Der unterschätzte Kandidat
Nationalrat Mustafa Atici hat, was vielen Schweizer Politiker*innen fehlt: unternehmerische Erfahrung. Der studierte Wirtschaftsingenieur hat in Basel mehrere Unternehmen gegründet. Trotzdem wird seine Bundesratskandidatur nicht richtig ernst genommen. Warum nicht?
Kürzlich beim Apéro sagte eine der Anwesenden: «Diese Bundesratskandidatur von Mustafa Atici, die ist schon ein wenig peinlich, oder?»
Der Tages-Anzeiger veröffentlichte im Juli eine Umfrage zu den Bundesratswahlen, Mustafa Atici kam nicht einmal vor. Obwohl er der einzige Sozialdemokrat ist, der sein Interesse öffentlich angemeldet hat, zuerst auf Primenews.
Und der Baselbieter Sozialdemokrat Eric Nussbaumer warb kürzlich gegenüber Tamedia gleich für mehrere Kandidaten, etwa den Basler Regierungspräsidenten Beat Jans und den Bündner Nationalrat Jon Pult. Der Basler Genosse Mustafa Atici war nicht darunter: «Atici ist ein valabler Kandidat mit einem speziellen Profil.» Es seien aber Zweifel angebracht, was die Wahlchancen angehe.
Mustafa Atici gilt als Aussenseiter, wenn es darum geht, im Dezember Alain Berset zu ersetzen. Dabei klingt das von Nussbaumer als «speziell» bezeichnete Profil Aticis wie der wahr gewordene Traum eines Wirtschaftsverbandes.
Reto Baumgartner, Direktor Gewerbeverband
Mustafa Atici ist studierter Wirtschaftsingenieur. Er hat in Basel drei Firmen gegründet und während seiner Karriere ungefähr 300 Menschen beschäftigt. Bis heute arbeitet er nicht nur als Unternehmensberater, sondern ist immer noch als Geschäftsführer seiner Cateringfirma tätig.
Genau das, was in der Politik fehlt, wie man aus der Wirtschaft regelmässig hört. So sagt beispielsweise Reto Baumgartner, Direktor des Basler Gewerbeverbandes, Bajour: «Es hat zu wenige Gewerbler in der regionalen und nationalen Politik.» Von Mustafa Atici als möglichem Bundesrat hält Baumgartner «sehr viel»: «Er denkt unternehmerisch und hat langjährige Erfahrung in der Politik.» Neben seines Engagements habe Atici sein KMU nie aufgegeben, sondern «ist immer noch an der Front tätig».
Auch GLP-Politiker und Anwalt Daniel Ordás schätzt Mustafa Atici. «Ich traue Mustafa jedes Amt zu.» Die beiden sind seit rund zehn Jahren befreundet, früher war Ordás wie Atici in der SP.
Engagement für Putzpersonal
Ordás schätzt Aticis soziales Gewissen: «Er denkt an die Menschen, die keine Lobby haben». Das habe man während der Pandemie gesehen. Atici setzte sich für das Reinigungspersonal in Privathaushalten ein, das von heute auf morgen kein Einkommen mehr hatte. Und auch Ordás betont Aticis unternehmerische Qualitäten: «Im Falle einer Wahl wäre Mustafa derjenige Bundesrat, der mit Abstand am meisten Arbeitsplätze in der Realwirtschaft geschaffen hat». Seine Führungs- und Planungskompetenzen wären eine Bereicherung für die Landesexekutive.
Daniel Ordás
Der Grünliberale Ordás sähe eine Wahl von Atici in den Bundesrat durchaus im Bereich des Möglichen. «Seit Elisabeth Baume-Schneider an Stelle von Ständerätin Eva Herzog überraschend in die Regierung eingezogen ist, muss man mit Aussenseiterchancen rechnen», sagt er. Aber: «Ich befürchte, dass Atici es gar nicht aufs SP-Ticket schafft». Wäre er auf dem Ticket, hätte die Bundesversammlung eine echte Auswahl: «Vorurteilsfrei betrachtet ist er ein hervorragender Kandidat, der nicht nur im linken Lager Stimmen machen müsste.»
Tatsächlich: Die Reaktion der Migrationspartei SP auf Aticis Bundesratsambitionen waren bislang auffällig leise. Die Parteileitung hat sich noch nicht offiziell geäussert, aber auch sonst gab es wenig Begeisterung.
Warum?
Einerseits wegen Aticis Bekanntheit. Er ist erst seit 2019 Nationalrat. Exekutiverfahrung fehlt ihm. Die hat zwar auch der Bündner Jon Pult nicht, dem obendrauf Aticis unternehmerischer Background fehlt. Dafür ist Pult in der Parteileitung und hat eine grosse Medienpräsenz, unter anderem auch in der Arena.
Hinter hervorgehobener Hand fällt aber noch eine andere Antwort für Aticis Aussenseiterrolle: Sein Migrationshintergrund. Atici wurde 1969 in Elbistan im Osten der Türkei geboren. 1992 kam er fürs Masterstudium in die Schweiz, baute seine Firmen auf, ging in die Politik. Man traue ihm bis heute weniger zu, als er könne, heisst es. Der Akzent halt. Sogar innerhalb der eigenen Partei, hört man aus der SP.
