«Wo's Mami gmerkt het, dass ihr Schicksal sie betrüegt mit ihrem Sohn»

«Antigone» wird dieser Tage wieder als aktuell empfunden. Die griechische Geschichte einer jungen Frau, die sich dem Gebot ihres Königs und Onkels Kreon widersetzt, kann dabei sehr verschieden interpretiert werden. Im Theater Basel wird das Stück auf Schweizerdeutsch gegeben.

Antigone
Vera Flück gibt Antigone, ihren Verlobten (und Kreons Sohn) Haimon, einen Wächter und den Seher Teiresias. (Bild: Theater Basel)

«Antigone» – das ist die mindestens zweieinhalbtausend Jahre alte griechische Geschichte einer jungen Frau, die sich dem Gebot ihres Königs und Onkels Kreon widersetzt. Gegen das königliche Verbot betrauert und begräbt sie ihren Bruder, der im Kampf gegen ihre Vaterstadt Theben «unehrenhaft» gefallen ist.

Die klassische Gestaltung des Stoffes stammt von Sophokles (5. Jhd. v.u.Z.) und gilt als Höhepunkt der Theaterkunst überhaupt – hat aber im Verlaufe der Geschichte nicht gleichmässig intensiv öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Vielmehr gibt es, in Europa jedenfalls, auffällige Beliebtheitswellen dieses Stoffes: Nach dem zweiten Weltkrieg, um 1968 herum und dieser Tage wieder wird «Antigone» als aktuell empfunden. Es sind wohl Zeiten, in den sich das Gefühl verbreitet, die gesamte Zivilisation sei in Frage gestellt und neu zu erfinden. Allerdings macht es die Qualität dieses Dramas aus, dass es sehr verschieden interpretiert werden kann und sehr unterschiedlichen Gefühlslagen entgegenkommt. Derzeit finden in der Schweiz unterschiedliche Inszenierungen statt: in Basel und Zürich.

Olymp – Blüemlisalp retour

Im Theater Basel wird «Antigone» derzeit auf Schweizerdeutsch gegeben und alle Rollen werden von zwei Darstellenden gespielt: Vera Flück gibt Antigone, ihren Verlobten (und Kreons Sohn) Haimon, einen Wächter und den Seher Teiresias. Sven Schelker spielt König Kreon und Antigones Schwester Ismene. Die beiden sind grandios. Inszeniert von Antu Romero Nunes, der zwischen Figuren auf der Bühne Spannungen, Beziehungen und Entwicklungen herbeizaubern kann, tragen sie den Abend. Vera Flück hat Kraft und Wandlungsfähigkeit. Als Haimon ist sie zunächst ganz der schüchterne Junge, der seinen Papi Kreon liebt, wie es sich gehört. Dann aber können wir beobachten, wie dieser Haimon über sich hinauswächst und ganz allmählich zum scharfen Kritiker seines Vaters wird, bis er schliesslich mit Antigone sterben will. Diesen Wandlungsprozess mitzuerleben, ist atemberaubend. Sven Schelker bleibt den ganzen Abend über unberechenbar. Er pendelt virtuos zwischen Herrschsucht und echtem Engagement für Recht und Gesetz. Er hat wesentlichen Anteil an einem Grundzug der Aufführung: Die Personen sind instabil. Die scharfe Trennung – Kreon die Verkörperung des schlechten Systems, Antigone die gute Rebellin – ist zeitweise aufgehoben und differenziert. Erst ganz am Ende baut die Aufführung Kreon ab und Antigone auf.

Theater
Ein Grundzug der Aufführung: Die Personen sind instabil. (Bild: Theater Basel)

Hilfreich für das Verständnis der Handlung ist ein Prolog, der aufgrund anderer antiker Quellen, etwa der «Phönikerinnen» des Euripides, die Vor- und Familiengeschichte der Antigone klärt. Und günstig für die Aufnahmebereitschaft des Publikums ist die Tatsache, dass diese Aufführung die komischen Seiten des Stoffes findet und hervorkehrt. Die Spielfläche ist ein Rund, das in den Zuschauerraum ausgreift, sodass die Zuschauenden sich als die angesprochenen Bürger*innen verstehen können. Neben einem nur spärlich eingesetzten Gesangs-Chor dominiert ein eindrücklicher, grosser Sprech-Chor. Er ist am Anfang raffiniert versteckt und sorgt später für einige magische Momente (Leitung: Julia Kiesler).

