Nicht alles in der Schweiz war gut, aber ...
Der Grünliberale Grossratspräsident Bülent Pekerman sprach in seiner 1.August-Rede auf dem Bruderholz von der Stabilität der Bundesstaates Schweiz. Das ist seine Rede zum Nachlesen.
Bei den traditionellen Parteien weiss man jeweils, was man am 1.August ungefähr kriegt. Doch die GLP ist noch jung und hat keine grossen Traditionen, auf die sie sich beziehen kann. Wie hat Bülent Pekerman dieses Dilemma gelöst? Eine kleine Einordnung aus der Redaktion.
Liebe Baslerinnen und Basler
Liebe Gäste der Bundesfeier
Eine Generation sind 25 Jahre. 175 Jahre sind 7 Generationen. Wir sind also die 7. Generation, die unseren Bundesstaat und seine Verfassung feiern und geniessen darf.
175 Jahre sind aus unserer heutigen Sicht eine lange Zeit. In Generationen gerechnet wirkt es aber viel näher. Die Generation der Bundesstaatsgründung waren die Urgrosseltern unserer Urgrosseltern. Zugegebenermassen, für die allermeisten von uns, ganz besonders für mich, trifft das nicht zu, denn schon meine Grosseltern wussten wahrscheinlich nicht, wo die Schweiz liegt, und befassten sich auch relativ wenig mit Verfassungsrecht und Geschichte.
Die meisten von uns stammen nicht direkt oder nicht ausschliesslich von jenen (wohl nur) Männern ab, die nach einem Bürgerkrieg erkannten, dass dieser Fleck auf der europäischen Landkarte mit seinen Bergen, Tälern, Flüssen und Seen, mit seinen Städten und Dörfern, mit den Menschen, die da lebten, eine föderale und demokratische Rechtsordnung brauchte.
1848 war eine kriegerische, schwierige und revolutionäre Zeit in Europa. Mit Stolz können wir heute, 7 Generationen später, behaupten, dass die Schweiz eine der nachhaltigsten Veränderungen im Europa jener Zeit bewerkstelligt hat. Während viele der damaligen Demokratisierungsbewegungen im Sand verliefen oder im Blut ertränkt wurden, gelang es dem kleinen Fleck Schweiz und seinen Menschen, aus der Zwietracht des Sonderbundskrieges aufzustehen und eine geeinte Willensnation zu schaffen, die bis heute ihresgleichen sucht.
Nach dem Amt des Statthalter, übernimmt Bülent Pekerman den Sitz des «höchsten Basler». Damit ist er der erste Grossratspräsident von der glp und der erste mit kurdischen Wurzeln. Wir haben den Fahrlehrer, als er zum Statthalter gewählt wurde, bei der Arbeit besucht. Der Artikel zeichnet seinen Weg vom Hinterbänkler zum Politiker nach und berichtet von ihm als Brückenbauer zur Jugend, zur Perspektive von Migrant*innen.
Zugegebenermassen war es dazumal weder einfach, noch harmonisch. Die «gute alte Zeit» war nicht immer gut und schon gar nicht immer besser, aber es war ein guter Anfang. Zu jener Zeit waren wir noch Jahrzehnte davon entfernt, dass sich jüdische Menschen frei niederlassen durften und dass jüdische Männer das Wahlrecht in ihrem eigenen Kanton erhielten. Wir waren weit davon entfernt, dass die aufkommende Arbeiterschaft gebührend Gehör fand und auf soziale Rechte zählen konnte. Die Volksrechte und damit die direkte Demokratie sollten erst mit der ersten Reform der Bundesverfassung 1874 langsam aufkommen. Ausländer durften ab 1849 im Kanton Neuenburg als einsamem Vorläufer – aber nur auf Gemeindeebene – abstimmen. Es standen uns noch zwei Weltkriege und viele grosse und kleine Wirtschaftskrisen bevor. Die Vorfahren der meisten von Ihnen sollten erst noch einwandern, viele von uns haben Urgrosseltern, die irgendwann zwischen 1848 und heute irgendwo im ehemaligen Preussen, in Russland, Bolivien, Italien, Senegal oder Irland geboren wurden.
«Nicht alles in der Schweiz war gut, aber es war meist besser als anderswo, und das ist schon sehr viel.»Bülent Pekerman
Als die Bundesverfassung 1848 geschaffen wurde, war das Frauenstimm- und wahlrecht noch 123 Jahre weit weg. In den 7 Generationen seither sind Dutzende von Staaten entstanden, untergegangen, wiederauferstanden, zwangsfusioniert, geteilt und wiedervereinigt worden. Nicht alles in der Schweiz war gut, aber es war meist besser als anderswo, und das ist schon sehr viel.
Schauen Sie in Ihr Portemonnaie. Sie finden dort die Schweizer Franken, die 1850 eingeführt wurden. Auf der einen Seite des 5-Libers sehen Sie die Zahl. Diese Seite der Münze hat sich seit 1850 kaum verändert. Die Rückseite der Münze schmückte ursprünglich die sitzende Helvetia. Diese stand dann 1874 auf! 1922 wich sie vom 5-Liber und machte einem Alphirten Platz (es ist übrigens nicht Wilhelm Tell).
