe mit meinem Mann in einer schönen Wohnung in Zürich, arbeite als Selbstständige im Homeoffice und kann mich eigentlich nicht beschweren. Aber es tut gut, andere Gesichter zu sehen zu bekommen. Denn ein bisschen einsam fühlt man sich schon.» Online-Meetings hätten sogar den Vorteil, dass sie noch niederschwelliger seien, sagt Sibylle. «Man kann sich von überall dazuschalten und braucht nicht mal unbedingt die Kamera dafür anzumachen. Es reicht, wenn man gehört wird.»
«Imprägnieren gegen den Rückfall»
Sibylle helfen diese Treffen nicht nur gegen die Einsamkeit, sondern dienen auch als Kontrolle und Struktur, um auf Kurs zu bleiben, um nicht rückfällig zu werden, wie sie sagt. «Es ist schwer, jemandem zu erklären, wie es sich anfühlt, süchtig zu sein, der es selbst nicht ist. Bei den AA trifft man auf Menschen, die einen verstehen und keine Berührungsängste haben.»
Sibylle war Anfang zwanzig, als sie zu trinken begann. «Ich dachte, dass das in diesem Alter nun mal dazugehört. Aber ich hörte nicht mehr damit auf, auch mit dem Älterwerden nicht.» Sie arbeitete damals als Journalistin und Texterin. Es fiel ihr immer schwerer, ihre Sucht mit ihrem Job und Alltag zu vereinbaren. Sie merkte, dass sich etwas ändern musste. Sie weiss noch ganz genau, an welchem Oktobertag sie mit dem Trinken aufgehört hat. Das war gleichzeitig der Tag, an dem sie sich den Anonymen Alkoholikern anschloss.
«Die Vorstellung jetzt zu trinken, ist schrecklich»Sibylle
Als die Corona-Krise ihren Lauf nahm, schoss Sibylle kurz durch den Kopf, dass sie nun besonders auf sich achtgeben müsse. Aber sie stellte fest, dass sie nicht gefährdeter war als sonst. Dass sie trocken ist, sei gerade jetzt eine grosse Erleichterung: «Die Vorstellung jetzt zu trinken, jeden Tag säckeweise Alkoholflaschen nach Hause zu schleppen, ist schrecklich», sagt sie.
«Die Rückfallquote unserer Klient*innen hat während Corona zugenommen»Petry Mylius, Geschäftsleiterin Blaues Kreuz beider Basel
Das Hadern mit sich selbst, die Unsicherheit gehört auch als trockene*r Alkoholiker*in dazu. «Die Treffen bei den AA imprägnieren gegen den Rückfall», sagt Sibylle. So standhaft wie Sibylle sind aber nicht alle, die unter Alkoholismus leiden. «Die Rückfallquote unserer Klienten und Klientinnen, die dem Druck nicht standhalten konnten, hat während Corona zugenommen», sagt Petra Mylius. Sie arbeitet seit über zwanzig Jahren für das Blaue Kreuz und ist Geschäftsleiterin der Stellen beider Basel.
Seit den Massnahmen des Bundes sind sie und ihre Mitarbeiter*innen dauernd im Telefoneinsatz, erzählt sie. Auch beim Blauen Kreuz sind direkte Treffen nicht mehr erlaubt. «Nur in grössten Krisensituationen lassen wir einzelne Klienten noch zu uns ins Büro kommen.» Jede andere Betreuung geschehe mit Sicherheitsabstand übers Telefon, manchmal auch Zoom, sagt Mylius. «Es ist ziemlich herausfordernd, in so einer schwierigen Zeit über diesen Weg Empathie zu vermitteln und zu helfen. Ich muss den Menschen eigentlich sehen, um seine Situation einschätzen zu können», erklärt sie.
Die Angst vor der Isolation
Es sei zurzeit für alle schwierig, Tagesstrukturen aufrecht zu erhalten. Nur, dass es nicht alle gleich schwer treffe. Mylius geht davon aus, dass wegen der Corona-Krise mit einem Zuwachs an Suchtkranken zu rechnen ist. Alkoholkranke Menschen hätten meist ohnehin mit Isolation zu kämpfen, sagt sie. In schweren Fällen könne die Krankheit einen nämlich von Familie und Freund*innen wegstossen. Das soziale Umfeld schrumpft. Durch Corona findet eine weitere Verengung statt, wenn man angehalten ist, zu Hause zu bleiben.
Auch Suchtpsychiaterin Beata Podlewska, Leiterin des Zentrums für Suchtmedizin Basel, bestätigt dies. Als Beispiel nennt sie Alkoholkranke, die täglich in ihren Stammlokalen verkehren: «Diese Besuche sind für viele alkoholkranke Menschen oft Ort für die einzigen zwischenmenschlichen Begegnungen. Die zwangsläufige Umstellung der Trinkgewohnheiten auf Konsum allein zu Hause führt häufig zu Mehrkonsum und bei abstinenten alkoholkranken Menschen zum Rückfall.»
Was tun als Angehörige*r?
