«Wir machen hier keine Ferien»
Basta-Parteisekretärin Franziska Stier ist Teil einer unabhängigen Wahlbeobachtungsdelegation aus Basel, die in der Türkei die Wahlen beobachten soll. Sie erklärt im Interview, wie der Umgang mit Menschenrechten in dieser angespannten Stimmung dokumentiert werden soll.
Frau Stier, Sie sagen, die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei könnten historisch sein. Wieso?
Die AKP/MHP Regierung unter Präsident Erdoğan hat sehr viel dafür getan, das Land von einer instabilen Demokratie in eine Art Präsidialherrschaft umzubauen, bei der das Parlament nicht mehr viel zu sagen hat und viele andere zentrale demokratische Elemente Stück für Stück ausser Kraft gesetzt wurden. Es besteht nach rund 20 Jahren die reale Chance auf einen Machtwechsel und der Wiederherstellung der Demokratie.
Sie sind als Teil einer Basler Delegation in die Türkei gereist, um die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu beobachten. Wie kam es dazu?
Die linken Parteien in Basel pflegen Kontakt zur HDP, einer linken Partei in der Türkei, die sich zentral für die Rechte der Kurd*innen einsetzt, aber auch für Ökologie und Geschlechtergerechtigkeit. Das HDP-Parteipräsidium hat Ende März an ihre europäischen Freund*innen einen Aufruf zur internationalen Wahlbeobachtung verschickt, weil sie das politische Klima als sehr angespannt empfindet. Die Basta und die Grünen Schweiz haben diesen Aufruf des HDP-Co-Präsidiums zur unabhängigen Wahlbeobachtung ebenfalls erhalten.
Und dann war klar, dass Sie dorthin reisen?
Einige Delegationsteilnehmende haben schon Erfahrungen mit der HDP gemacht oder sind vertraut mit der Situation in der Türkei. BastA!-Vertretungen waren bereits im Sommer 2022 bei einem grossen Parteikongress der HDP und im Februar zur Beobachtung des wegen der Erdbeben spontan abgesagten Urteils im Kobanê-Prozess, der nach meiner Einschätzung die HDP kriminalisieren sollte. Einige Delegationsteilnehmer*innen sind auch aktiv im Verein Städtepartnerschaft Basel-Van und bringen langjährige Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit NGOs und Menschenrechtsorganisationen mit.
2014 wurde die nordsyrische Stadt Kobanê vom sogenannten Islamischen Staat belagert. Die Türkei schloss die Grenzen, doch viele in der Türkei lebenden Kurd*innen wollten dennoch in die kurdisch geprägte Stadt reisen, um sie zu verteidigen – dazu hatte unter anderem die HDP aufgerufen. Die türkischen Sicherheitskräfte wollten die Grenzübertretung verhindern, so kam es zu Gewalttätigkeiten. 37 Menschen kamen dabei ums Leben. Diese Toten wurden im Nachgang der HDP zur Last gelegt. Viele Parteifunktioniär*innen, so auch der ehemalige Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtaş, wurden verhaftet. Im Kobanê-Prozess sollen sie nun verurteilt werden. 107 Personen sind wegen 37-fachen Totschlags und Zerstörung des Staats angeklagt. Gleichermassen gilt laut Beobachter*innen auch als Rechtfertigung eines schleichenden HDP-Parteiverbots der aktuellen Regierung.
Erfahrung als Wahlbeobachterin haben Sie aber bislang nicht. Wissen Sie, was auf die Delegation zukommt?
Was man vielleicht erklären muss: Wir sind nicht als staatliche Wahlbeobachter*innen der europäischen Sicherheitsorganisation OSZE vor Ort. Deren Aufgabe ist es beispielsweise die Wahlkabinen zu inspizieren, ob darin keine Kameras versteckt sind. Sie kontrollierten die Versiegelung der Urnen und ob die Wähler*innenverzeichnisse nachträglich geändert werden. Wir werden, soweit ich weiss, keinen Zugang zu den Wahlbüros haben, das wurde verboten, um «Einmischung aus dem Ausland» zu verhindern.
Was ist dann Ihre Rolle?
