Gesicherte Existenz? Nicht für alle.
Der Chef des Schweizer Arbeitgeber*innenverbands findet nicht, dass ein Vollzeitlohn existenzsichernd sein muss und sieht «den Staat» in der Verantwortung. Das ist Gift für das gesellschaftliche Klima, kommentiert Chefredaktorin Ina Bullwinkel.
Muss ein Mensch von seinem Lohn leben können? Allein die Frage erscheint absurd. Geht es bei Lohnarbeit doch primär darum, vom Erlös der Arbeit den Lebensunterhalt zu bestreiten. Wovon denn sonst, ehrlich gefragt. Wenn man Glück hat, macht einem die Arbeit zusätzlich sogar Spass. Wenn jemand 100 Prozent arbeitet, also seine komplette Kapazität als menschliche Ressource einer Firma widmet, muss diese Person davon leben können – und allenfalls sogar eine Familie ernähren. Das ist – oder war – der Schweizer Gesellschaftsvertrag.
Das sieht der Direktor des Schweizer Arbeitgeber*innenverbands Roland A. Müller ein wenig anders. Er setzte sich diese Woche mit einer gewagten Aussage in die lohnpolitischen Nesseln. Im Nationalrat dreht es sich in der Sommersession um kantonale Mindestlöhne und um die Frage, ob der Bund sie kippen können soll. In der Anhörung der Wirtschaftskommission gab Müller im März dazu seine Haltung zum Besten. Er findet, man könne von Arbeitgeber*innen nicht verlangen, dass sie Existenzsicherung betreiben.
Ein*e Arbeitgeber*in, der seinen Mitarbeiter*innen keine Löhne zahlen kann, die ihre Existenz sichern, hat schlicht kein Geschäftsmodell.
Er ist der Meinung, dass «ein rein existenzsichernder Lohn nicht die Aufgabe der Arbeitgeber» ist. Der Blick hakte bei Müller nach, woraufhin dieser erklärte, es sei natürlich das Ziel, dass Arbeitnehmer*innen vom eigenen Lohn leben können. Aber: Sollte das nicht der Fall sein, müsste aus Sicht des Arbeitgeber*innen-Chefs der Staat einspringen, weil existenzsichernde Löhne in einigen Branchen nicht möglich seien. Wer Vollzeit arbeitet und trotzdem nicht genug Geld bekommt, um über die Runden zu kommen, muss eben Sozialhilfe beziehen.
Mit anderen Worten: Vielen Dank, dass Sie 45 Stunden die Woche schuften. Arm sind Sie leider trotzdem. Schicksal! Und wenn ihr Lohn knapp über dem Minimum liegt, das sie zum Bezug von Ergänzungsleistungen oder Sozialhilfe berechtigt, kommen Sie ja nie auf die Idee, lieber gar nicht mehr zu arbeiten, wenn arbeiten sich nicht mehr lohnt.
Es ist, wie Müller sagt, «das Ziel», dass Angestellte von ihren Löhnen leben können, aber das ist nicht garantiert. Man könnte einwenden, ein*e Arbeitgeber*in, der seinen Mitarbeiter*innen keine Löhne zahlen kann, die ihre Existenz sichern, hat schlicht kein Geschäftsmodell.
Die Arbeitgeber*innen entziehen sich ihrer Verantwortung, angemessene Löhne zu zahlen, wenn sie in solch einem Fall auf den Staat verweisen.
Die Aussage des Direktors sorgte in den Medien und Kommentarspalten für so viel Furore, dass sich der Arbeitgeber*innenverband bemühte, eine Einordnung per Medienmitteilung nachzuliefern. Müllers Aussage sei bei vielen in den falschen Hals geraten. Zuerst einmal stellt der Verband klar, dass die Armutsquote bei Erwerbstätigen bei 4.4 Prozent liegt. «Lediglich» 2.3 Prozent, 61’000 Personen, würden mehr als 85 Prozent arbeiten und trotzdem als arm gelten. Für den Verband sind das die Ausnahmen. Er schreibt: «Nicht tiefe Löhne sind das Hauptproblem, sondern tiefe Pensen oder Erwerbslosigkeit.» Nun, in diesem Fall geht es aber um diejenigen, die viel arbeiten und trotzdem arm sind. Sollte es solche Bedingungen für Arbeitnehmer*innen geben – in einem der reichsten Länder der Welt? Auch, wenn es relativ wenige betrifft?
Die Arbeitgeber*innen entziehen sich ihrer Verantwortung, angemessene Löhne zu zahlen, wenn sie in solch einem Fall auf den Staat verweisen. So wie Müller, der findet, dass Unternehmen ja bereits mittels Steuern die soziale Sicherheit mitfinanzieren würden. Interessant: Sonst soll’s immer der Markt regeln, aber beim fairen Lohn muss plötzlich der Staat ran.
Wer den Schweizer Gesellschaftsvertrag aufkündigt, muss sich nicht über das zunehmende Gefühl von «Die da oben nehmen uns nicht ernst» wundern.
Bei unserer Frage des Tages wollten wir wissen: Arm trotz Arbeit – wer muss zahlen? Der Soziologe Ueli Mäder schrieb, die Argumentation des Arbeitgeber*innenverbands sei demütigend. «Ein volles Erwerbseinkommen muss existenzsichernd sein. So lautete in den 1960er-Jahren ein politisch liberaler Kompromiss. Er ist leider aufgebrochen.»
Für Unternehmen mag das so stimmig sein. Für die Gesellschaft können Aussagen wie die des Arbeitgeber*innen-Chefs allerdings zum Problem werden, wenn er offenbar verinnerlicht hat, den Begriff der sozialen Marktwirtschaft um das Soziale zu bereinigen. Wer den Schweizer Gesellschaftsvertrag aufkündigt, muss sich nicht über das zunehmende Gefühl von «Die da oben nehmen uns nicht ernst» und Abstimmungen wie die zur 13. AHV-Rente wundern. Die Bevölkerungsmehrheit hat politisch den von der Wirtschaft vorgegebenen Kurs offensichtlich verlassen, der die Schweiz so lange prägte und ökonomisch befruchtete. Mit seiner Äusserung zu nicht existenzsichernden Löhnen sorgt der obere Arbeitgeber für alles andere als zu einer Trendumkehr.
Arm trotz Arbeit – wer muss zahlen? Arbeitgeber*in oder der Staat?