«21 Franken sind ein Witz!»

Die Gewerkschaften fordern einen Mindestlohn für alle Angestellten in Basel. Reich wird man auch davon nicht. Im Gegenteil.

Eine Initiative in Basel fordert einen allgemeinen Brutto-Mindestlohn von 23 Franken die Stunde. Der Regierungsrat findet, 21 Franken tun es auch. Aber wie viel Geld reicht überhaupt zum Leben? Was sagen eine angestellte Verkäuferin, ein Genossenschaftsbeizer, eine selbständige Coiffeuse und Floristin, die vom Mindestlohn betroffen wären? Wir haben zugehört.

Aufgezeichnet von Ina Bullwinkel.

Mindestlohn Simone Loosli Floristin
Simone Loosli in ihrem Geschäft «Rheinblumen». (Bild: Ina Bullwinkel)

«Ich zahle meiner Angestellten 25 Franken die Stunde.»

Simone Loosli, Floristin (selbstständig)

Floristin ist ein Herzensberuf, man weiss, damit wird man nicht reich. Das macht man, weil man es liebt. Ich denke, dass unser Beruf einen schwierigen Stand hat, weil wir als florale Verkäuferinnen gelten, aber eigentlich sind wir florale Künstler. Die Lehre geht drei Jahre mit EFZ – so bilde ich auch selbst aus. Wir haben 2020 eine Lehrstelle vergeben, trotz Pandemie. Dazu habe ich eine Angestellte, die ein Anrecht hat auf einen guten Lohn. Ich zahle ihr 25 Franken die Stunde.

Der Lebensstandard ist hoch in der Schweiz, die Kosten sind hoch, und dann müssen die Löhne auch hoch sein. Ich habe nächste Woche mein zehnjähriges Jubiläum, also irgendwie goot’s! 

«Es geht um Wertschätzung und darum, dass man von seinem Lohn leben kann.»
Simone Loosli, Floristin

Das Argument, dass sich die Geschäfte einen Mindestlohn nicht leisten könnten, halte ich für eine Ausrede, um weniger zu bezahlen. Ich persönlich möchte es möglich machen, weil ich meine Mitarbeiter schätze und sie gute Arbeit machen. Dabei geht es um Wertschätzung und darum, dass man von seinem Lohn leben kann. Ich habe auch meine Fixkosten, eine Wohnung und eine Krankenkasse.

Der Beruf der Floristin ist am Aussterben. Das ist schade. Denn die Floristik ist ein Handwerk, das man ästimieren muss. Wir begleiten alle Emotionen – von der Geburt bis zum Tod. Da kann man auch 25 Franken die Stunde zahlen. 

Viele junge Menschen, die sich den Beruf aussuchen, merken nach zwei, drei Jahren, dass sie nirgends hinkommen und wechseln die Branche oder machen eine Zusatzlehre oder ganz was anderes. Ich bin jetzt 23 Jahre Floristin und habe viele Lehrlinge gehabt. Und von denen, die ich ausgebildet habe, sind vielleicht noch zwei oder drei auf dem Beruf.

Mindestlohn in Basel

Im Kanton Basel-Stadt fordert die Initiative «Kein Lohn unter 23.-» ein Mindestlohngesetz. Damit soll niemand mehr unter 23 Franken die Stunde verdienen. Ausgenommen davon sind:

  • Praktikant*innen
  • Personen unter 18 Jahren in einem Ferienjob
  • Lernende
  • Familienmitglieder in Familienbetrieben

Das Ziel der Initiative: Keine «Working Poor». Niemand soll arm sein, obwohl er oder sie arbeitet. Hinter der Initiative stehen unter anderem der Basler Gewerkschaftsbund, SP, Grüne und BastA!.

Der Gegenvorschlag des Regierungsrats: Ein Mindestlohn von 21 Franken die Stunde. 

Zusätzlich zu den Ausnahmen der Initiative nimmt er auch folgende Berufsgruppen auf die Liste: 

  • Au Pairs
  • Personen, die an Programmen zur beruflichen Integration teilnehmen
  • Angestellten, die in einem allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrag (ave GAV) oder einem Normalarbeitsvertrag (NAV) mit Mindestlöhnen unterstehen

Letztere Kategorie trifft z.B. auf den Detailhandel, die Gastronomie und Hotellerie, Coiffeure und viele andere zu, die heute niedrige Löhne bekommen. Liegen die dort festgelegten Stundenlöhne unter 21 Franken, profitieren die Angestellten nicht vom Mindestlohn.

Die Wirtschaftsverbände lehnen einen Mindestlohn in Basel-Stadt ab – egal ob 23 oder 21 Franken. Auch einige Unternehmen, darunter Herzog & de Meuron und die Lonza Group, sprechen sich dagegen aus. Sie befürchten Nachteile für den Standort Basel. Der Wirteverband Basel-Stadt spricht sich ebenfalls gegen einen Mindestlohn aus und argumentiert, Jobs für Geringqualifizierte würden wegbrechen.

