«Digitalisierung abzulehnen, ist keine Option»
Am 28. September wird in der Schweiz über das E-ID-Gesetz abgestimmt. Der Basler Demokratie-Aktivist Daniel Graf hatte 2021 das Referendum gegen die digitale Identitätskarte ergriffen, heute ist er überzeugter Befürworter. Warum er die E-ID nun als sicher einstuft, erklärt er im Interview.
Ob beim Online-Shopping, bei Behördengängen oder beim Altersnachweis im Internet – wer sich im digitalen Raum ausweisen will, soll das künftig mit einer staatlichen E-ID tun können. Sie funktioniert wie ein digitaler Ausweis und ermöglicht es Bürger*innen, sich online zu identifizieren. Bisher existiert in der Schweiz keine offizielle E-ID. Ein früherer Anlauf scheiterte 2021: Damals lehnten die Stimmberechtigten die Vorlage ab, weil die digitale Identität von privaten Anbieter*innen herausgegeben worden wäre.
Mit dem neuen Gesetz wird nun ein staatliches System geschaffen. Der Bund übernimmt die Verantwortung für die Ausstellung der E-ID sowie für den Betrieb der notwendigen technischen Infrastruktur. Die Nutzung der E-ID ist freiwillig und kostenlos. Weil ein Referendum gegen das E-ID-Gesetz zustande gekommen ist, stimmen wir erneut darüber ab. Daniel Graf, Gründer der Stiftung für direkte Demokratie, war vor vier Jahren gegen die geplante E-ID, heute setzt er sich für die Annahme des Gesetzes ein.
Bajour hat ihn nach den Gründen gefragt.
Daniel Graf, brauchen wir die E-ID?
Ja. Die E-ID wird ein Update für die direkte Demokratie sein. Spätestens seit dem Unterschriftenskandal vor einem Jahr haben wir gemerkt, dass unsere analoge Demokratie an ihre Grenzen gekommen ist. Mit der E-ID können Bürger*innen daheim mit dem Handy Volksinitiativen auf der Strasse oder im Internet unterzeichnen. Dafür müssen sie ihre persönlichen Daten nicht mehr an Komitees abgeben. Das Vertrauen in das Unterschriften-Sammeln, vielleicht das Herzstück der direkten Demokratie, muss wiederhergestellt werden. Es gibt aber noch einen weiteren Punkt, der mir wichtig ist.
Welcher?
Unsere heutige Papier- und Kugelschreiber-Demokratie schliesst Menschen mit Behinderungen aus. Eine Person mit einer Sehbehinderung zum Beispiel ist auf der Strasse kaum in der Lage, den Text einer Initiative zu lesen, den sie unterschreiben soll. Andere Menschen haben Mühe, überhaupt an einen Briefkasten zu gelangen, um einen Unterschriftenbogen für ein Referendum einzuwerfen. Mit der E-ID könnten sie künftig barrierefrei Volksbegehren unterstützten. Es ist eigentlich ein Skandal, dass das nicht schon möglich ist. Wir hätten diese Technologien längst nutzen können.
Daniel Graf ist Campaigner aus Basel, der sich für die Digitalisierung der Demokratie und eine stärkere Mitwirkung von Bürger*innen einsetzt. Der 52-Jährige gründete die Online-Plattform WeCollect, die er später in eine unabhängige Stiftung überführte, die von einem fünfköpfigen Stiftungsrat geleitet wird und sich mit Spenden finanziert. Graf wirkte bei zahlreichen Volksinitiativen und Referenden mit, etwa der Gletscherinitiative, dem e-ID-Referendum und der Inklusions-Initiative.
Vor vier Jahren haben Sie das Referendum gegen die Vorlage zur E-ID ergriffen – mit Erfolg. Warum nun der Geisteswandel?
Die E-ID sollte damals von privaten Unternehmen ausgestellt werden. Es ist aber wichtig, dass es eine staatliche Hoheit über die E-ID gibt, denn der digitale Ausweis ist eine Angelegenheit zwischen Bürger*innen und Staat, kein Geschäftsmodell. Vor vier Jahren haben wir vom Komitee kein Referendum gegen die E-ID an sich oder gegen die Digitalisierung geführt. Wir haben uns vielmehr für eine Digitalisierung stark gemacht, die uns Bürger*innen dient und nicht den Interessen irgendwelcher Tech-Konzerne oder anderer Interessengruppen. Sicherheit und Vertrauen spielen hier eine entscheidende Rolle.
Und die sind nun gegeben?
Aus meiner Sicht ja. Einerseits gibt der Staat die E-ID heraus, andererseits überzeugen die dezentrale Technologien und der griffige Datenschutz im Gesetz, über das wir abstimmen.
Bundesrat und Parlament empfehlen die Annahme der E-ID. Ziel ist es, dass sich Personen (freiwillig) einfach und sicher elektronisch ausweisen können. Das neue Gesetz soll die Grundlage für einen staatlichen elektronischen Identitätsnachweis schaffen – als Ergänzung zu ID und Pass. Den Befürworter*innen ist zudem wichtig, dass die Schweiz mit der Digitalisierung Schritt halten kann.
Dennoch haben viele Menschen Sorge, dass ihre Daten nicht ausreichend geschützt sein könnten.
Die E-ID auf dem Handy wäre verschlüsselt und die Bürger*innen müssen deutlich weniger Daten preisgeben als bisher. Wenn ich heute Alkohol kaufen möchte, muss ich meine ID an der Kasse zeigen. In Coop Pronto-Läden wird an den Self-Checkouts heute die ganze ID gescannt. In Hotels werden IDs oft kopiert, ebenso, wenn ich einen Handyvertrag abschliesse. Schon heute legen wir wie selbstverständlich unsere Daten offen. Wenn die Stimmberechtigten jetzt Nein zur E-ID sagen würden, dann hätten wir weiterhin keine anderen Möglichkeiten, als unsere ID mit allen persönlichen Daten – auch noch mit Foto – digital irgendwo zu hinterlegen, was zu Hacks und Identitätsklau führen kann.