Wir versuchen, die Rechte der Menschen vor Ort zu wahren. Das tun wir schon durch unsere Präsenz. Die Tatsache, dass wir vor Ort sind, die Ereignisse dokumentieren und so auf Missstände aufmerksam machen, soll Leute ermutigen, ihr Wahlrecht wahrzunehmen.
Warum gibt es Zweifel, dass die Menschen wählen gehen könnten?
Wir werden nach Van, in den Südosten der Türkei reisen, wo viele Kurd*innen leben. Die dort starke prokurdische HDP wird durch die Regierung kriminalisiert – tatsächlich treten die HDP-Politiker*innen aus Sorge vor einem drohenden Parteiverbot für die linksgrüne Partei YSP an. Wegen dieser angespannten politischen Stimmung gehen wir davon aus, dass es in Van eine grosse Militärpräsenz geben wird. Es ist grundsätzlich möglich, dass vor einem Wahllokal ein Panzer steht. Solche Berichte vergangener Delegationen sind mir bekannt.
Begeben Sie sich in Gefahr?
Das ist relativ. Wir machen keine Ferien dort. Die Türkei ist ein sehr militarisiertes Land. Uns ist bewusst, dass die politische Arbeit für ökologische, feministische und soziale Kräfte um ein Vielfaches schwieriger ist. Das zeigt sich unter anderem an dem Verbotsverfahren, der Absetzung fast aller Bürgermeister*innen und den Verhaftungswellen der Wahlkampfhelfer*innen und Journalist*innen im Vorfeld der Wahlen. All das müssen wir in den Blick nehmen. Nicht jede*r wird uns willkommen heissen.
Wie wird der Wahltag aussehen?
Unser Sonntag wird sehr früh beginnen, da wir schon Öffnung der Wahllokale vor Ort sein müssen – wann er endet, wissen wir nicht. Vorher treffen wir verschiedene Menschenrechtsorganisationen und Journalist*innen, um uns zu informieren, wie das vergangenes Jahr eingeführt Mediengesetz, das kritische Meinungsäusserungen in den Sozialen Medien kriminalisieren soll, ihre Arbeit und Möglichkeiten zur freien Berichterstattung auch über die Wahlen verändert hat. Das fliesst dann auch in die Bewertung des Wahltags ein.
Wenn Sie nicht in die Wahllokale dürfen, was machen Sie denn genau?
Wir sind unterschiedlichen Bezirken zugeteilt, wir schauen uns nach der Öffnung der Wahllokale eine Weile an, was dort passiert. Wir wollen mit den Leuten reden, wie die Stimmung ist. Wir werden vermutlich den ein oder anderen Tweet absetzen und Videos posten. Auch die Wahlbüro-Schliessung schauen wir uns an. Am 17. Mai müssen wir dann einen Bericht abgeben. Darin steht, welche Wahllokale wir besucht und was wir dort erlebt haben.
Lohnt sich dieser Aufwand denn?
Ich kenne keine Empirie dazu, aber die Menschen, die vor Ort die Wahlkampagnen durchführen - und damit meine ich nicht nur die YSP, sondern alle demokratischen Kräfte - wissen was es braucht. Und ist nicht jeder Einsatz, der bewirkt, dass die Menschen ihr Recht auf Wahl ausüben können und dieses Land wieder Richtung Demokratie bewegt, viel Wert? Deshalb hoffe ich auf einen grossen Wähler*innenandrang in Van, das alles ruhig und gesittet abläuft – und dass ich keine Gewehre sehen muss.
Entgegen der Erwartungen konnte Franziska Stier die Wahllokale doch von innen inspizieren. Die Drohkulisse durch Militär sei am Wahltag selbst nicht so hoch gewesen wie erwartet – erst abends patroullierte das Militär durch die Strassen von Van. Von Journalist*innen erfuhr sie, dass am Morgen des Wahltags nicht autorisierte Wahlzettel im Umlauf seien. Ausserdem wurden laut ihren Informationen am frühen Abend, als die ersten Hochrechnungen publiziert wurden und Erdoğan deutlich vorne lag, unterschriebene Wahlprotokolle aus den kurdischen Gebieten nicht weitergeleitet. Sie wertet das als Hinweise auf eine versuchte Wahlmanipulation durch die AKP.
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