Mindestlohn Coiffeuse
Würde gern eine Wohnung für 1000 Franken finden: Coiffeuse Ramona Schneitter. (Bild: Ina Bullwinkel)

«Ich verstehe nicht, wenn KMU sagen, sie können sich das nicht leisten.»

Ramona Schneitter, Coiffeuse (selbstständig)

 Ich bin ganz klar für einen Mindestlohn. Wir sind in der Schweiz, und da brauchst du einen gewissen Lohn zum Leben. Ich finde es abwertend, wenn jemand, der vier Jahre lang eine Ausbildung gemacht hat, so wenig Geld verdient. Bevor ich selbstständig war, habe ich oft 50 Stunden die Woche gearbeitet und verdiente trotzdem nur 3500 Franken im Monat. Es werden weniger Leute Handwerker, wenn sie wissen, mit wie wenig Geld sie leben müssen. Dabei braucht es auch Menschen, die mit ihren Händen arbeiten können und nicht nur Akademiker.

Bis vor Kurzem hatte ich eine Angestellte, die sich jetzt aber selbstständig gemacht hat. Ihr hatte ich fünf Wochen bezahlte Ferien gewährt und 4000 Franken pro Monat gezahlt – so wie es die abgelehnte Mindestlohn-Initiative für die Schweiz 2013 vorgesehen hatte. Das habe ich von meinem eigenen Geld abgegeben. Ich verstehe KMU nicht, die sagen, sie können sich das nicht leisten. Wenn ich das als Einzelunternehmerin zahlen kann, dann kann sich das jeder leisten. Das ist eine Prinzipienfrage.

Der GAV für die Coiffeur-Branche sieht für gelernte Angestellte in den ersten beiden Berufsjahren für eine Vollzeitstelle nur 3800 Franken vor, Ungelernte fangen mit 3350 Franken an. Ich bin dafür, dass alle 4000 bekommen. Wenn jemand 100 Prozent schafft, ob gelernt oder ungelernt, hat er 4000 Franken verdient.

«Bei unserem Lohn müsste die Miete für die eigene Wohnung eigentlich unter 1000 Franken liegen.»
Ramona Schneitter, Coiffeuse

Viele meiner Kunden wissen gar nicht, dass wir so wenig verdienen. Wir bekommen keinen 13. Monatslohn und Ferien werden maximal vier Wochen bezahlt. Wir Coiffeure leben auch ein wenig vom Trinkgeld. Trotzdem muss ich mich rechtfertigen, wenn ich 90 Franken für einen Haarschnitt nehme. 

Bei unserem Lohn müsste die Miete für die eigene Wohnung eigentlich unter 1000 Franken liegen. Ich habe nie etwas für diesen Preis gefunden. Der Regierungsrat schlägt einen Mindestlohn von 21 Franken vor – knapp 3300 Franken für 40 Stunden Arbeit, das ist ein Witz! Ich wünschte, diese Leute müssten einmal schaffen wie wir und von dem Geld leben. 

Geld zurückzulegen ist auch schwer. Einmal im Jahr leiste ich mir eine Reise. Die muss ich mir hart zusammensparen, aber die brauche ich als Ausgleich. Und wenn ich mehr in die 3. Säule einzahlen wollte als jetzt, könnte ich mir gar nichts mehr leisten.

Symbolbild anonym
Anja* möchte anonym bleiben, weil sie Angst um ihren Job hat (Symbolbild). (Bild: Viktor Vasicsek/Unsplash)

«Diese Menschen wissen nicht, wie schwer es ist, mit so wenig Geld in der Schweiz zu leben.»

Anja* (Name geändert), 45, Verkäuferin im Detailhandel (50 Prozent)

Ich hatte jetzt länger zwei Jobs, aber einen davon habe ich gerade verloren. Bei meiner 50-Prozent-Stelle, die ich noch habe, verdiene ich brutto 20,50 Franken die Stunde. Das ist wirklich wenig. Der Vorschlag vom Regierungsrat von 21 Franken ist nicht ausreichend. Das wären 50 Rappen mehr als ich jetzt habe. Was bringt mir denn das? 23 Franken die Stunde wären schon besser, sind aber immer noch wenig. Gleichzeitig steigen ja auch die Krankenkassenbeiträge und die Mieten. Deswegen bin ich dafür, dass der Lohn bei mindestens 25 Franken liegt.

Ich finde es gemein, dass die Menschen, die Geld haben, darüber abstimmen dürfen, wie viel ich verdiene. Sie haben keine Sorgen, können in die Ferien fahren oder sich Mittagessen aus dem Restaurant leisten. Ich kann das nicht. Diese Menschen wissen nicht, wie schwer es ist, mit so wenig Geld in der Schweiz zu leben. Sonst würden sie anders entscheiden.

«Eigentlich bräuchte ich tausend Franken mehr im Monat, nur um alle Rechnungen zu bezahlen.»
Anja*, Verkäuferin

Für meine 50-Prozent-Stelle bekomme ich netto 1700 Franken. Meine Miete kostet alleine 1200 Franken, meine Krankenkasse kostet 450 Franken und ich habe noch eine Zusatzkrankenversicherung. Dann ist das Geld schon weg. Dazu kommen aber noch Hausratversicherung und Telefon. Eigentlich bräuchte ich tausend Franken mehr im Monat, nur um alle Rechnungen zu bezahlen. Lebensmittel sind noch nicht eingerechnet. 