Der Blick ins Portemonnaie sollte Sie erfreuen. Natürlich vor allem dann, wenn Sie ganz viele Münzen und Noten darin finden. Es sollte Sie aber besonders freuen, dass in Ihrem Portemonnaie 100 Jahre alte Münzen liegen können, die sich nicht von den heutigen unterscheiden. In derselben Zeit sind um uns herum Dutzende von Königen und Königinnen auf Münzen gekommen und wieder gegangen. Auch Adler, Falken und Tauben, Löwen und Bären, Eichenblätter, Berge, Schilder und Musikerinnen, Künstler, Diktatoren, Schwerter und Pflüge zeigen auf den Münzen dieser Welt und unseres Europas, wie unstabil sich die letzten 7 Generationen durch die Geschichte bewegt haben. In anderen Ländern wurden auf Banknoten Nullen gestrichen oder Tausenderstellen hinzugefügt, während Helvetia – bzw. unser Alphirte – stoisch blieben und sich nichts anmerken liessen.
«Die grosse Armut ist weiter weg, die kleine Armut ist aber immer noch mitten unter uns.»Bülent Pekerman
Doch einst waren auch wir einer der Unruheherde Europas und bisweilen sogar dessen Armenhaus. Auch heute leben wir wieder in unruhigen Zeiten. Die grosse Armut ist weiter weg, die kleine Armut ist aber immer noch mitten unter uns. Manch einer muss auch bei uns die stehende Helvetia zweimal umdrehen, und bei vielen wird das Münz gegen Ende des Monats immer weniger und kleiner.
Unruhen, Kriege und Revolutionen schienen lange weit weg. Sie kamen nur individualisiert zu uns: elsässische Flüchtlinge, Fahnenflüchtige aus den Weltkriegen, Jüdinnen und Juden zwischen Hoffnung und Todesfurcht, spanische Republikaner, ungarische und tschechoslowakische Antikommunisten, Unterdrückte aus Tibet, Kurdinnen und Kurden, Menschen aus Sri Lanka, Kosovo, Afghanistan, Eritrea und jetzt aus der Ukraine flohen zu uns. Das Elend war immer da, irgendwo, und die Schweiz war immer hier und hat geholfen, mal grosszügiger, mal knausriger. Aber wir hatten das Weltgeschehen stets vor Augen.
An diesen Aufgaben sind wir gewachsen: an der Integration der Auswärtigen, an der Beratung der andern, am Respekt vor dem Hiesigen, am Lernen aus fremden Fehlern und am Stolpern über die eigenen. Die Schweiz ist in diesen 7 Generationen gewachsen, nicht in der Fläche, aber als Gemeinschaft. Wir haben das Modell einer multikulturellen Gesellschaft mit verschiedenen Sprachen und Religionen erfolgreich verinnerlicht und für die Welt getestet. Nach manchem Bürgerkrieg auf diesem Planeten schlugen findige Diplomatinnen und Diplomaten vor, das Territorium der Kriegsparteien in Kantone zu gliedern, den sprachlichen und religiösen Minderheiten Rechte und Autonomie zu gewähren, politische Gleichgewichte zu schaffen und letztlich das «Schweizer Modell» anzuwenden. Natürlich kann die organisch gewachsene Erfolgsgeschichte der Schweiz nicht einfach exportiert werden. Aber sie ist ein Vorbild, von dem manche Unzufriedene dieser Welt sich inspirieren lassen. Es geht uns gut, es ist uns gut gegangen, und es soll uns weiterhin gut gehen. Das schulden wir den letzten 7 Generationen und den kommenden 7 erst recht.
«Unsere Aufgabe als Milizpolitiker ist es, unseren Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern Zuversicht zu geben.»Bülent Pekerman
Wir stehen vor grossen Herausforderungen, und nichts von dem, was wir für gegeben erachten, ist garantiert. Wie viele westliche Demokratien sind auch wir gefährdet. In schwierigen Zeiten sehnen sich viele nach einfachen Lösungen, lauten Parolen und starken Anführern. Die Tendenz zu Populismus und Totalitarismus zieht wieder durch Europa und macht am Rhein nicht Halt. Unserer Wirtschaft geht es gut. Aber der objektive Zustand ist manchen gar nicht so wichtig wie ihr subjektives Empfinden. Zukunfts- und Existenzängste sind nicht immer rational erklärbar, sie sind aber ein Nährboden für Radikalismus.
Unsere Aufgabe als Milizpolitiker ist es, unseren Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern Zuversicht zu geben. Die Klimakrise ist eine enorme Herausforderung. Die künstliche Intelligenz macht Angst und Hoffnung. Kriege und Migrationen werden uns betreffen, auch wenn sie weit weg scheinen. Für diese Fragen gibt es keine einfachen Lösungen. Ich weiss aber, dass wir die Herausforderungen meistern werden, weil wir sie meistern müssen und weil wir sie meistern können. Wir können das, wir haben es in unserer Geschichte schon oft bewiesen.
Wir können Kollaboration.
Wir können Commitment.
Wir können Innovation.
Und Sie können jetzt chillen!
Ich danke dem Organisationskomitee und allen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern dieser schönen Feier hier auf dem Bruderholz. Und Ihnen allen wünsche ich noch einen schönen und fröhlichen 1. August.
Unterstütze uns noch heute!