Wo ist dein Zuhause?
Die ukrainische Autorin Eugenia Senik hat in Basel eine neue Heimat gefunden. Verbunden fühlt sie sich aber mit vielen Orten und Menschen. Vom Suchen und Finden eines Zuhauses.
Vor einem Jahr besuchte ich eine Sprachschule in Basel, um mein Deutsch zu verbessern. Wir hatten uns für die Weihnachtsferien verabschiedet, als der Lehrer uns fragte, ob wir zu Weihnachten nach Hause fahren würden. Ich habe geantwortet, dass mein Zuhause hier sei, deswegen bleibe ich in Basel. Der Lehrer hat so laut gelacht, als hätte ich einen unglaublichen guten Witz gemacht. Und ich war sprachlos.
«Aber gehst du nicht deine Eltern besuchen, dort, wo du aufgewachsen bist?»
Die ukrainische Schriftstellerin Eugenia Senik (36) lebt seit August 2021 in der Schweiz. Aufgewachsen ist Senik im Osten der Ukraine, in Luhansk. Am 9. Mai erschien ihr dritter Roman, «Das Streichholzhaus», auf Deutsch. Es wurde vom PEN Ukraine in die Liste der besten ukrainischen Bücher des Jahres 2019 aufgenommen. Für Bajour schreibt sie ein persönliches Tagebuch über den Krieg.
Man muss mir nicht erklären, was das Zuhause bedeutet. Diesen Begriff kenne ich viel zu gut. Und so habe ich meine Emotionen versteckt, ein unglaubwürdiges Lächeln an mein Gesicht gezaubert und ruhig geantwortet.
«Meine Eltern sind tot. Mein Zuhause ist seit 2014 besetzt. Jetzt ist mein Zuhause hier.»
Der Lehrer hat nicht aufgegeben mit seinen Witzen.
«Dann bist du eine Bürgerin der Welt. Die ganze Welt ist dein Zuhause.»
«Nein, mein Zuhause ist hier in Basel.»
Ich verliess die Schule schon mehr als sprachlos und fühlte mich zutiefst verletzt. Ich konnte nicht begreifen, was daran so lustig sein könnte, Basel als mein Zuhause zu sehen. Vielleicht kann es mir jemand erklären? Fast ein Jahr ist vergangen und ich kann bis jetzt nicht verstehen, was ich damals Lustiges gesagt haben soll.
«Nur die Erinnerungen bleiben unbeschädigt. Ich verstecke sie in meinem Innern, dort verstecke ich auch mein Zuhause. Eines von vielen.»
Nach jenem Gespräch habe ich zwei Tage geweint. Ich habe wieder jede Nacht von meiner Heimatstadt geträumt, wie damals, als sie gerade besetzt wurde. Diese Träume hatte ich jede Nacht während zwei Jahren. Meine Stadt Lutuhyne, unsere Wohnung und die Eltern, die noch am Leben waren. Ich sehe alles so klar und deutlich, unser Leben und die alltäglichen Gespräche, bevor es brutal zerstört wurde.
Nur die Erinnerungen bleiben unbeschädigt. Ich verstecke sie in meinem Innern, dort verstecke ich auch mein Zuhause. Eines von vielen.
Meine Schwester scherzte früher, ihr Zuhause sei dort, wo sie schlafe. Auf Ukrainisch sagen wir oft «ich gehe nach Hause», auch wenn es ein Hotel ist, in dem wir nur eine Nacht übernachten, oder wenn wir bei jemandem zu Besuch sind. Auch meine Gäste aus der Ukraine riefen mich an, um zu sagen, sie gingen nun nach Hause. Nach Hause zu mir, was gleichzeitig auch ihr Zuhause ist.
Vielleicht würde ein französisches «chez moi» hier am besten passen. Ich bin chez moi. Und deswegen überall, wo ich bin, bin ich sofort chez moi. Weil ich selbst zu meinem eigenen Zuhause geworden bin. Ich musste. Ich hatte keine Wahl.
Doch dann gibt es Bücher, die die Bedeutung des Zuhauses in sich tragen. Vielleicht atmen ihre Seiten den Geruch ein. Und zahlreiche Erinnerungen. Vor kurzem ist meine Schwester in die Ukraine zurückgekehrt, sie hat es hier nicht lange ausgehalten. Sie wollte bloss nach Hause. Wieder daheim, wollte sie mir unbedingt etwas aus der Ukraine schicken. Sie brauchte wohl das Gefühl, dass nicht nur wir hier in der Schweiz ihr etwas geben können, sondern sie auch uns.
