«Man kann nicht gleichzeitig den ganzen Gazastreifen zerbomben und die Geiseln unversehrt befreien»
Wie prägen Narrative unsere Wahrnehmung von Frieden und Konflikten? Um Fragen wie diese ging es am Basel Peace Forum, an dem sich rund 300 Personen aus verschiedenen Bereichen trafen, um über Frieden zu diskutieren.
Der Saal im Basler kHaus war bis auf den letzten Platz besetzt, als Erziehungsdirektor Conradin Cramer das diesjährige Basel Peace Forum am Donnerstag eröffnete. Die jährlich stattfindende Veranstaltung wird von der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace organisiert. Es ist das weltweit erste Forum, das sich sektorübergreifend dem Thema Frieden widmet. Und so kamen auch dieses Mal rund 300 Personen aus Politik, Wirtschaft, Diplomatie, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Kunst zusammen, die den Frieden zum Thema machten. An einem Panel ging es um Narrative und die Frage, wie Erzählungen unsere Wahrnehmung von Frieden und Konflikten prägen.
Bajour hat mit der Schweizer «Spiegel»-Journalistin Monika Bolliger über Polarisierungen und die Herausforderungen im Gaza-Krieg gesprochen.
Wie berichten Sie über Konflikte, in denen stark polarisierte Narrative verbreitet werden?
Die Polarisierung spüren wir natürlich auch, und es ist nicht einfach, sich dem Druck zu widersetzen, der entsteht. Weil alles so aufgeladen ist, werden die moralische und analytische Ebene oft vermischt. Das führt zu Missverständnissen. Wenn ich versuche, eine Situation zu analysieren, kam schon der Vorwurf, ich würde etwas rechtfertigen. Aber die Analyse eines Konflikts und seine moralische Bewertung sind nicht dasselbe. In Konflikten ist es gerade für uns Journalist*innen umso wichtiger, eisern an unseren Grundsätzen festzuhalten. Wir müssen die Aussagen und Narrative von Konfliktparteien hinterfragen und prüfen. Wir müssen unterschiedliche Meinungen anschauen und die verschiedenen Perspektiven verstehen und abbilden, so gut wir können.
Wie können die Medien Polarisierungen entgegentreten?
Polarisierungen zu bekämpfen, ist nicht unsere Aufgabe, wir müssen zunächst die Realität abbilden. Aber es ist wichtig, dass wir die Polarisierung nicht zusätzlich befeuern. Das gelingt, indem man die Realität in ihrer Komplexität abzubilden versucht. Journalist*innen sollten sich nicht auf die Seite einer Konfliktpartei stellen und Narrative unhinterfragt übernehmen. Stark polemische Artikel, in denen Fakten weggelassen werden, um noch extremer einen Punkt zu machen und damit Aufmerksamkeit zu generieren, spielen hier eine sehr fragwürdige Rolle. Ich finde, man muss schon versuchen, sehr genau hinzuschauen und basierend auf der Realität, die man sieht, zu berichten und Kommentare zu schreiben.
Monika Bolliger hat Geschichte, Arabistik und Völkerrecht an der Universität Zürich studiert. Sie lebte zwischen 2012 und 2018 als Korrespondentin der «Neuen Zürcher Zeitung» in Jerusalem, Kairo und Beirut. Als Analystin, unter anderem für das Sana’a Centre for Strategic Studies, bereiste sie die Region von Iran über Syrien bis nach Saudiarabien und Jemen. Seit Frühjahr 2021 ist sie Redakteurin des «Spiegels» mit Schwerpunkt Nahost und wechselt ab Mai zur SRF-Hintergrundsendung «Echo der Zeit».
Wie aber kommen Sie in Zeiten des Krieges, zum Beispiel in Gaza, an glaubwürdige Informationen?
Wir haben immer noch Kontakte vor Ort und erhalten Informationen aus erster Hand, die wir als vertrauenswürdig einstufen, weil wir die Informant*innen und wissen, wer sie sind. Ausserdem gibt es internationale Hilfsorganisationen, die dort präsent sind und sehr viel mitbekommen.
Grundsätzlich decken sich viele der Informationen, die wir und andere Medienschaffende aus dem Gazastreifen erhalten. Wenn ich viele unterschiedliche Quellen habe, deren Aussagen sich decken, dann ist anzunehmen, dass sie glaubwürdig sind. Die Opferzahlen, die lange angezweifelt wurden, ebenso – inzwischen wissen wir, dass selbst die israelische Armee diese intern verwendet, weil sie sie als verlässlich einstuft.
Welche Bedeutung haben Lokaljournalist*innen in den Kriegsgebieten?
