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Weniger Arbeit für Klimaschutz

Gute Ideen entstehen nicht nur am Schreibtisch

Der Grünen-Präsident Balthasar Glättli wollte prüfen lassen, ob eine Arbeitszeitreduktion einen Beitrag zum Klima leisten könnte – und erhielt dafür einen Schmähpreis. Doch die Idee ist alles andere als unsinnig, findet die Basler Unternehmerin Marie Tuil. 

05/26/23, 03:00 AM

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Unsere Unternehmen – im Bild ein Solarpanel für den Balkon – leiden nicht unter unserer Arbeitszeitreduktion, im Gegenteil.

Unsere Unternehmen – im Bild ein Solarpanel für den Balkon – leiden nicht unter unserer Arbeitszeitreduktion, im Gegenteil. (Foto: zVg/ Solarbalkone)

«Der unsinnigste und überflüssigste Gesetzesvorstoss des Jahres» – mit dieser Auszeichnung möchte die Gruppe IG Freiheit sich für Freiheitsrechte einsetzen. Dieses Jahr geht der Rostige Paragraph an Balthasar Glättli, Präsident der Grünen sowie Zürcher Nationalrat. Er beauftragte den Bundesrat, zu prüfen, ob eine generelle Reduktion der Lohnarbeitszeit einen Beitrag zum Klimaschutz leisten könne.

Nun stellt sich die Frage: Ist sein Vorstoss wirklich so unsinnig und überflüssig?

Dass Klimaschutz per se weder unsinnig noch überflüssig ist, darüber ist sich zumindest die Wissenschaft einig. Hans Joachim Schellnhuber, Gründer des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, drückte es so aus: «Ich sage Ihnen, dass wir unsere Kinder in einen globalen Schulbus hineinschieben, der mit 98% Wahrscheinlichkeit tödlich verunglückt.» 

Und ja, Arbeit kann durchaus ein Teil der Problemlösung sein. Für Grossbritannien wurde der Klimabeitrag einer Vier-Tage-Woche bereits berechnet: Mehr als 20 Prozent der Emissionen der britischen Volkswirtschaft könnten dadurch eingespart werden, schätzt eine Umweltorganisation in London: Die Menschen müssten weniger Pendeln, wodurch der Energieverbrauch am Arbeitsplatz sinke. Und die zusätzliche freie Zeit flösse hauptsächlich in klimaunschädliche Beschäftigungen wie Freunde treffen und Sport machen, so die Annahme.

20% Einsparpotenzial ist viel – noch dazu für eine Massnahme, die den Staatshaushalt wenig kostet.

Die Produktivität bleibt gleich

Die selbsternannten Freiheitskämpfer der IG Freiheit sehen das offensichtlich anders. Nun liegt die Schlussfolgerung nahe: Die IG Freiheit ist eine Interessensvertretung von Unternehmer*innen und wirtschaftsfreundlichen Politiker*innen. Und deshalb kann sie an einer Arbeitszeitreduktion kein Interesse haben.

Als Basler Unternehmerin sage ich: Das stimmt nicht. Ich arbeite lediglich 15 Stunden pro Woche für die drei nachhaltigen Unternehmen, die ich gemeinsam mit meinem Mann Michaël Tuil gegründet habe. Dies mit Absicht – und fürs Klima. Unsere Unternehmen leiden nicht darunter, im Gegenteil: Gute Ideen entstehen ja nicht nur am Schreibtisch. Die Idee zu unserer Haupteinkommensquelle, den Solarpanels für den Balkon, hatten wir zum Beispiel auf einem Spielplatz (ja, ich habe zwei kleine Kinder). Wir fragten uns: Wäre es nicht toll, auch in einer Mietwohnung ein leichtes Solarpanel einfach ans Balkongeländer hängen zu können und so über die Steckdose die Wohnung mit eigenem Solarstrom zu versorgen? Auf dem Weg zum fertigen Produkt galt es noch unzählige Lösungen zu finden. Manche davon natürlich am Computer – viele aber auch beim Wäscheaufhängen, Kinderzubettbringen oder Zähneputzen. Der Solarbalkon ist derzeit im IWB City Center in Basel zu sehen und wurde dieses Jahr vom Klima Impact Fund ausgewählt.

Meine Erfahrungen werden übrigens auch von wissenschaftlichen Studien über verkürzte Arbeitszeit bestätigt, diese zeigen: Bei einer Vier-Tage-Woche bleibt die Produktivität in etwa gleich. Die Anzahl an Fehltagen aber sinkt, die Mitarbeitermotivation und Zufriedenheit steigt. Alles ebenso wichtige Faktoren in einer Wirtschaft, der es an Fachkräften mangelt.

Zur Person

Zur Person

Marie Tuil hat sich nach einem Abstecher in den Journalismus zur sozialen Serienunternehmerin entwickelt. Mit ihren Basler Startups Solarbalkon, Direct Coffee und Haferdrinkkonzentrat setzt sie sich für eine bessere Welt ein.

Island hat deshalb 2021 nach einem grossangelegten dreijährigen Test die 35-Stunden-Woche bei gleichbleibendem Lohn flächendeckend eingeführt. Unser Nachbarland Frankreich hat sie schon lange. Derweil geht es in der Schweiz einen Schritt zurück. In Zürich will das Parlament Teilzeitarbeitenden die Subventionen kürzen. Wer freiwillig weniger lohnarbeitet, wird als faul abgestempelt.

Allzu oft gerät dabei aus dem Blick, was in der lohnarbeitsfreien Zeit alles geleistet wird: Kinderbetreuung zum Beispiel ist kein Hobby, es ist eine gesellschaftsrelevante Aufgabe. Die aber schlicht nicht entlöhnt wird, wenn Eltern sie übernehmen. In der Schweiz sind es noch immer hauptsächlich Mütter – und dies nicht selten aus finanziellen Gründen, wenn die Kitakosten den Lohn übersteigen. In meinem Fall teilen wir uns die Familienarbeit zu gleichen Teilen auf.

Und nun, was machen wir in den Stunden, die übrig bleiben? Wir haben, seit wir nicht mehr Vollzeit arbeiten, nicht nur unsere zwei Kinder erzogen. Sondern auch zwei zuvor leerstehende und verfallende Häuser energetisch renoviert. Vier Wohnungen darin vermieten wir zu erschwinglichen Preisen an Alleinerziehende. Das dritte leerstehende Haus steht für dieses Jahr an. Der Neubau und Betrieb von Gebäuden ist einer der grössten Klimasünder weltweit und bewegt sich viel zu langsam in Richtung Pariser Klimaabkommen.

Bei uns scheint die Rechnung von Balthasar Glättli also aufzugehen. Der Bundesrat will sich aber noch nicht einmal auf die Prüfung der Auswirkungen einer Arbeitszeitreduktion einlassen. Das ist eine verpasste Chance. Die Regierung erhält von mir deshalb das Fossil des Tages, ein Preis, der an Staaten geht, die Fortschritte in der Klimapolitik behindern.

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