Das hilft ihr, ihre Würde zu behalten. Selbst wenn ihr die Raketen um den Kopf fliegen, will sie mir das Zuhause-Gefühl aus der Ukraine schicken, das sie in irgendwelchen Dingen versteckt. Sie weiss wie keine andere, wie wichtig das ist. Ich bitte sie, mir nur ein paar Bücher zu schicken. Ein kleiner Bus fährt die Pakete aus ihrem Dorf und verteilt sie in der ganzen Schweiz. Er fährt Berührungen, Atemzüge und Teile des Zuhauses zu den Ukrainer*innen, die jetzt in der Schweiz sind.
Seit Kriegsbeginn in der Ukraine hat die ukrainische Autorin Eugenia Senik ihre Gedanken, Sorgen und Ängste für Bajour aufgeschrieben. Du kannst sie als Podcast hören, Eugenia hat die Texte selber eingesprochen.
So war auch meine Mutter. Jedes Mal, wenn sie meine Schwester und mich aus dem Luhansk-Gebiet besuchen kam, packte sie die Tragtaschen so voll, dass sie sie kaum tragen konnte. Als ob sie versuchte, unser ganzes Zuhause in diese Tragtaschen zu stecken.
Das letzte Buch, das sie mir aus unserem Zuhause gebracht hat, war «Der kleine Prinz» auf Deutsch. Dieses Buch hatte ich vor zwölf Jahren in Deutschland gekauft. Ich sammle diese Geschichte in verschiedenen Sprachen. Meine Mutter war damals schon schwer krank. Mit letzten Kräften hat sie das Buch zu meiner Schwester nach Sumy gebracht. Ich hatte sie nicht darum gebeten, sie wollte es. Sie wollte unbedingt etwas bringen, auch wenn es ihr und meinem Vater in dem besetzten Gebiet viel schlechter ging als uns. Sie wollte, wie jetzt meine Schwester auch, ihre Würde nicht verlieren. Ihr war es wichtig zu zeigen, dass sie immer noch etwas zu geben hat. Ein Beweis, dass unser Zuhause noch existiert.
Einige Wochen später hat uns die Mutter für immer verlassen. «Der kleine Prinz» habe ich als erstes nach Basel mitgenommen. Er steht im Regal hinter meinem Rücken, während ich diese Zeilen schreibe. Er gibt mir Frieden, als ob sich meine Mama und mein ganzes Zuhause hinter meinem Rücken befinden würden. Ich drehe mich aber nicht um, ich will diese Leere nicht finden. Ich schliesse meine Augen und sehe Mama, unser Zuhause und den Vater. Sie sind alle in mir. Ich bin klein, aber sie haben in mir Platz. Weil ich mein eigenes Zuhause geworden bin.
Die Herbstmonate und Anfang Dezember sind für mich eine besondere Zeit, in der ich viel an meine Mutter und meinen Vater denke. Diese Monate beinhalten ihre Geburtstage und die Tage ihres Sterbens. Sie haben uns beigebracht, mit Tagen, an denen es um verstorbene Verwandte geht, behutsam umzugehen. Man versammelte sich und rief sie sich ins Gedächtnis zurück. Man sprach über sie und lachte. Jemand ist erst wirklich gestorben, wenn sich niemand mehr an ihn erinnert. Wir behüten unsere Erinnerungen.
Auch dieses Jahr ging meine Schwester zu den Gräbern meiner Eltern und brachte ihnen Blumen und Süssigkeiten. Sie schickte mir ein Bild vom Friedhof und ich fragte sie, ob da keine Minen liegen würden. Ob es heute nicht zu gefährlich sei, ihre Gräber zu besuchen, da sie sich im Wald befinden und ich gehört habe, dass die russischen Soldaten dort ihre Sprengfallen hinterlassen. Sie sagte mir, sie habe nur Angst, erschossen zu werden. Deswegen nahm sie ihre Hunde mit und ging trotzdem mit den Blumen dorthin.
Danach machte sie mit ihrer Familie das Abendessen, bei dem sie sich an die Verstorbenen erinnerten. Ich machte dasselbe mit meinem Mann in Basel. Wir zündeten Kerzen neben den Porträts meiner Eltern an und ich erzählte ihm lustige Geschichten aus unserem Leben in der Ukraine. Damit die Erinnerungen frisch bleiben und nicht verschwinden. Damit meine Eltern in meinem Herzen weiterleben und damit mein Zuhause.
«Ich merke, dass ich mehrere Zuhause(s) habe. Es gibt aber keinen Plural dafür. Die Sprache hat mir Grenzen gesetzt. Die Sprache sagt, ich dürfe nur ein Zuhause haben.»
