Bald nur noch Arbeit auf Abruf?

Wenn das so weiter geht mit der Flexibilisierung des Jobmarktes, werden sich immer weniger Paare Kinder leisten können.

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Wie sieht die Zukunft der Arbeit aus? (Quelle: Unsplash / Avi Richards)

Die Corona-Krise hat unseren Arbeitsmarkt in kürzester Zeit umgekrempelt – mehr Kurzarbeit, mehr Home-Office, mehr Arbeit auf Abruf. Was wird davon bleiben? Wie sieht die Arbeit der Zukunft aus? Darüber ist in den letzten Wochen in den Medien viel spekuliert worden. Wobei leider eines auffällt: Alle Kommentator*innen gehen davon aus, dass alles von den Entscheidungen der Firmen abhängt.

Trend zum flexiblen Arbeiten wird weiterhin bestehen

So neulich auch die NZZ. Sie fragt: «Werden die Firmen in Zukunft weniger fixes Personal beschäftigen und stattdessen vermehrt auf Freelancer und temporäre Arbeitskräfte setzen?» Weiter wird berichtet, dass man im Onlinehandel und in der Logistik «zu wenig flexibel eingestellt» sei, um auf Nachfragespitzen zu reagieren. «Dass 40 Prozent der Personaldienstleister» wieder verstärkt auf Temporär-Arbeitskräfte» setzen werden. Und der Geschäftsführer eines Personalvermittlers habe beobachtet, «dass viele Firmen wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und des unsicheren Ausblicks vor allem Mitarbeiter für temporäre Einsätze, für zeitlich befristete Projekte sowie Freelancer» suchen.

Diese Einschätzung scheint realistisch. Vermutlich wird sich der Trend zum flexiblen – auf den schwankenden Bedarf der Wirtschaft ausgerichteten – Arbeiten fortsetzen. Rein betriebswirtschaftlich macht es Sinn, Arbeitskräfte nur nach Bedarf einzusetzen – und wenn die Konkurrenz dieses Sparpotential nützt, müssen alle nachziehen. 

«Die Wirtschaft ist kein Selbstzweck. Sie ist dazu da, unser Überleben zu sichern und die Lebensqualität zu verbessern.»

Volkwirtschaftlich dürfte diese Flexibilisierung aber kontraproduktiv sein. Wer als Freelancer*in einen «unsicheren Ausblick» hat, wird mehr sparen müssen und damit wird die «wirtschaftliche Lage» noch «schwieriger», was nach noch mehr Arbeit auf Abruf ruft. Ein Teufelskreis.

Doch selbst wenn uns ein noch flexiblerer Arbeitsmarkt ein steigendes BIP bescheren würde, wäre dies mit hohen sozialen Kosten verbunden. Bereits heute sind die Verdienstmöglichkeiten so unsicher, die Arbeitswege so lang und die Mieten so hoch, dass sich immer weniger Paare Kinder leisten können oder wollen.

Bajour macht weiterhin Babys.
Und Journalismus.

Bei uns liegt die Geburtenrate bei 1,54 Kindern pro Frau, Deutschland und vor allem Italien sind noch schlechter dran. Dort wächst erstmals eine Generation heran, die mit der Suche nach einem (prekären) Job und dem nötigen Nebenerwerb sowie mit Weiterbildung mehr Lebenszeit verbracht haben wird, als mit der bezahlten Arbeit.

Die Wirtschaft ist kein Selbstzweck. Sie ist dazu da, unser Überleben zu sichern und die Lebensqualität zu verbessern. Dabei kommt es immer weniger darauf an, wie viel produziert wird, sondern wie wir die Arbeit und damit die Gesellschaft organisieren.

Sicheres Einkommen geht vor Lohnerhöhung

Ein sicheres Einkommen und ein stabiler Wohn- und Arbeitsort wiegen schwerer als eine Lohnerhöhung um 20 Prozent, deren hohe Unsicherheit mit langen Arbeitswegen oder gar mit einem Umzug erkauft werden müssen.

«Es genügt nicht, nur die Vertreter*innen der Wirtschaft zu fragen, wie sie es gerne hätten.»

Gewiss: Die betriebswirtschaftliche Logik und die Zwänge des Marktes rufen nach flexiblen Arbeitseinsätzen und tiefen Lohnkosten. Diesen Trend zu stoppen, wird nicht leicht sein. 

Wenn dies gelingen sollte, müssten wir das Problem erst einmal erkennen. Nur so könnte der nötige politische  Prozess in Gang gesetzt werden. Das wiederum setzt voraus, dass wenigstens schon mal die Medienschaffenden erkennen, dass Arbeit auf Abruf sehr dunkle Schattenseiten hat. Dazu sind sie da. Es genügt nicht, immer nur die Vertreter*innen der Wirtschaft zu fragen, wie sie es denn gerne hätten. 

Vielmehr sollten Journalist*innen auch mal selber drüber nachdenken, wie sie es selber – wie es ihre Kinder und Nachbarn – denn gerne hätten.

Basel Briefing

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