Ich lebe allein, mich unterstützt kein Partner. Nebenbei gehe ich schon länger putzen, da bekomme ich 30 Franken die Stunde und spare das Geld für meine 3. Säule. Ich versuche jetzt eine günstigere Wohnung zu finden, aber bisher ohne Erfolg.

Letztes Jahr habe ich lange Zeit sechs Tage die Woche gearbeitet, damit ich mal in die Ferien fahren konnte. Ich bin dankbar, dass ich eine Arbeit habe und nicht zu Hause hocke. Aber ich bekomme keine Wertschätzung. Ich arbeite auf Abruf. Hobbys liegen nicht drin, wenn ich erst um halb neun oder neun nach Hause komme. Mein Arbeitgeber will, dass ich flexibel bin und komplett für den Betrieb lebe, zahlt aber schlecht.

Ich würde bei meinem Job gern mehr Stunden arbeiten, dafür habe ich mich schon mehrmals beworben, aber meine Vorgesetzten haben mich nie genommen. Als ich erfahren habe, dass ich meinen anderen Job verliere, habe ich gefragt, ob ich zumindest fixe Tage bekomme, damit ich leichter eine neue Arbeit finde. Das wurde abgelehnt. Ich muss also versuchen, woanders eine 100-Prozent-Stelle zu finden. Ich habe jetzt Ergänzungsleistungen beantragt. Besonders viel wird es nicht sein, aber ich bin dankbar für jede Hilfe. 

Saali Hirschi
Saali arbeitet im Hirschi und unterstützt die Forderung nach einem Mindestlohn. (Bild: zVg)

«Das Trinkgeld macht auch nur einen kleinen Zuverdienst aus.»

Saali, Hirscheneck

Ich finde, die Menschen im Niedriglohnsektor müssten viel mehr Geld bekommen. Jeder, der arbeitet, verdient einen anständigen Lohn. Damit sich etwas ändert, muss allerdings eine Veränderung in den Köpfen stattfinden. Wir brauchen eine Umverteilung von oben nach unten. Die Gesellschaft muss anfangen, anders mit Geld umzugehen. Wir müssen wegkommen vom Discount-Denken. Viele denken immer noch, billig ist gut und hinterfragen diese Kultur nicht. 

Das Hirscheneck ist im Verhältnis eine günstige Beiz, die auch Menschen mit weniger Geld Essen, Trinken und Kultur ermöglichen will. Wir sind nicht gewinnorientiert. Das Trinkgeld macht auch nur einen kleinen Zuverdienst aus, das wird bei uns auf alle verteilt, auch auf die aus der Küche.

Um höhere Löhne zu zahlen, müssten wir mehr umsetzen. Dazu müssten wir entweder die Preise erhöhen oder uns überlegen, wie wir in weniger Stunden mehr schaffen. Das ist aber auch eine Frage der Arbeitsphilosophie. Wir sind nicht nur Bierkutscher, die das Essen bringen, sondern legen auch Wert darauf, mit unseren Gästen zu diskutieren und sie für bestimmte Themen zu sensibilisieren. Ökonomisch gesehen müssten wir uns also was Neues ausdenken.

«Die Corona-Massnahmen müssen von denen getragen werden, die das Geld haben und nicht von denen, die ohnehin schon knapp bei Kasse sind.»
Saali, Hirscheneck

Als Kollektiv können wir selbst entscheiden, wie viel wir uns zahlen, mindestens natürlich den Lohn aus dem LGAV. Mehr zu arbeiten ist in unserer Branche aber schwierig. Ich kenne niemanden, der es schafft, 100 Prozent zu arbeiten. Das ist viel zu anstrengend mit der Nachtarbeit. Nach kurzer Zeit gehst du auf dem Zahnfleisch. Bei uns im Kollektiv könnte man über einen Bedürfnislohn nachdenken, der sich an den individuellen Lebensumständen orientiert. Ich denke allerdings, dass dieses Konzept nur für Kollektive, die gleichberechtigt sind auf allen Ebenen, zum Thema werden kann.

Covid macht die Lage natürlich nicht einfacher, aber bei uns wurde niemand entlassen. Wir versuchen, uns gegenseitig zu unterstützen. Mit der Krise merken die Menschen vielleicht auch, was es heisst, ohne Gastronomie zu leben. Den Beizen geht es momentan ökonomisch schlecht, Corona kann aber kein Argument gegen einen Mindestlohn sein. Der muss trotzdem drin sein. Den meisten Gastronomen würde es schon das Überleben sichern, wenn ihre Mieten für ein halbes Jahr erlassen würden. Die Corona-Massnahmen müssen von denen getragen werden, die das Geld haben und nicht von denen, die ohnehin schon knapp bei Kasse sind.

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