Folgend einer alten Tradition, die schon mit den ersten Schweizer Filmen begründet wurde, spricht der eher unsympathische Vertreter der Macht Baseldeutsch, die grundsätzlich sympathischere Volksvertreterin einen anderen Dialekt, in diesem Fall das starke, klangreiche Berndeutsch. Als betrübter Basler verzichtet der hier schreibende Kritiker auf jeden Kommentar dazu.

Es ist halt nicht einfach, den olympischen Donnerer Zeus zusammenzubringen mit «Anti» und «Isi».
Felix Schneider

Schwachpunkt der Aufführung ist der Text. Nicht durchgängig, aber stellenweise. Lucien Haugs Dialektfassung von «Onkel Wanja» in der letzten Spielzeit war überzeugender gewesen. Bei «Antigone» gerät Haug gelegentlich ins Straucheln auf dem steinigen Weg zwischen dem hohen Ton des archaischen Originals und der Alltagssprache von heute. Es ist halt nicht einfach, den olympischen Donnerer Zeus zusammenzubringen mit «Anti» und «Isi». Manche Metaphern sind schräg, manche Bilder kompliziert bis zur Unverständlichkeit, manches durch Vorsichtigkeit verkleinert. Aber: Diese phänomenalen Spielenden stecken das alles weg, bringen noch die konstruiertesten Sätze («wo s Mami gmerkt het, dass ihr Schicksal sie betrüegt mit ihrem Sohn») über die Rampe. Dass der Text nur ein Teil einer Theateraufführung ist, kann hier sinnlich erlebt werden. Insgesamt gelingt es, die Erzählung in einem unhistorischen Spiel- und Bewusstseinsraum anzusiedeln, hin und her pendelnd zwischen Olymp und Blüemlisalp: Theater eben! Und das Publikum bedankte sich mit begeistertem Schlussapplaus.

Antigone im Amazonas

Ein besonders vielversprechendes Antigone-Event steht für die Schweiz noch bevor. «Antigone im Amazonas» des international tätigen Schweizer Theatermannes Milo Rau gastiert am 22. und 23. September in der Kaserne Basel. Thema der Aufführung, die bereits viel Aufmerksamkeit erregt hat, ist der Kampf der brasilianischen Landlosen um Land und Natur. Und in dieser epochalen Auseinandersetzung spielt Antigone eine wichtige Rolle, die Milo Rau in unserem Bajour-Interview erläutert


Ab Mitte September steht im Pfauentheater in Zürich «Antigone in Butscha» auf dem Programm. Das ist eine Multimedia-Produktion der beiden Ukrainer Pavlo Arie (Text) und Stas Zhyrkov (Inszenierung), die als Wiederaufnahme aus der letzten Spielzeit zu sehen sein wird.  Sie erzählt ganz heutige Geschichten, die nur über freie Assoziationen mit dem antiken Stoff zu verbinden sind.

Die Figur der Zürcher Kriegsreporterin (Lena Schwarz / Katrin Pfammatter) erinnert insofern an Antigone, als sie ihren Kinderwunsch einer höheren Moral opfert. Sie will die Schrecknisse des Krieges vermitteln und reist deswegen nach Butscha, wo sie in einem dusteren Keller eine Frau trifft, die den Tod ihres erschossenen Mannes zuerst radikal verleugnet. Sie bringt ihm Essen, hofft auf seine Rückkehr. Erst allmählich quält sie sich zur Wahrheit durch und bestattet ihn. Über das Thema der Bestattung erweckt auch sie Erinnerung an Antigone, die aber keineswegs zwingend sind. Diese ukrainische Witwe wird von Vitalina Bibliv, die über Video in Zürich erscheint, so ergreifend und tiefgründig dargestellt, dass die Betrachtung ihres Spiels zur geradezu existenziellen Erfahrung wird und jede Reise nach Zürich lohnt.  


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