Von der Liste gestrichen
Es ist nicht einfach als Politiker*in mit Einwanderungsgeschichte. Die nationalen Parlamentsmitglieder mit Migrationshintergrund lassen sich an zwei Händen abzählen. Und im Bundesrat sucht man sie vergebens.
Das hat auch mit den Wähler*innen zu tun, wie eine politologische Studie zeigt, über welche kürzlich Tamedia berichtete. Die Wissenschaftler*innen haben Parlamentswahlen zwischen 2006 und 2018 in über 20 Schweizer Gemeinden untersucht. Resultat: Kandidierende mit ausländisch klingenden Namen erhalten im Durchschnitt fünf Prozent weniger Stimmen als Personen mit typisch schweizerischen Namen auf derselben Wahlliste. Je rechter die Partei, desto häufiger streichen die Wähler*innen sie von der Liste.
Frage an Daniel Ordás von der GLP:
Glauben Sie, dass Aticis Herkunft ihm Steine in den Weg legt?
Antwort: «Das darf kein Hinderungsgrund sein. Er würde die Perspektive der Schweizer mit Migrationshintergrund einbringen, die heute in der nationalen Politik untervertreten ist.»
Ist Mustafas Akzent ein Nachteil für ihn?
Ordás lacht und sagt: «Mustafas Deutsch ist wesentlich besser als das von vier amtierenden Bundesräten.»
Migrant*innen moblisieren
Basel-Stadt hat in der Vergangenheit bewiesen, wie hoch das Mobilisierungspotenzial von Menschen mit Migrationshintergrund im urbanen Raum sein kann – je nach Bevölkerungszusammensetzung. Und nach politischer Ausrichtung. 2004 schnappte Rot-Grün den Bürgerlichen die Regierungsmehrheit weg. Einer der Gründe: Die SP hatte erstmals auch unter Migrant*innen mobilisiert, insbesondere unter Kurd*innen. Einer der Drahtzieher dahinter: Mustafa Atici, in Zusammenarbeit mit dem damaligen Parteipräsidenten Beat Jans.
Mittlerweile hat der Stadtkanton gleich zwei Nationalrät*innen mit kurdischen Wurzeln, nebst Mustafa Atici politisiert auch Sibel Arslan für die Basta/Grünen in Bern. Und der Grosse Rat wird aktuell von Bülent Pekerman (GLP) präsidiert.
Mustafa Atici selbst will nicht über die Nachteile reden, welche seine Herkunft haben kann: «Ich möchte andere Menschen ermutigen, Politik zu machen.» Das sei auch einer der Gründe, warum er sich jetzt als Bundesratskandidat anbiete. Über seine Partei hat er nur Gutes zu berichten: «Ich hatte in der SP immer die volle Unterstützung.»
Die Zuwanderungszahlen in der Schweiz sind in den letzten Monaten gestiegen. Laut dem Wahlbarometer von Sotomo im Auftrag der SRG ist die Migration entsprechend eins der Themen, welche die Bevölkerung am meisten beschäftigen. Und wie immer, wenn es um Migration geht, kann die SVP mobilisieren. Mit Untergangszenarien einer «ungebremsten Zuwanderung», welche «die Schweiz langsam zerstörten».
Mustafa Atici zeichnet ein anderes Bild von Zuwander*innen. Eins von Menschen, die etwas erreichen wollen. Aktuell setzt er sich unter anderem dafür ein, dass Menschen aus Drittstaaten eine Aufenthaltsbewilligung bekommen, wenn sie hier eine höhere Fachschule abgeschlossen und einen Job gefunden haben. «Wir haben Fachkräftemangel und brauchen diese Leute», sagt er. Die beiden Kammern haben seinen Vorstoss überwiesen. Und die Basler Frühförderung, welche schweizweit Pioniercharakter hat und in verschiedenen Gemeinden kopiert wird, beruht auch auf einem Vorstoss von Mustafa Atici, den er als Grossrat eingereicht hatte.
Am Ende des Tags geht es bei Bundesratswahlen allerdings nicht nur um Inhalte und Qualitäten. Es geht auch um Eigeninteressen und Machtspielchen.
Ist Atici gut im Machtpoker?
«Wenn ich mich für eine gerechte Sache einsetze, kann ich sehr beharrlich sein», sagt er. Es war strategisch sicherlich kein schlechter Schachzug, seine Bundesratsambitionen mitten im taffsten Wahlkampf anzumelden, den Basel-Stadt seit langem gesehen hat. Der Kanton verliert einen Sitz und Mustafa Atici und seine SP-Nationalratskollegin Sarah Wyss zittern beide um ihr Mandat.
Doch wer weiss: Falls Basel im Dezember wieder einmal einen Bundesrat nach Bern schicken darf und falls dieser, wie von vielen prognostiziert, Beat Jans heissen sollte, gäb's am Rheinknie für die SP vielleicht bereits den nächsten Posten zu besetzen: den frei werdenden Regierungssitz.
Hat Mustafa Atici Interesse?
Der Nationalrat antwortet, was man halt so antwortet auf diese Frage: «Man soll niemals nie sagen», aber: «Ich mache meine Arbeit in Bern sehr gerne, sitze in meiner Wunschkommission und möchte im Bildungsbereich noch einiges erreichen.»