Umso wichtiger sei es, die Betreuungsangebote aufrecht zu erhalten, betonen Mylius und Podlewska. Für viele seien die Beratungsstunden nämlich eine der wenigen Möglichkeiten, um um Hilfe zu bitten. Auch Angehörige von Betroffenen stellt die Corona-Krise vor Herausforderungen: Wie umgehen mit einem Rückfall? Was tun, wenn jemand darum bittet, dass man für die Person Alkohol kauft, weil diese das Haus nicht verlassen kann?
«Ein unbegleiteter und abrupter Entzug kann sehr gefährlich sein.»Petra Mylius, Blaues Kreuz
Ein unbegleiteter und abrupter Entzug könnte sehr gefährlich sein, sagt Mylius. Darum bleibe nichts anderes übrig, als der Bitte nachzugehen. «Die meisten verlassen das Haus trotzdem und erledigen ihre Einkäufe ohnehin selbst», so Mylius. Aber Angehörige sind nicht auf sich allein gestellt und sollen sich mit der betroffenen Person am besten an eine Fachstelle wenden, wo sie professionelle Unterstützung erhalten.
Jederzeit telefonisch erreichbar
«Alkohol ist und bleibt stark stigmatisiert», sagt Anne*. Anne ist 74 und seit zwei Jahren trockene Alkoholikerin. Beim Blauen Kreuz ist sie seither in persönlicher Behandlung. Ihre Therapeutin sei die einzige Person, mit der sie offen über ihre Ängste und Sucht sprechen könne, sagt sie. «Natürlich wissen meine Kinder und Freundinnen Bescheid. Aber ich wollte sie nie zu sehr damit belasten.»
Anne ist froh, dass sie nun telefonisch Unterstützung erhält. «Es kommt für mich gar nicht infrage, dass ich nochmals zu trinken beginne. Daran ändert auch Corona nichts», sagt sie. Aber die Therapie sei nötig, um sie daran zu erinnern, warum sie aufgehört hat und den Alkohol nicht mehr braucht. «Es tut gut zu wissen, dass ich meine Therapeutin jederzeit erreichen kann, wenn was ist.»
Sich jeden Tag für die Abstinenz entscheiden
Nach aussen führen Anne, genauso wie Sibylle, ein ganz gewöhnliches Leben. Anne trank früher zu Hause. Davon bekam bei der Arbeit oder in ihrem Freundeskreis lange niemand etwas mit. Seit Jahren leitet sie eine Physiotherapiepraxis, die sie wegen Corona bis bis auf weiteres schliessen musste und wohnt allein in einer Wohnung in Basel-Land.
Jeden Tag denkt sie über ihre Alkoholsucht nach. Jeden Tag fasst sie den Entschluss, dass sie nie mehr zurück will, nie mehr trinken will. Deshalb sei auch die Pandemie kein Grund, an ihrem Mantra zu rütteln. Auch nicht dann, wenn sie sich Sorgen um ihre Gesundheit macht: «Um es ganz direkt zu sagen: Ich will nicht an diesem Virus sterben. Ich will meine Praxis wiedereröffnen, meine Kinder und Enkel wiedersehen. Ich bin noch nicht bereit zu gehen.» Durch ihre Therapie weiss sie, wie sie mit einer solchen Angst umzugehen hat und dass sie sie bewältigen kann.
Fehlende Apéros als Chance?
Suchtpsychiaterin Podlewska beobachtet, dass bei manchen Alkoholiker*innen, die nicht trocken sind, derselbe Effekt eintritt wie bei Anne und Sibylle. Die Ablenkung sei auch für Trinkende eine Chance: So lange der Lockdown das Feierabendbier verbietet und keine Apéros stattfinden, falle es vielen leichter, mit einem Entzug zu beginnen.
Podlewska stellt fest, dass sich der Fokus verschiebt: «In aussergewöhnlichen Lebenslagen wie der Corona-Pandemie kommen schnell Befürchtungen auf, dass der Zugang nicht nur zu Lebensmitteln, sondern auch zu Alkohol erschwert werden könnte.» Diese Angst kann schnell grösser werden als das Suchtproblem selbst.
Die aktuelle Situation führt Betroffenen vor Augen, wie wertvoll es ist, «trocken» zu sein oder zu werden. Anders gesagt: Die Sorgen, die die Corona-Krise mit sich bringt, lenken von privaten Sorgen ab. Suchtkranken wie Sibylle und Anne kann diese Zeit etwas Erleichterung verschaffen, weil die eigene Krankheitsgeschichte für ein paar Wochen in den Hintergrund tritt.
*Namen von der Redaktion geändert
Info: Wohin kann ich mich wenden?
Das Blaue Kreuz und die Anonymen Alkoholiker sind auch während der Corona-Krise für Betroffene da. Auch für die, die zum ersten Mal nach Hilfe fragen wollen, genauso wie für Angehörige:
Unter folgender Nummer sind Berater*innen der Anonymen Alkoholiker rund um die Uhr für Auskunft erreichbar: 0848 848 885
Das Blaue Kreuz Basel-Stadt erreicht man unter dieser Telefonnummer: 061 261 56 13