Der allererste Morgestraich

Die siebenjährige Hanna durfte zum ersten Mal an den Morgenstreich. Das ist das Protokoll ihrer Mutter.

Morgestraich 22
Hach. (Bild: Keystone-SDA)

Es ist 4.51 Uhr. Ich sitze noch quasi mittendrin im Morgestraich – Bajour darf während der Fasnacht in der Boutique Blanche an der Schneidergasse 27 arbeiten. Vor dem Schaufenster ziehen Cliquen vorbei, es trommelt und pfeift. Schau, das ist die Sicht aus unserer Pop-Up-Redaktion:

Fasnachts-Pop-Up
Was für eine Aussicht: Bajour Fasnachts Pop-Up @Blanche (Bild: Andrea Fopp)

Heute ist nicht nur der erste Morgestraich nach Corona, es ist auch der erste meiner Tochter. Ich muss dir ehrlich sagen: Ich habe nicht an diese Fasnacht geglaubt. Wegen Corona und allem. Also habe ich vor Monaten mit meiner Mutter abgemacht, dass sie während der Fasnachtsferien meine Tochter nimmt. Und dann gaben Regierung und Comité vor ein paar Wochen bekannt: Die Fasnacht findet statt.

Als dann das SRF-Regionaljournal die News brachte und dazu einen Tonausschnitt aus einem früheren Morgenstreich laufen liess, kamen mir grad die Tränen. Und das, obwohl ich weder hier aufgewachsen bin, noch je aktive Fasnacht gemacht hätte.

applaus
Laterne vom CCB Stamm am Morgenstreich. (Bild: Georgios Kefalas/ Keystone)

💬 Ich so zu meinem Mann: «Wir müssen mit dem Kind an den Morgestraich.» 💬 Er so: «Nein, sie ist erst 7 Jahre alt. Das muss noch nicht sein.» 💬 Ich so: «Aber nach zwei Jahren Coronapause wird das doch der speziellste Morgestraich, den möchte ich nicht verpassen.»

Also taten wir, was wir in solchen Situationen häufig tun, wir konsultierten unsere Gärngschee-Gruppe. Ich fragte: «Wie alt waren Eure Kinder an ihrem ersten Morgestraich?» Daniela und viele andere Eltern haben uns dann überzeugt. Sie schrieb: «Mein Erstgeborener war ein halbes Jahr alt und beim Papa im Snuggli.»

FasnachtKids

Also meldeten wir unsere Tochter bei ihrer Grossmutter wieder ab und beschlossen: Das wird ihr erster Morgenstreich. Anderen Familien ging es offenbar ähnlich. Gestern traf ich im Quartier auf ein Kind, das erzählte, sie seien kurz aus den Skiferien zurückgekommen, um Fasnacht zu machen und am Mittwoch fahren sie wieder in die Berge zurück.

Meine Tochter war seit Tagen aufgedreht. Gestern Abend bekam ich sie fast nicht ins Bett. Sie hopste wie ein Gummiball in der Wohnung umher und konnte nur mit Hilfe des Musikschafs einschlafen. Und heute Nacht wachte sie zehn Minuten vor dem Wecker auf, um 2:45 Uhr. Und war so schnell angezogen wie nie zuvor.

Um 3.15 Uhr treffen wir unsere Nachbarin mit Sohn vor dem Haus. Er ist ein Waggis, unsere Tochter eine Hexe. Lautstark unterhalten sie sich über den Morgestraich – hier ein grosses Sorry an alle Nachbar*innen, die noch schliefen.

Schon die Velofahrt in die Stadt ist einfach nur schön. An der Tramstation Jakobsberg steht ein älteres Paar. Beide rufen fröhlich «guten Morgen» und strahlen. Die Extra-Drämmli sind voll und je näher wir der Innenstadt kommen, desto mehr Leute schliessen sich dem Fussgänger*innen-Strom an. Irgendwie kann ich nicht aufhören zu lächeln. Meine Tochter aber ist ernst: «Nicht loslassen, gell, Mama, ich will nicht im Gewühl verloren gehen.»

Auf dem Münsterplatz stellen wir uns vor den Rollerhof. Die Kinder schauen sich um: «Wow, ist das jetzt eine Kopflaterne?», juchzen sie. «Und hier eine Steckenlaterne!» 

Kollegin Sabrina ist auch am Münsterplatz und schickt dieses Foto via Bajour-Chat:

Spezi
Die Spezi-Clique ist parat. (Bild: Sabrina Stäubli)

Der Nachbarsknabe fragt alle fünf Minuten: «Wie spät ist es, wie spät ist es?» Und dann schlägt es, eins, zwei, drei, vier. Die Lichter gehen aus. Von allen Seiten hört man: «Morgestraich - vorwärts Marsch.» Und meine Tochter sagt für einmal: nichts.

Kollegin Fränzi ist am Heuberg bei Freund*innen in der Wohnung und schickt dieses Video via Bajour-Chat:

Ich könnte jetzt alle Redewendungen bemühen, die man so braucht, um die Rührung zu beschreiben. Aber du warst da, du weisst, wie es ist. Es ist einfach Morgestraich. Hoch zehn. Weil es zwei Jahre lang keinen gab.

Meine Tochter drückt meine Hand. Wir folgen der Clique vor uns, den Rheinsprung hinunter. Von da sieht man die Laternen am Rhein und auf der Mittleren Brücke leuchten. Eltern heben ihre Kinder hoch, damit sie es auch sehen können. 

