Krieg in Israel: Basler Experten ordnen ein
Israel befindet sich seit Samstagmorgen im Kriegszustand. Was sind die Hintergründe und was bedeutet das für die jüdische und palästinensische Gemeinschaft? Bajour hat mit Menschen aus der Schweiz und Israel gesprochen, die die Situation einschätzen.
Der Angriff der Hamas traf Israel am Samstagmorgen unerwartet, das Land befindet sich im Schockzustand. Die jüdische Gemeinschaft in Basel ist seit Jahrzehnten eng verbunden mit Israel, zahlreiche Basler Jüd*innen haben Familienangehörige und Bekannte in Israel. Das weiss auch Erik Petry, Historiker und Co-Leiter des Zentrums für Jüdische Studien an der Uni Basel. Er ist zurzeit in engem Kontakt mit der jüdischen Gemeinschaft in Basel und in Israel. Zu Bajour sagt er: «Niemand hat die Situation kommen sehen und alle sind fassungslos: Die Jüd*innen in Israel wurden an ihrem hohen Feiertag Simchat Thora, genau 50 Jahre nach dem Jom Kippur-Krieg, vom Angriff der Hamas überrascht. Das ist eine verheerende Niederlage für die israelische Regierung.»
Petry glaubt, dass Israel nun versuchen wird, die militärische Kontrolle zu erhalten. «Es wird hoffentlich unterbinden, dass es im Norden auch noch brennt. Im besten Fall wird eine gewisse Beruhigung eintreten.»
- Erik Petry, Historiker und Co-Leiter des Zentrums für Jüdische Studien an der Uni Basel
Foto: zVg
Die Raketen trafen die Regierung offenbar unvorbereitet. Wie konnte es soweit kommen? Laurent Goetschel, Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace sagt: «Ich kann nicht sagen, aus welchem Grund die israelische Regierung die Gefahr eines Angriffs unterschätzt hat. Zeitlich weist dieser aus meiner Sicht einen klaren Zusammenhang mit dem Deal zwischen Israel und Saudi-Arabien auf, der offenbar vor einem Abschluss steht.» Iran und die Hamas seien gegen diese diplomatische Annäherung. «Iran ist bekanntlich ein wichtiger Unterstützer der Hamas und hat ihr zum Angriff gratuliert. Ausserdem ist dieses Jahr auch vor dieser dramatischen Eskalation das seit langem blutigste Jahr in der Westbank gewesen. Aber dass die Hamas nun Menschen auf offener Strasse tötet, nur weil sie in Israel sind, ist völlig inakzeptabel. Es ist ein klares Kriegsverbrechen», so Goetschel.
Ist also die bisherige Friedenspolitik in Israel gescheitert? Goetschel sagt: «Es gibt in Israel schon seit längerem gar keine Friedenspolitik mehr. Man kann also sagen, die Nicht-Friedenspolitik ist gescheitert.» Auf die Frage, ob die aktuelle Situation mit dem Jom-Kippur-Krieg von 1973 vergleichbar ist, sagt er: «Ein Unterschied ist sicher, dass die Hamas nicht annähernd eine so starke Macht ist, wie es Ägypten damals war. Aber auch in diesem Fall wird Israel massiv zurückschlagen. Wenn die Hamas tatsächlich Geiseln in ihrem Gewahrsam haben, könnte Israel bald mit Bodentruppen einmarschieren.» Erneut würde es, so der Swisspeace-Direktor, auf beiden Seiten viele Opfer geben.
- Laurent Goetschel, Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace
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Historiker Erik Petry findet die Ähnlichkeiten zum Jahr 1973 «frappierend», es sei zudem unklar, welche Dimension der Konflikt im Hinblick auf Iran und Russland erreichen wird. Noch sei offen, wie stark der Iran die Hisbollah ermutigen werde, ebenfalls anzugreifen und wie stark Russland an der Eskalation des Konflikts interessiert ist, um von der Konzentration der USA und Europa auf die Ukraine abzulenkenm so Petry. Laurent Goetschel hingegen sagt: «Der Ukrainekrieg ist ein anderer Schauplatz, aber es gibt genügend Sprengstoff im Nahen Osten selbst. Der Iran unterstützt die Hamas und es sind nun massive militärische Reaktionen seitens Israel zu erwarten, die auf Unterstützung der USA zählen können.»
Auf die Frage, was der Konflikt für die jüdische und palästinensische Gemeinschaft in der Schweiz bedeutet, sagt Goetschel: «Schon heute wird, vor allem in den sozialen Medien, auf allen Seiten die Stimmung angeheizt. Das wird sich auch in der Schweizer Gesellschaft bemerkbar machen. Wenn der Krieg, wie leider zu befürchten ist, weitergeht und eskaliert, dürfte die Stimmung auch hierzulande weiter angeheizt werden, was auch in den Wahlkampf hineinspielen könnte.»
- Geri Müller, Präsident Gesellschaft Schweiz Palästina
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Und wie steht die Gesellschaft Schweiz Palästina zu den Angriffen der Hamas? Präsident Geri Müller sagt zu Bajour: «In unseren Statuten steht, dass wir jegliche Form von Gewalt ablehnen. Gewalt ist nie eine Lösung. Die Hamas hat ausgenutzt, dass die Führung in Israel aktuell desorganisiert ist.» Müller sagt, er befürworte niemals Gewalt, die Situation sei «verheerend». Aber er sehe den aktuellen Angriff als eine Entwicklung, die sich in den vergangenen Monaten angebahnt habe: «Es war klar, dass es irgendwann eine Gewaltreaktion gibt – und die Hamas hat sich den Zeitpunkt taktisch clever ausgesucht und den Angriff professionell organisiert.»
Im aktuellen Konflikt darf nicht die palästinensische Bevölkerung in Israel vergessen werden. Müller betont, sie sei nicht mit der Hamas gleichzusetzen. Was bedeutet der Krieg in Israel für sie? «Die palästinensische Bevölkerung träumt davon, dass ihr Albtraum der Besatzung nun endet. Andererseits wird auch die palästinensische Bevölkerung nun grosse Verluste zu beklagen haben und unter der Gewalt leiden.»
Israel wurde am Samstag von einem Angriff der Hamas überrascht. Alfred Bodenheimer, Leiter des Zentrums für Jüdische Studien an der Uni Basel, ist derzeit in Karmiel und erlebt den Konflikt in Israel hautnah. Im Interview schildert er die Situation.
Petry verweist auf die Macht, die die Hamas aufgrund der Geiseln aktuell hat: «Im Judentum hat es einen besonderen Stellenwert, Menschenleben zu retten und auch Tote nach Israel zurückzuholen. Jede Geisel, die die Hamas hat – egal ob lebend oder tot – wird bei den weiteren Verhandlungen eine grosse Rolle spielen», sagt Petry, der regen Kontakt zur jüdischen Bevölkerung in Basel hat. Betroffen ist Petrys Co-Leiter vom Zentrum für Jüdische Studien, Alfred Bodenheimer. Er ist derzeit bei seiner Familie in Israel.
«Natürlich sind alle alarmiert. Neben Alfred Bodenheimer ist eine weitere Dozentin von uns aktuell in Israel, mit der ich in Kontakt stehe. Basel hat eine sehr enge Verbindung nach Israel und alle wollen nun wissen, wo sich ihre Verwandten und Bekannten jetzt gerade aufhalten oder wer Kinder in der Armee hat.»