Ohne Leute vor Ort könnten wir fast nicht berichten. Wir haben eine Kollegin, die grosses Glück hatte und den Gazastreifen verlassen konnte. Sie hat immer noch sehr viele Kontakte vor Ort. Aber wir haben auch noch andere lokale Journalist*innen, mit denen wir arbeiten und die uns Informationen liefern. Das ist für eine gute Berichterstattung unerlässlich. Die Arbeit vor Ort ist aber sehr gefährlich, ein Journalist, der für uns arbeitete, ist bei einem israelischen Luftangriff getötet worden.
Welche Rolle spielt Social Media?
Auf Social Media gibt es zwei Parallelwelten. Ich bin in zwei Chats für Journalist*innen. Die eine heisst «Gaza War Newsgroup», in der Israeli informieren. Die palästinensische Gruppe heisst neuerdings «Gaza Genocide». Beide Seiten nehmen die Perspektiven und das Erlebte der anderen nicht zur Kenntnis. Ich sehe auch auf Instagram verschiedene Welten. Zum einen gibt es israelische Kreise, die über die Geiseln sprechen und über die brutalen Massaker vom 7. Oktober und die Folgen. Die absolut katastrophale Lage in Gaza wird ausgeblendet. Zum anderen gibt es arabische Kreise, die ausschliesslich über Gaza posten und fordern, dass alle von Genozid sprechen. Wer das nicht tut, ist für manche bereits mitschuldig. Für manche pro-israelischen Kreise hingegen ist antisemitisch, wer im Zusammenhang mit Gaza von Genozid spricht. Das setzt Nutzer*innen von sozialen Medien unter enormen Druck, sich zu positionieren.
Steht guter Hintergrundjournalismus unter Druck? Es geht ja auch um Klickraten…
Ich glaube und hoffe, dass es nach wie vor eine Nachfrage nach gutem und differenziertem Hintergrundjournalismus gibt. Die Online-Dynamik schafft aber natürlich andere Anreize, da die Klicks zählen und auch Geld bringen. Man könnte in Versuchung geraten, Titel zu sehr zuzuspitzen, auch wenn sie dann nicht mehr dem entsprechen, was der Artikel eigentlich sagen möchte. Eine Zuspitzung kann hingegen wieder die Polarisierung befeuern. Ich finde das eine sehr schwierige Entwicklung für den Journalismus und es gibt noch keine abschliessenden Antworten, wie wir damit umgehen können.
Können Narrative zum Frieden beitragen?
Ich glaube schon. Am Ende ist die Erzählung darüber, was passiert, sehr wichtig, um Frieden zu erreichen. Natürlich geht es vor allen Dingen erst einmal um die Bereitschaft, einen Kompromiss einzugehen. Das ist nicht unbedingt abhängig von den Narrativen. Am Ende aber müssen die kriegführenden Parteien ihre Leuten erklären, warum sie lange von Monstern, Untermenschen oder Terroristen gesprochen haben und nun mit diesen Leuten einen Frieden schliessen. Itzhak Rabin zum Beipiel hat seinerzeit bei den Abkommen von Oslo seine eigene Geschichte als hochrangiger Militär erzählt und glaubwürdig vermittelt, warum er die Palästinenser selbst lange bekämpft hatte, und nun einen Frieden wollte. Ihm ist es gelungen, ein Narrativ für den Frieden zu schaffen. Die Schwierigkeit ist ja, dass man den Menschen einerseits vermitteln muss, warum der Krieg nicht umsonst war, und andererseits, warum er aufhören muss. Man muss irgendeine Art von Sieg verkaufen.
Besteht die Hoffnung, dass das im aktuellen Nahostkonflikt auch gelingt?
Das Schwierige an der israelischen Militäroperation in Gaza ist, dass das Kriegsziel überhaupt nicht klar ist. Es war anfangs die Rede von der Vernichtung der Hamas. Das aber ist nicht möglich, ohne den Gazastreifen zu vernichten. Was danach kommen soll, wissen wir nicht. Und man kann nicht gleichzeitig den ganzen Gazastreifen zerbomben und die Geiseln unversehrt befreien. Welchen «Sieg« will Netanyahu seiner Bevölkerung am Ende verkaufen? Umgekehrt will die Hamas Palästina befreien, aber was sie für die Palästinenser ausser Tod und Zerstörung erreichen wird, ist sehr unklar. Allerdings hat die Hamas im Grunde schon gesiegt, wenn sie überlebt. Das ist die absurde Logik von asymmetrischen Konflikten.
Unterstütze uns und werde Member.