Aus Wenslingen direkt in den Krieg

Familie C. lebt seit sechseinhalb Jahren in der Schweiz, aber eine neue Heimat hat sie noch nicht gefunden. Ihr droht die Ausschaffung, dem Vater der Einzug in den Ukraine-Krieg. Ein Härtefallgesuch scheint ihre letzte Chance zu sein.

Tschetschenischer Flüchtling
Iwan* möchte nicht in den Krieg gegen die Ukraine eingezogen werden. (Bild: Ina Bullwinkel)

Iwan* C. sitzt im Bajour-Büro und erzählt seine Geschichte. Sein Bekannter, ein Tschetschene, der schon seit 20 Jahren in der Schweiz lebt, hilft beim Übersetzen. Iwan sei zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Ganz einfach, das sei der Grund für die Flucht in die Schweiz. Und jetzt soll der Tschetschene ausgeschafft werden. Das macht ihm Angst, Iwan befürchtet, gegen die Ukraine in den Krieg ziehen zu müssen. «Ich möchte nicht, dass meine Kinder ihren Vater verlieren.»

Aber von vorne.

Iwan erzählt, er sei gerade auf seinem Pferd unterwegs gewesen. An einem kleinen Weiher habe er Schergen von «Präsident» Ramsan Kadyrow gesehen. Und beobachtet, wie sie jemanden erschossen hätten. Sein Pferd scheute wegen des Knalls und zog damit ungewollt die Aufmerksamkeit auf sich und den Reiter. Iwan ist geflohen, sagt er, über Gärten und Zäune, dann habe er sein Pferd am Ortsrand stehen lassen. «Als meine Verfolger das Tier entdeckten, haben sie es erschossen», erzählt Iwan, so hätten sie von den Dorfbewohner*innen erfahren, wem es gehört und wer sie beobachtet hat. Ab jetzt wurde er gesucht und auch seine Frau und die beiden Kinder fühlten sich nicht mehr sicher.

Iwan heisst eigentlich anders. Aber weil er befürchtet, in der Schweiz aufgespürt und ermordet oder verschleppt zu werden, möchte er anonym bleiben und auch nicht fotografiert werden. Tschetschenien ist eine autonome Republik Russlands, Kadyrow ist ihr Präsident. Menschenrechtsorganisationen kritisieren seit Jahren, Kadyrow sei ein Diktator, er herrsche mittels Korruption und drangsaliere Minderheiten und Oppositionelle. 

«Weil ich mich nicht gemeldet habe, gelte ich nun als Kriegsdienstverweigerer.»
Iwan*, geflüchtet aus Tschetschenien

Hätte Iwan den Mord nicht beobachtet, wäre er nie geflüchtet, sagt er. Der Familie sei es gut gegangen. «Ich hatte ein Unternehmen, Familie und Freunde», sagt er. Iwan war selbstständig, betrieb eine Art Internetcafé für Gamer*innen. Ausserdem habe er eine Farm mit Kühen und mehrere Automaten besessen, mit denen man zum Beispiel Guthaben auf Handys laden kann. 

Iwan zeigt uns das Foto vom Bein eines Mannes mit Fussfessel. «Das ist das Bein meines Vaters», sagt Iwan. Dieser sei unter Hausarrest gestellt worden. Das Regime habe nach seiner Flucht begonnen, Druck auszuüben auf seine Eltern. Als Iwans Eltern für kurze Zeit nach Moskau gehen wollten, um dem Druck und den ewigen Fragen von Kadyrows Männern zu entgehen, seien sie nach vier Tagen aufgespürt und zurück nach Tschetschenien gebracht worden. Spitzel von Kadyrow seien überall im Land. Die Männer hätten seinem Vater beide Beine gebrochen und die Rippen, damit die Eltern nicht noch einmal flüchten, sagt Iwan. Beweise habe Iwan an das SEM (Staatssekretariat für Migration) gegeben. Genauso wie er auf einer Karte gezeigt habe, wo seine Spielecafés waren, wo genau er den Mord beobachtet hat, wo sich sein altes Leben abspielte. Das SEM bewertet seine Schilderungen als unglaubwürdig.

Iwan möchte, dass er und seine Familie als politische Flüchtlinge anerkannt werden. Zur Not möchte er dafür vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. Der Mann Anfang 30 hat nicht nur Angst vor der Verfolgung von Kadyrows Männern. Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine fürchtet er bei einer eventuellen Ausschaffung nach Tschetschenien zudem, als Soldat eingezogen zu werden. Der tschetschenische Machthaber unterstützt Putins Angriffskrieg. Iwan zeigt uns das Foto eines Schreibens, das ihn auffordert, sich am 2. November 2022 im Militärischen Kommissariat zu melden. «Weil ich mich nicht gemeldet habe, gelte ich nun als Kriegsdienstverweigerer.»