Was wird mit der E-ID anders?
Wenn ich eine Flasche Wein kaufen möchte, müsste ich ja nur nachweisen, dass ich volljährig bin. Alle anderen Daten sind irrelevant, werden aber dennoch offen gelegt. Mit der E-ID werden künftig nur die Daten abgefragt, die auch wirklich benötigt werden. Und dafür gibt es klare und enge Spielregeln. Die Daten dürfen nur abgefragt werden, wenn sie etwa für den Jugendschutz benötigt werden. Mit der E-ID sehe ich neu auch immer, wer eine Abfrage macht, welche Daten übermittelt werden und, was mir wichtig ist, ob beispielsweise ein Online-Shop vertrauenswürdig ist.
Wie funktioniert das?
Um bei der Flasche Wein zu bleiben: Wenn der Online-Shop nicht korrekt mit Daten umgeht, sehe ich auf meinem Smartphone einen Warnhinweis. Und das, bevor ich irgendwelche persönlichen Daten übermittelt habe. Dazu kann ich selbst Missbrauchsfälle melden. Hilfreich ist, auch eine digitale Quittung zu erhalten – nachdem ich etwa eine Initiative unterzeichnet habe. So weiss ich, wer wann welche Daten von mir erhalten hat.
Das Referendum gegen das E-ID-Gesetz ist zustande gekommen. Die Referendumskomitees kritisieren, dass die E-ID nicht ausreichend sicher sei und die Privatsphäre nur ungenügend schütze. Sie äussern die Sorge, dass es zu Datenmissbrauch und Überwachung kommt. Die Gegner*innen befürchten zudem, dass die Nutzung der E-ID nicht freiwillig bleiben wird.
Vor allem ältere Personen könnten aber doch ausgeschlossen werden, weil sie technisch überfordert sind.
Das Bild stimmt so nicht ganz. Viele Senior*innen sind sehr kompetent im digitalen Alltag. Gemäss der neuen Pro Senectute-Studie nutzen bereits 89 Prozent der 65-Jährigen das Internet. Und die e-ID bekommt nur, wer sie möchte. Die ID als Plastikkarte hat auch Vorteile und bleibt für einige Menschen die bessere, weil auch vertrautere Option. Ich bin gegen die Entweder-oder-Logik. Nur, weil ich mit Twint bezahle, will ich nicht automatisch Bargeld verbieten.
Im Alltag macht es für die meisten wohl keinen grossen Unterschied, ob sie sich mit Papieren oder digital ausweisen. Welchen echten Vorteil gibt es?
Zum Beispiel, wenn ich mich am Freitagabend, also nach Schalterschluss, spontan für eine wunderschöne, bezahlbare Wohnung bewerben möchte und schnell einen Betreibungsregisterauszug brauche. Oder für meinen Sohn ein Konto eröffnen möchte, weil er morgen Geburtstag hat. Das sind zwei Beispiele, wo es mit der E-ID einfacher und schneller geht. Für Menschen mit Behinderungen ist das hingegen nur der einzige Weg, etwas selbstbestimmt und ohne grossen Aufwand zu erledigen.
Swiyu funktioniert wie ein digitales Portemonnaie. Es ist ein Wallet, in das auch der Fahrausweis und andere Dokumente heruntergeladen werden können. In dieser App des Bundes können Bürger*innen im Vorfeld der Abstimmung kontrollieren, wie die E-ID funktionieren würde. Dort kann man sehen, wer die Daten abfragt und wie vertrauensvoll der oder die Absender*in ist. Wie die App und die E-ID konkret funktioniert, lässt sich mit dem E-Collecting Pilotprojekt testen.
Also gibt es aus Ihrer Sicht im Falle einer Annahme keine Verlierer*innen?
Nein, weil keine Person eine E-ID nutzen muss, die das nicht will. Alle, die sich überlegen, dagegen zu stimmen, sollten sich aber die Frage stellen: Was geschieht mit den Menschen, die die E-ID im Alltag brauchen um bestehende Barrieren zu überwinden? Es geht nicht nur um mich als Einzelperson, sondern um die Gesellschaft. Die Digitalisierung grundsätzlich abzulehnen, mag eine Haltung sein, aber ist keine echte Option. Wir können dem Internet nicht einfach den Stecker ziehen.
Was passiert, wenn die Vorlage abgelehnt wird?
Das wäre ein Drama für die direkte Demokratie. Ich denke, wir hätten dann ein Problem, politisch in den nächsten zehn Jahren vorwärts zu kommen. Es wird eine digitale ID in der EU geben, auch internationale Konzerne werden ihre eigenen E-ID-Lösungen haben. Wie erklären wir insbesondere Menschen mit Behinderungen, dass sie weiter ausgeschlossen werden? Ich bin froh, wenn ich am Montag nach der Abstimmung aufstehen kann, ohne mir diese Frage zu stellen.
Warum sollten wir uns in der Schweiz dafür interessieren, welche ID es in der EU gibt?
Die EU-ID soll es EU-Bürger*innen und sowie Unternehmen ermöglichen, ihre Identität online nachzuweisen und digitale Dokumente sicher zu speichern und zu verwenden – über Landesgrenzen hinweg. Die Schweizer E-ID ist so gestaltet, dass sie nicht nur mit der EU-ID, sondern auch mit anderen Ländern kompatibel ist. Hier ist die Schweiz sehr fortschrittlich unterwegs. Es wäre kaum zu verantworten, wenn wir jetzt den Anschluss verlieren.