Missachtet Albert Rösti den Volkswillen, Herr Schaub?

Bundesrat Albert Rösti lässt Verkehrsprojekte extern überprüfen. Dazu gehören auch die Projekte des gescheiterten Autobahnausbaus. Ein Politologe ordnet das Vorgehen ein.

Verkehr Basel Autobahn
Bekommt Basel doch noch einen Rheintunnel? Bundesrat Albert Rösti lässt aktuell prüfen, welche Verkehrsprojekte Priorität haben sollen. (Bild: Adobe Stock)

Eigentlich war der Volkswille beim Autobahnausbau deutlich. 53 Prozent der Abstimmenden hatten im November ein Nein in die Urne gelegt. Jetzt holt Bundesrat Albert Rösti die Projekte aber wieder aus der Schublade und lässt sie von einem Experten an der ETH auf ihre Dringlichkeit prüfen. Hans-Peter Schaub, missachtet Albert Rösti hier den Volkswillen?

Das würde ich so nicht sagen. Erstens sind 53 Prozent nicht ein so deutliches Abstimmungsresultat. Das war also nicht eine absolute Ohrfeige für den Autobahnausbau. Andererseits hat das Stimmvolk über ein Paket abgestimmt und nicht über die einzelnen Projekte.

Zum Beispiel den Rheintunnel.

Ja. Daher würde ich sagen, das Vorgehen von Bundesrat Rösti ist grundsätzlich legitim.

Ist es auch üblich?

Ja, in der Schweizer Politik schon. Es macht auch absolut Sinn. Wenn man in einem System mit so stark ausgebauter direkter Demokratie sagen würde, dass man ein Thema nicht mehr aufgreifen darf, weil das Volk einmal darüber abgestimmt hat, würde es nicht funktionieren. In anderen Ländern ist das politisch etwas anders, in Grossbritannien zum Beispiel ist der Brexit nach einer Abstimmung quasi unantastbar.

Hans-Peter Schaub
Zur Person

Hans-Peter Schaub ist Politologe beim Dokumentationsprojekt «Année Politique Suisse» an der Universität Bern und als Projektleiter von Swissvotes zuständig für die umfassendste Datensammlung zu direktdemokratischen Volksabstimmungen in der Schweiz.

Können Sie andere Beispiele aus der Schweiz nennen, die mehrmals vors Volk gekommen sind?

Es gibt viele. Zum Beispiel die Unternehmenssteuerreform III, die zuerst deutlich abgelehnt wurde. Dann wurde sie im Rahmen der sogenannten STAF-Vorlage anders verpackt und mit zusätzlichem Geld für die AHV verknüpft.

Das war ein Anliegen der linken Gegnerschaft der Unternehmenssteuerreform III.

Ja, mit dieser Verknüpfung ist die Reform dann deutlich angenommen worden. Ein anderes Beispiel ist die E-ID. Dort war die Gegnerschaft nicht per se dagegen, forderte aber, dass die E-ID nicht privat bewirtschaftet wird und zeigte sich offen für eine staatliche Lösung. So ist es nun auch aufgegleist. Weitere Beispiele sind die Mutterschaftsversicherung, die erst im vierten Anlauf angenommen wurde. Oder die 13. AHV-Rente. Sie sehen, es gibt viele Beispiele aus verschiedenen politischen Lagern.

Wir haben heute unsere Leser*innen zum Thema befragt und jemand sagt, sie überrasche das Vorgehen mit Blick auf die AKW-Thematik nicht. Diese hat Rösti ebenfalls wieder aus der Schublade geholt.

Das stimmt, aber da ist Albert Rösti kein Sonderfall. Speziell ist beim Autobahnausbau aber, dass er das Thema ziemlich kurz nach der Abstimmung wieder aufgreift.

Frage des Tages Rheintunnel

Bei dieser zugespitzt formulierten Frage des Tages klickten die meisten auf «Ja». Einige der Überlegungen in den Kommentaren sind in das vorliegende Interview eingeflossen.

zur Debatte

Man könnte dieses Vorgehen auch so interpretieren: Das Volk hat zwar gesprochen, aber es irrt. Infrastrukturprojekte wie Autobahn oder AKWs sind dem Bund zu wichtig, um das Volk wirklich entscheiden zu lassen.

Das ist eine mögliche, eher negative Interpretation. Wichtiger scheint mir aber: In politischen Abstimmungen gibt es eigentlich ohnehin keine richtigen oder falschen Entscheidungen.