In Polen nicht sicher gefühlt

Damals, nachdem er den Mord beachtet habe, habe Iwan sich erst bei einem Freund versteckt und dann die Flucht vorbereitet. Am 23. Juli 2016 machte sich die Familie über Grosny auf den Weg nach Moskau, von wo aus sie mit dem Zug ins belarussische Brest gereist ist. Von da aus ging es weiter nach Polen. Hier registrierten die Behörden die Familie, nahmen Fingerabdrücke, ein erster Asylantrag wurde gestellt. 

Eigentlich wollten die Eltern mit den zwei Kindern in Polen bleiben, aber dann hätten sie sich nicht mehr sicher gefühlt. «Es gibt zu viele Tschetschenen in Polen», sagt Iwan. Es sei gefährlich gewesen, dort zu bleiben. Man wisse nie, ob man auch im Ausland an die tschetschenischen Verfolger verraten wird. Aus der Schweiz sei so ein Fall bisher nicht bekannt.

Also machte sich die Familie auf in die Schweiz. Mit der Hilfe eines Schleusers kommen sie Mitte August 2016 an. Nach Ankunft in der Schweiz sollten sie umgehend nach Polen abgeschoben werden – aufgrund des Dublin-Abkommens. Da sie schon in Polen Asyl beantragt hatten, sei die Schweiz nicht zuständig. Die Asylgründe wurden deshalb gar nicht erst beurteilt. 

«Entscheidend ist, dass die Vorbringen glaubhaft gemacht und mit geeigneten Dokumenten untermauert werden.»
SEM (Staatssekretariat für Migration)

Dass er in Polen eine Auslieferung befürchtet, sagte Iwan auch dem SEM (Staatssekretariat für Migration). Im Schreiben des SEM, das Bajour vorliegt, heisst es, die Familie habe bei einer «Überstellung nach Polen» keine gravierenden Menschenrechtsverletzungen zu erwarten und werde nicht ohne Prüfung des Asylgesuchs in die Heimat abgeschoben. Damals war die Lage laut Erfahrungsberichten für Flüchtlinge schlecht und auch aktuell rät die Flüchtlingsorganisation ProAsyl von Rückführungen nach Polen ab, und spricht von «systematischen Grundrechtsverletzungen».

Als der erste Asylantrag in der Schweiz abgelehnt wurde, fochten Iwan und seine Familie  den Bescheid vor dem Bundesverwaltungsgericht an. Abgelehnt. Mehrmals habe die Familie neue Anträge gestellt, alle ohne Erfolg. In der Zwischenzeit brachte die Mutter der Familie das dritte Kind zur Welt. In diesem Zeitraum lief die Frist zur Überstellung nach Polen ab. Jetzt war die Schweiz für das Asylverfahren zuständig.

Seitdem kämpft die Familie weiter für ein Aufenthaltsrecht. Sie lebt in einer Sozialwohnung von der Gemeinde in Wenslingen, im Kanton Basel-Landschaft. Iwan habe versucht, Arbeit zu finden, aber ohne Aufenthaltsbewilligung habe ihn kein Arbeitgeber gewollt. Inzwischen wurde der Familie der N-Status aberkannt. Seit sechseinhalb Jahren haben sie keinen Job und kein regelmässiges Einkommen. Momentan leben sie von der Nothilfe, das entspricht acht Franken pro Tag und pro Person. 

Auch der jüngste Antrag auf Asyl wurde abgelehnt, auch das Bundesverwaltungsgericht bestätigte den Entscheid. Die Behörden glauben Iwan seine Geschichte vom beobachteten Mord und der politischen Verfolgung nicht.

Im Zweifel für den Gesuchsteller

Am 28. Februar läuft erneut eine Frist ab. Bis dahin muss die Familie Einspruch erheben oder die Ausschaffung wird in die Wege geleitet. «Vorbereitung der Ausreise aus der Schweiz», heisst das im Schreiben des Baselbieter Migrationsamts. 

Dabei habe Iwan Beweise für seine Verfolgung geliefert, sagt er. Einige davon teilt er auf einem USB-Stick mit Bajour. Es sind Videos von der Dash-Cam eines Autos, wie sie in Russland verbreitet sind. Die Kamera, also das Auto, ist auf ein Haus gerichtet, drinnen brennt Licht. Man sieht, wie draussen Männer mit Sturmmasken und Maschinengewehren umherlaufen, in einer Szene kontrollieren sie die Papiere eines Mannes, in einer anderen schubsen sie ihn.

Iwan sagt, auf den Videos sei ein Bekannter von ihm zu sehen, der ein neues Haus gebaut habe und bei dem die Schergen immer wieder vorbeigekommen seien, um Iwan zu finden. Reichen die Videos und anderen Dokumente als Beweis?

Das SEM darf keine Angaben zu einzelnen Asylfällen machen, ein Sprecher teilt aber mit: «Entscheidend ist, dass die Vorbringen glaubhaft gemacht und mit geeigneten Dokumenten untermauert werden. Das SEM ist sich dabei bewusst, dass nicht jegliches Vorbringen mit einem geeigneten Beweismittel untermauert werden kann. Die umfassende Einzelfallprüfung eines Asylgesuches trägt diesem Umstand Rechnung und im Zweifel wird zugunsten der Gesuchsteller und Gesuchstellerinnen entschieden.»