In meinem neuen Roman schreibe ich über meine Eltern und ich bewahre sie auf den Seiten, vor allem für mich selbst. Ich habe das Manuskript meiner nahen Freundin in Lwiw geschickt. Sie hatte alle meine vorherigen Bücher auf Ukrainisch lektoriert. Wir telefonieren in der Nacht, um den Text zu besprechen. Sie kann nicht früher, da es dann weder Strom noch Internet gibt. Wir mussten die Möglichkeit packen, auch wenn ihr Arbeitstag längst vorbei war.
Wir sprechen gierig miteinander. Und die Zeit verfliegt viel zu schnell. Wir versuchen, zwischen der Arbeit am Manuskript über alles Mögliche zu sprechen. Wir beide vermissen diese Gespräche. Über Gott und die Welt. Ich sehe ihre Wohnung in der Kamera, genau genommen die Wohnung ihres Partners, ein guter Freund von mir. Er wurde vor kurzem in die Armee eingezogen. Seitdem bleibt sie dort allein.
Es ist nach Mitternacht und wir müssen unser Gespräch beenden. Bei ihr ist es schon ein Uhr morgens. Wir könnten aber noch stunden- und sogar tagelang miteinander sprechen. Ich denke noch heute viel an Lwiw, das auch einmal mein Zuhause war. Ich sehe meine Freundin und die mir vertraute Wohnung, in der wir lange zusammen philosophierten. Meine Sehnsucht nach diesem Zuhause ist gross. Und ich frage mich, wie lange ich mich noch zurückhalten kann, nach Lwiw zu fahren.
Ich merke, dass ich mehrere Zuhause(s) habe. Es gibt aber keinen Plural dafür. Die Sprache hat mir Grenzen gesetzt. Die Sprache sagt, ich dürfe nur ein Zuhause haben. Doch wider Grammatik und wider Logik habe ich mehrere Zuhause(s). Und eines davon ist Lwiw.
Ich schrieb diesem Freund, der vor einigen Monaten eingezogen wurde. Ich fragte ihn vorsichtig, wie es ihm gehe und wo er sei. Er hatte aber kaum Verbindung und schrieb sehr lakonisch. Er schrieb, er sei noch am Leben. Und auch, dass er und seine Kameraden sich meinem Heimatgebiet nähern, meinem Zuhause. Ich schliesse die Augen, um nicht zu weinen. Wegen dem Zuhause und wegen dem Freund.
Er ist ursprünglich ein Philosoph. Er war noch vor kurzem Professor an einer Universität in Lwiw. Mit ihm hatte ich die tiefsten Gespräche. Ohne Einleitung sprangen wir sofort in die tiefste Tiefe. Von solchen Gesprächen bin ich geprägt und es fällt mir schwer, kurze Dialoge über das Wetter zu führen. «Du stösst die Menschen weg», wurde mir einmal gesagt. «Du bist zu ernst. Die Menschen mögen es nicht.»
Ich verliere aber die Hoffnung nicht. Ich lerne langsam, über das Wetter zu sprechen, versuche jedoch dabei, meine Menschen zu treffen. Mit denen ich ohne Einleitung über alles sprechen kann, ohne sie dabei wegzustossen.
«Auf einmal verstand ich, egal, wohin ich noch ziehen werde, sie bleiben alle in mir. Und wenn ich jetzt in Basel zu Hause bin, sind meine anderen Zuhause(s) auch hier.»
Kürzlich traf ich eine Frau im Zug von Zürich nach Basel. Wir sprachen während der ganzen Reise, als ob wir in der Ukraine wären. Dort knüpft man immer neue Bekanntschaften oder Freundschaften im Zug. Wir kennen kaum die Namen voneinander, sprechen aber gleich über alles Mögliche.
Diese Frau und ich sprachen miteinander ununterbrochen, sodass mein Durst ein bisschen gelöscht war. Wir stiegen aus und ich sagte ganz leise, dass es so schön sei, wieder zu Hause zu sein.
«Das bedeutet, dass Basel dein Zuhause ist?», lächelte sie warm.
«Ja», lächelte ich bedächtig zurück und schaute sie an.
In den Augen meiner neuen Bekannten fand ich viel Verständnis und Gemütlichkeit. Als ob sie selbst wüsste, was das bedeutet. Was es bedeutet, mehr als ein Zuhause zu haben. Ich fühlte mich sofort wohl. Ich fühlte mich zu Hause. In allen meinen Zuhause(n) gleichzeitig. Auf einmal verstand ich, egal, wohin ich noch ziehen werde, sie bleiben alle in mir. Und wenn ich jetzt in Basel zu Hause bin, sind meine anderen Zuhause(s) auch hier. Ich habe sie in Bücher gesteckt und in mich selbst.