Viele der Laternen sind aus dem Jahr 2020. Ein paar sind aus diesem Jahr. Man sieht Trump, Totenköpfe, Covid-Viren... Mehr zu den Sujets werden wir dann am Nachmittag berichten. Jetzt schauen wir uns noch dieses schöne Bild des guten Georgios Kefalas für Keystone an:

Morgestraich Keystone
«Mama, oben leuchten die Sterne und unten die Laternen.» (Bild: Georgios Kefalas/ Keystone)

4.15 Uhr, wir sind am Fischmarkt. Es hat nur wenige Leute, Druggede ist anders. Ob das wegen Corona ist? Doch Richtung Spalenberg drängeln sich die Leute und plötzlich ist es hell. Ein Passant regt sich lautstark auf: «Die Galerie Stampa hat das Licht brennen lassen. So peinlich.» Kann mal passieren.

Auch an der Freien Strasse hat es offenbar erhellte Schaufenster, es sind vor allem internationale Ketten... 

Machen wir kurz eine Fasnachtspause. Während wir Morgenstreich machen und mit fasnächtlichen Mitteln an die Ukrainer*innen in Not denken, unterstützen andere Basler*innen die Menschen im Krieg weiterhin mit Hilfsgütern. Beispielsweise Eugenia Senik.

Zusammen mit Livio Spaini und anderen Basler*innen hat sie eine Spendenaktion organisiert. Die Aktion entstand spontan, aus persönlicher Betroffenheit «und Adrenalin», sagt Eugenia. Das Bajour-Büro diente als Lager, die zivilgesellschaftliche Organisation «Basel stands with Ukraine» transportiert die Kisten an die ukrainische Grenze. 

Eugenia und ihre Nichte Jewa
Liebe Jewa, du bist mutig.

Die Ukrainerin Eugenia ist Schriftstellerin und lebt seit 2021 in Basel. Seit Ausbruch des Krieges sucht sie mit Worten Wege aus der Ohnmacht. Hier in einem Brief an ihre elfjährige Nichte Jewa, die sich vor Explosionen schützen muss und dabei Englisch lernt.

«Deine Mutter ist mutig und du bist es auch», schreibt Eugenia dem Mädchen. «Ich habe gehört, dass du im Flur auf dem Boden schläfst, weit weg von den Fenstern. Und dass ihr kein Licht anschalten dürft. So lernt ihr in der Dunkelheit neue englische Wörter. Du wirst sie brauchen, Kleine, weil wir zusammen noch viele Länder sehen müssen.»

Eugnias Brief an ihre Nichte Jewa.

Einige Basler*innen haben sich ja überlegt, ob es angezeigt ist, Fasnacht zu machen angesichts des Krieges. Comité-Obfrau Pia Inderbitzin schrieb für Bajour: «Ja. Wir dürfen. Wir sollten sogar. Für viele ist es gerade in solchen Zeiten wichtig, dass sie mit ihrem Spott den Mächtigen den Spiegel vorhalten und Ungerechtigkeiten benennen können. Die Fasnacht hat einen Ventil-Charakter, alles, was unter den Nägeln brennt, wird angesprochen. In schwierigen Zeiten ist die Fasnacht besonders wichtig und nötig.»

Und damit zurück an den Morgenstreich.

Es ist jetzt 6.23 Uhr im Bajour Pop-Up @Blanche. Vor einer Stunde sah es so aus, als hätten die Leute genug, die Schneidergasse leerte sich. Aber jetzt ziehen wieder Cliquen vorbei, ich summe mit: «Z'Basel an mym Rhy».

Draussen wird es langsam hell. Aber es trommelt und pfeift noch. Jetzt kommt grad Bajour-Geschäftsführer Niccolo reingeschneit: «Draussen ist es so schön!» Er hat ein Foto von der Schifflände mitgebracht:

Morgestraich-Sonnenaufgang bei der Schifflände
Sonnenaufgang am Morgestraich. (Bild: Niccolo Brunetti)

Meine Tochter fragt: «Machen die Cliquen einen Mittagsschlaf?» Sie hat es fest vor, ich bin gespannt. Morgen Nachmittag möchte sie das Blätzlibajass-Kostüm tragen, das ihr Grossmami vor 40 Jahren genäht hat. Was ein Blätzlibajass ist, weiss ich übrigens dank dem Fasnachtsbüechli, das meine Tochter im Kindergarten gebastelt hat. Ich lebe mittlerweile länger in Basel als in Chur, wo ich geboren bin. Aber die Kinderjahre, die fehlen. Sollte ich hier doch den einen oder anderen Fasnachtsfehler machen, entschuldige ich mich schon einmal vorsorglich.

Das war er also, der erste Morgestraich nach Corona. Und es ist erst der Anfang der drey scheenschte Dääg. Wenn du wissen möchtest, wo was stattfindet an dieser Fasnacht: Die bz Basel hat eine wunderbare Übersicht mit Karte und allem gemacht. Hier kannst du sie anschauen.

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Foto Pino Covino

Bei Bajour als: Journalistin.

Hier weil: Das Hobby meines Mannes finanziert sich nicht von alleine.

Davor: Chefredaktorin im Lokalmedium meines ❤️-ens (Bajour), TagesWoche (selig), Gesundheitstipp und Basler Zeitung

Kann: alles in Frage stellen

Kann nicht: es bleiben lassen

Liebt an Basel: Mit der Familie am Birsköpfli rumhängen und von rechts mit Reggaeton und von links mit Techno beschallt zu werden. Schnitzelbängg im SRF-Regionaljournal nachhören. In der Migros mit fremden Leuten quatschen. Das Bücherbrocki. Die Menschen, die von überall kommen.

Vermisst in Basel: Klartext, eine gepflegte Fluchkultur und Berge.

Interessensbindungen:

  • Vorstand Gönnerverein des Presserats
  • War während der Jugend mal für die JUSO im Churer Gemeindeparlament. Bin aber ausgetreten, als es mit dem Journalismus und mir ernst wurde.

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