Sondern?

Es geht darum, ob ein Anliegen dem Mehrheitswillen entspricht oder nicht. Und da darf das Volk – beziehungsweise eben die Mehrheit – die Meinung auch ändern und die Behörden dürfen dies übrigens auch. Es gehört zur Demokratie, dass man über alles wieder diskutieren und sich eine andere Meinung bilden darf. Ausserdem können sich die Probleme oder der Handlungsdruck ändern. So ist die 13. AHV sicher mitunter durch den Kaufkraftverlust zu einem Erfolg geworden. Es gibt aber auch ein Risiko, wenn man ein Abstimmungsthema wieder aufgreift.

Ein politisches Risiko?

Ja. Wenn ein Bundesrat das leichtfertig macht, setzt er etwas aufs Spiel. Albert Rösti wurde bisher gefeiert als starker Mann, der im Bundesrat mit seinen Vorlagen durchkommt. Zumindest in den Medien ist dieses Image seit dem Autobahn-Nein etwas angekratzt. Und wenn er beim gleichen Thema ein zweites Mal verliert, wäre sein politisches Kapital beschädigt.

Es könnte aber auch eine Chance sein, das Image wieder gerade zu biegen.

Wenn er jetzt eine tragfähige Lösung findet, dann ist es ein politischer Erfolg für ihn, ja.

«Es gehört zur Demokratie, dass man über alles wieder diskutieren und sich eine andere Meinung bilden darf.»
Politologe Hans-Peter Schaub

Was bedeutet das für den politischen Prozess, wenn das Volk zwar Nein sagen kann, der Bund sich aber nicht absolut daran halten muss?

Im Idealfall findet ein Dialog zwischen Behörden und Stimmberechtigten statt. Die Behörden lernen aus dem Abstimmungskampf und dem Ergebnis. Diese Lernfähigkeit ist die grosse Chance der direkten Demokratie in der Schweiz. Es gibt aber auch einen problematischen Aspekt.

Nämlich?

Bei Abstimmungen sitzen die Behörden tendenziell am längeren Hebel. Sie starten mit einem Glaubwürdigkeitsvorteil in einen Abstimmungskampf, während es Geld und Ressourcen kostet, das Referendum zu ergreifen. Und dann muss man als Referendumskomitee auch noch einen Abstimmungskampf gewinnen. Wenn Behörden nun das Vorgehen auf die Spitze treiben und immer wieder mit dem gleichen kommen, ohne aus ihren Fehlern zu lernen, könnte man aus Sicht der Gegnerschaft einer Vorlage auch sagen: Die wollen uns weichklopfen, bis wir keinen Referendumskampf mehr führen mögen.

Beobachten Sie das in der Schweiz?

Nein, ich denke nicht. Aber es lohnt sich, zu beobachten, ob Behörden ehrlich versuchen, aus ihren Niederlagen zu lernen und mehrheitsfähige Vorschläge zu machen, wenn sie ein Thema wieder aufgreifen.

«Es lohnt sich, zu beobachten, ob Behörden ehrlich versuchen, mehrheitsfähige Vorschläge zu machen, wenn sie ein Thema wieder aufgreifen.»
Politologe Hans-Peter Schaub

Ein unabhängiger Experte an der ETH soll im Fall der Verkehrsinfrastruktur die Projekte prüfen. Ist es ungewöhnlich, dass ein Bundesamt solche externen Gutachten in Auftrag gibt?

Nein, gar nicht. Dass man am Anfang einer Vorlage Stimmen von Expertinnen und Experten einholt, ist sehr üblich.

Wenn eine neue Autobahnausbau-Vorlage jetzt ihren politischen Weg nimmt: Wann stimmen wir frühestens darüber ab?

Die Vorlage muss, sobald sie da ist, zuerst durch den Bundesrat, dann durch die Vernehmlassung, dann durchs Parlament. Von daher kann Albert Rösti nicht machen, was er will. Und wenn es ganz glatt geht und es ihm gelingt, ökologische Kreise und Strassenkreise in ein Boot zu holen, dann würde man vielleicht gar nicht darüber abstimmen, weil niemand das Referendum ergreift.

Und wenn es aus Röstis Sicht nicht ganz glatt geht?

Dann würden wir allerfrühestens in zwei Jahren darüber abstimmen. Aber das wird sportlich.

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