«Es ist nicht nur die Zukunft, die mir Sorgen bereitet, sondern auch die Gegenwart.»
Iwan*

In einem Schreiben ans SEM, datiert auf den 9. Mai 2022, also noch bevor er offiziell aufgeboten wurde, schreibt Iwan: «Ich will nicht sinnlos sterben und meine Kinder zu Waisen machen. Ich möchte auch nicht, dass unschuldige Menschen durch meine Schuld sterben. Ich möchte auch kein Besatzer sein, und ich brauche kein Heldentum in diesem Krieg.»

Kriegsdienstverweigerung ist kein Asylgrund

Laut SEM sind Desertion und Kriegsdienstverweigerung keine Asylgründe in der Schweiz. Sei eine Bestrafung für die Verweigerung im Heimatland aber unverhältnismässig streng, könnte eine Ausnahme gelten. Laut Schweizerischer Flüchtlingshilfe drohen bei Kriegsdienstverweigerung Geldstrafen oder bis zu zwei Jahre Gefängnis. Es gebe aber auch «Drohungen und Einschüchterungen gegen Soldaten, die sich weigern, in der Ukraine zu kämpfen. Einige werden an den Pranger gestellt und erniedrigt.» Auch Berichte von Straflagern, Zwangsrekrutierungen und möglicherweise längeren Haftstrafen gibt es.

Die Familie hat schon viele Gesetzesparagrafen gehört und viele Konjunktive. Es ist schwierig abzusehen, ob sie noch eine Chance hat, in der Schweiz zu bleiben.

«Es ist schrecklich, dass sie nicht arbeiten dürfen, jeden Tag nicht wissen, ob sie nach Hause müssen.»
Anna Basler, Petitionsverantwortliche

Dafür, dass sie nicht gehen muss, setzt sich Anna Basler ein. Basler wohnt im gleichen Dorf wie Familie C. «Anfangs habe ich die Familie öfter im Postauto gesehen und wir haben uns gegrüsst. Engeren Kontakt haben wir erst, seit ich weiss, dass die Familie einen negativen Asylbescheid bekommen hat.» Anna Basler möchte helfen. Die Frist, die bis Ende Februar läuft, möchte sie auf keinen Fall ungenutzt lassen. Deshalb hat sie eine Petition aufgesetzt, um die Ausschaffung zu verhindern. Parallel hilft das Solidaritätsnetz Bern, und der Menschenrechtsanwalt Guido Ehrler soll gemeinsam mit Aktivistin Anni Lanz** abklären, ob ein Härtefallantrag gestellt werden kann. Für einen Härtefall gibt es allerdings hohe Hürden, es müssen unter anderem ausreichend finanzielle Mittel und gute Deutschkenntnisse nachgewiesen werden.  

«Es ist schrecklich, dass sie nicht arbeiten dürfen, jeden Tag nicht wissen, ob sie nach Hause müssen. Das ist sehr belastend und bedeutet viel Stress», sagt Anna Basler am Telefon. «Die Familie darf kein Bankkonto eröffnen, keine Sim-Karte haben und einen Sprachkurs könnte sie nur machen, wenn sie diesen privat bezahlen.» Aus diesem Grund habe sie die Eltern kürzlich zum Deutschkurs angemeldet. Aktuell sei die Situation aber so stressig, dass sie die Familie wieder abgemeldet habe. «Sie können sich nicht darauf konzentrieren, wenn sie nicht wissen, ob sie überhaupt bleiben dürfen.» Als die Familie erfahren hat, dass es eine neue Frist bis Ende Februar gibt, seien alle krank geworden. «So gross ist die Belastung», erzählt Basler.

Angst vor der Front

Iwan fehlen die Worte, er könne nicht alles ausdrücken, was in ihm vorgeht. «Meine Hoffnung ist natürlich, hier zu bleiben, weil die reelle Gefahr besteht, dass ich, wenn ich deportiert werde, an die Front muss und wahrscheinlich dort den Tod finde.» Die letzten Monate seien sehr schwer für die Familie gewesen. «Es ist nicht nur die Zukunft, die mir Sorgen bereitet, sondern auch die Gegenwart.» Dass er als Vater nicht finanziell für seine Familie sorgen kann, beschäme ihn. «Das Geld reicht nicht. Wenn wir mit unseren Kindern in einen Laden gehen, und sie möchten ein Spielzeug, können wir uns das nicht leisten.»

Anna Basler möchte die Hoffnung nicht aufgeben. Für den 11. Februar hat sie eine Solidaritätsveranstaltung in Wenslingen organisiert, um Aufmerksamkeit auf den Fall zu lenken und eine Ausschaffung zu verhindern. 

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*Name der Redaktion bekannt.

**Anni Lanz ist für Bajour als Kolumnistin tätig.

Herzlichen Dank an Alex Vögeli für die Hilfe beim Übersetzen. 

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